London, 1938
Isabelle kam sich vor wie ein Mitglied der Königsfamilie, als sie die Lobby des Dorchester betrat. Jeder Zweifel, ob es richtig gewesen war, nach London zu kommen, verflog, als der Portier sie mit Namen ansprach und die Pagen ihr nicht nur das Gepäck, sondern auch Mantel, Hut und Handschuhe abnahmen. Das Personal am Empfang informierte sie darüber, dass Max sie in einer Stunde zum traditionellen Nachmittagstee im The Promenade, einem der Restaurants dieses Hotels, treffen würde. Virginia war schon wieder unterwegs. Sie wollte sich mit einer alten Freundin zu einem Einkaufsbummel treffen.
Das Hotel war ein Traum. Die Suite, die Virginia und sie sich teilten, war mit Antiquitäten eingerichtet und machte eher den Eindruck von Privatzimmern in einem prächtigen Landhaus. Zahlreiche kleine Lampen verbreiteten gemütliches Licht, und eine Flasche Champagner auf Eis, eine Auswahl an Petits Fours und ein Strauß weißer Rosen warteten zur Begrüßung auf sie.
Eine Dreiviertelstunde später hatte Isabelle sich gewaschen, umgezogen und ihr Make-up aufgefrischt und war bereit, sich mit Max zu treffen. Es war ihr unmöglich, ihre Nervosität einzudämmen; sie wusste sehr genau, dass dies hier ein Wendepunkt war. Heute würde sie herausfinden, wie Max wirklich zu ihr stand. Sie musste es einfach wissen.
Einen Augenblick später ging sie in dem kirschroten Chanelkostüm, das Marthe ihr im Frühling unbedingt hatte kaufen wollen, hinunter. Ein charmanter junger Kellner geleitete sie im The Promenade an ihren Tisch. Isabelle konnte sich an dem üppig-plüschigen Interieur des Restaurants nicht sattsehen. Formschöne Vasen mit spektakulären, aber geschmackvollen Blumenbouquets zierten beinahe jeden der Tische, die in der Mitte des Saals standen.
Im Hintergrund spielte ein Pianist Chopin, und als Isabelle sich setzte, zupfte sie unwillkürlich an den Perlen um ihren Hals. Sah sie angemessen aus? Sie hatte die Nacht zuvor kaum geschlafen.
Isabelle spürte Max’ Gegenwart, noch ehe sie ihn sah, aber sie hielt den Blick auf die Karte gerichtet, bis er sie auf die Wange küsste.
»Isabelle«, sagte er und setzte sich auf die Bank ihr gegenüber.
Sie wusste, dass sie ihre Antwort haben würde, sobald sie ihm in die Augen blickte, doch etwas hielt sie zurück. Fürchtete sie unbewusst etwa, die Hoffnung aufgeben zu müssen? Sie mochte sich nicht vorstellen, wie sie damit umgehen sollte.
Sie gaben ihre Bestellungen auf, und kurz darauf wurde ihnen ein Tablett mit köstlichen kleinen Sandwiches aus dunklem und hellem Brot serviert, das mit Lachs, Hühnchen, Ei und Gurke belegt war.
»Wie geht’s dir?«, fragte er schließlich.
»Gut. Mit geht’s gut.«
»Du siehst auch so aus.«
Noch immer wagte sie nicht, ihm in die Augen zu sehen.
»Und deiner Großmutter?«
»Auch gut, doch. Obwohl … in letzter Zeit kränkelt sie häufig ein wenig. Hustet. Bleibt öfter zu Hause.«
»Das tut mir leid.«
Als der Kellner ihnen eine Platte mit Scones und einer Auswahl an zarten Macarons brachte, glaubte Isabelle, keinen Bissen mehr zu sich nehmen zu können. Dennoch probierte sie etwas, um nicht unhöflich zu sein.
»Sollen wir ein bisschen spazieren gehen?«, fragte Max, dessen Stimme immer noch tonlos war.
Isabelle nickte. Sie stand auf und ließ sich von ihm hinaus in den Hyde Park führen, wo sie sich unter die vielen anderen Pärchen mischten, die an diesem Nachmittag über die gepflegten Wege schlenderten. Hunde stoben durch die Bäume, und Nannies plauderten miteinander, während sie auf die Kinder aufpassten, die sich mit ihren zeitlosen Spielen beschäftigten. Nach einer Weile bogen Isabelle und Max auf einen Pfad in etwas ruhigere Gefilde ab. Max schwieg, doch das Unausgesprochene zwischen ihnen tönte laut.
Als sie eine abgeschiedene Stelle erreicht hatten, blieb Isabelle stehen.
»Ich muss dir etwas über Marthe erzählen«, sagte sie. »Verzeih mir. Ich hätte es dir viel eher sagen müssen.«
Max hob ihr Kinn an, damit sie ihn ansah. »Was ist los? Seit ich angekommen bin, meidest du meinen Blick.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es formulieren oder ob ich es überhaupt sagen soll. Vielleicht macht das alles … na ja, ich weiß auch nicht.« Was hatte sie sagen wollen? Leichter? Wenn sie ihm von Marthes Vergangenheit erzählte – würde es ihm eine Rechtfertigung liefern, die Sache mit ihr zu beenden? Wieder schüttelte sie den Kopf. Ihre Gedanken ließen ihr keine Ruhe. Sie musste es ihm sagen.
Er hatte ein Recht darauf.
»Großmutter hat eine Vergangenheit«, begann sie. Ihre Stimme klang rau, doch sie konnte es nicht ändern. »Und die sorgt dafür, dass ich nirgendwo wirklich akzeptiert werde. Die Leute hier in Paris reden mit mir, tanzen mit mir, aber ihre Familien wollen dennoch nichts mit mir zu tun haben.«
»Tja, dann müssen sie ziemlich dumm sein«, sagte Max verärgert. »Was in Gottes Namen hat sie denn getan? Jemanden umgebracht? Was immer es ist –«
»Sie war eine Kurtisane«, entfuhr es Isabelle. Tränen brannten in ihren Augen. »Sie stammt aus bitterarmen Verhältnissen und arbeitete als Näherin. Marthe de Florian ist gar nicht ihr echter Name.«
»Mir ist vollkommen egal, wie sie heißt.« Max neigte den Kopf und küsste sie sanft.
Isabelle schloss die Augen, schlug sie jedoch wieder auf und wich ein Stück zurück. »Nein. Bitte hör mir zu. Sie war Tänzerin im Folies Bergère, nachdem man sie im Alter von zwanzig Jahren entdeckt hat. Da hatte sie bereits zwei Kinder von zwei verschiedenen Vätern. Anschließend hat sie sich hochgearbeitet, bis sie als Halbweltdame Einfluss gewann. Alles, was in unserer Wohnung steht, stammt von … Männern.« Isabelle war entschlossen, jetzt keinen Rückzieher mehr zu machen. »Von ihren Kunden. Sie war eine hochrangige Prostituierte.«
»Hör auf.« Max schlang die Arme um sie. »Um Himmels willen, hör auf. Und wenn sie eine Affäre mit dem Papst gehabt hätte! Es spielt keine Rolle. Ich bete dich an. Bitte verzeih mir, was ich dir in den vergangenen Jahren zugemutet habe. Aber der Gedanke an dich, das Wissen, dass es dich gibt, die Hoffnung, dich in Fleisch und Blut wiederzusehen – das war es, was mich aufrecht gehalten hat, nichts anderes. Sollte ich alles verlieren, was ich besitze, sollte dieser verfluchte Hitler wieder einen Krieg für Deutschland verlieren, dann hat das alles keine Bedeutung, denn du bist das Einzige, was zählt.« Er nahm ihre Hände in seine. »Würdest du mich bitte heiraten?« Er küsste ihre Stirn und wanderte mit den Lippen über ihre Wange bis zu ihrem Mund. »Sobald das hier vorbei ist, wie immer es auch ausgehen mag?«
Isabelle reckte sich und strich ihm über die Wange. »Ich liebe dich«, sagte sie. »Schon lange. Ja.«
»Aber ich muss dir etwas sagen«, fuhr er fort und klang nun sachlicher, härter. »Meine Eltern wollen, dass ich für Deutschland kämpfe. Sie sind der Ansicht, dass Hitler das Richtige für unser Land tut. Gott steh mir bei, wenn sie sich irren, denn ich zweifle inzwischen ernsthaft daran. Als wir uns zum letzten Mal in Paris gesehen haben, fing es richtig an. Meine Eltern, das Militär, du, die ich endlich wiedergesehen habe. Ich wusste nicht mehr, was richtig und was falsch war. Aber ich bin in der verdammten Wehrmacht, und was meine Eltern sagen, lässt mir keine Ruhe.«
Isabelle legte ihre Wange an seine Brust.
Max senkte den Kopf, um ihr ins Ohr zu flüstern. »Wenn ich aus der Wehrmacht austrete, sind meine Eltern, meine Geschwister und jeder, den ich kenne, in Gefahr. Die Nazis haben ihre Augen und Ohren überall. Es ist beängstigend. Ich muss einfach dadurch. Und das Einzige, was mir dabei Auftrieb gibt, bist du.«
Isabelle versuchte das Schluchzen, das in ihrer Kehle aufstieg, zu unterdrücken. Sie klammerte sich an Max und hielt ihn fest, wie es vermutlich jede Frau tat, deren geliebter Mann in den Krieg ziehen musste.
Am liebsten hätte sie nie wieder losgelassen.
Schloss Siegel, 2010
Anna hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie würde mit Wil reden und etwas von sich preisgeben, wie auch immer es am Ende ausging. Wenn sie nicht anfing, wirklich zu leben, dann würde sie es bereuen, so wie Max es getan hatte. Denn sie begann zu erkennen, dass auch sie bereits zu bereuen begann. Eine lange Zeit war ihr die Konzentration auf die Arbeit genug gewesen, aber das war vorbei. Sie wollte mehr.
»Bist du mit jemandem zusammen, Anna?« Wils Stimme hatte nach wie vor einen Unterton, dem sie sich nicht entziehen konnte. Sie hatte keine Ahnung, warum das so war, doch sie holte tief Luft und ließ sich darauf ein.
»Seit Langem bereits nicht mehr«, sagte sie. »Meine letzte Beziehung endete vor sechs Jahren – und das nicht gut. Der Mann war leider nicht ganz der, für den ich ihn gehalten hatte. Nachdem er mich fast schon dazu überredet hatte, sich als Partner in meinen Laden einzukaufen, hat er mich betrogen. Es ärgert mich bis heute, dass ich so lange gebraucht habe, um sein wahres Gesicht zu erkennen. Na ja … Seitdem ist mir niemand mehr begegnet, an dem ich Interesse gehabt hätte.« Bis jetzt, fügte sie im Stillen hinzu.
»Aha.«
»Er hatte tausend großartige Idee für mein Café – und für mich«, fügte sie hinzu. »Er gab sich sehr enthusiastisch.«
»Diesen Typ kenne ich«, sagte Wil.
Anna atmete mit einem Pusten aus. »Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für naiv.«
Wils Stimme klang sanft. »Gar nicht. Für mich klingt es eher, als hätte er deinen Anforderungen nicht genügen können.«
Anna setzte sich auf. Von dieser Seite hatte sie die Sache noch gar nicht betrachtet.
Sie ließ ihren Blick über den See schweifen, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Schließlich machte sie die Augen zu und schüttelte den Kopf.
»Aber ich frage mich«, fuhr Wil nachdenklich fort, »warum du dich überhaupt auf jemanden eingelassen hast, der dir nicht das Wasser reichen kann.«
Was? Annas Körper schien automatisch in Habachtstellung zu gehen. »Was meinst du damit?«
Wil beugte sich ein wenig vor. »Ich meine damit, warum du dir nicht gleich jemanden gesucht hast, der deiner würdig ist. Der deinen Ansprüchen gerecht werden kann. So einfach ist das manchmal nämlich.«
»Wahrscheinlich ist mir noch nie ein solcher Mann begegnet.« Anna musste beinahe lächeln. Und ob ihr ein solcher Mann bereits begegnet war! Er saß ihr direkt gegenüber. Wil war warmherzig, attraktiv … und lebte in einem Land, das Tausende von Meilen von ihrem entfernt war, wie sie sich in Erinnerung rief. Vermutlich nutzte er nur seine Verbindungen, um ihr zu helfen, weil er ein mitfühlender Mensch war, während zu Hause eine atemberaubende Freundin auf ihn wartete, die er bloß noch nicht erwähnt hatte. Sie sank zurück ins Gras.
»Ich hatte keine besonders geeigneten Vorbilder«, sagte sie schließlich. »Meine Eltern haben sich ständig gestritten. Als ich zwölf war, ist meine Mutter an Krebs gestorben. Mein Vater ist ein Jahr später abgehauen. Es kam mir vor, als habe er nach ihrem Tod nur mit den Schultern gezuckt und einfach weitergemacht. Aber sie war meine Mutter! Als er verkündete, er würde aus San Francisco wegziehen, habe ich mich geradewegs geweigert, meine Freunde, die Schule, meinen Großvater und alles andere zu verlassen. Ich war dreizehn, hatte aber einen ziemlichen Dickkopf.«
»Dickkopf?«, sagte Wil. »Das klingt eher nach Stärke.«
»Oder Irrsinn.« Anna grinste. »Jedenfalls bot mein Großvater mir an, ich könne in der Schulzeit bei ihm und meiner Großmutter wohnen und in den Ferien zu meinem Vater fahren. Aber ich mochte diese Besuche nicht. Ein paar Wochen nach dem Tod meiner Mutter stürzte sich mein Vater kopfüber in eine von vornherein gestörte Beziehung mit einer Frau – meiner jetzigen Stiefmutter –, die mich hauptsächlich als Störfaktor betrachtete. Ich war ihrem Gesellschaftsleben im Weg. Mein Vater ist Architekt. Es ging ihm immer gut – finanziell, meine ich. Dummerweise betrachtet er seine Partnerinnen, wie man ein Gemälde oder eine Investition betrachten würde. Meine Mutter war so unglücklich.«
»Ich verstehe.«
»Hinzu kam, dass Max sich längst von seiner Frau – meiner Großmutter – zurückgezogen hatte. Eigentlich lebte jeder bloß vor sich hin. Wahrscheinlich habe ich automatisch angenommen –«
»Dass man nichts Besseres erwarten kann«, beendete Wil den Satz für sie. »Dass es die Mühe nicht wert ist. Besser, man verlässt sich nur auf sich selbst. Dann passiert einem so was auch nicht.«
»Ja. Und mir war immer ein Rätsel, warum um die Liebe ständig so ein Gewese gemacht wird.«
»War?« Wils Stimme sank plötzlich um zwei Oktaven. Das Wort schien in der Hitze zu tanzen.
»Na ja, wenigstens bin ich unabhängig«, sagte Anna aufgesetzt fröhlich. »Und ich weiß inzwischen, was ich kann.«
»Das glaube ich dir«, gab Wil zurück. »Aber hast du schon mal überlegt, loszulassen und abzuwarten, was geschieht? Du weißt nicht, was die Zukunft für dich bereithält. Es könnte alles geschehen.«
»Es gibt nichts loszulassen – alles war weg, als ich zwölf war.«
»Ich weiß. Aber ich glaube, du hast versucht, daran festzuhalten. Du hast dich nicht all den Chancen geöffnet, die sich dir vielleicht geboten haben. Denkst du nicht, es ist an der Zeit, das jetzt zu tun?«
Anna blieb still.
»Komm mit.« Wil stand auf und hielt ihr die Hand hin, und ohne nachzudenken, ergriff Anna sie.
Er führte sie aufs Wasser zu, bückte sich und hob einen glatten Stein auf. »Sagen wir, dieser Stein ist deine Vergangenheit.«
»Meine Vergangenheit?« Hatte das Gespräch ihr eben noch die Sprache verschlagen, war ihr nun schon wieder zum Kichern zumute – Wils Nähe hatte eine denkbar komische Wirkung auf sie.
»Na ja, siehst du es denn nicht? Dieser Stein sitzt in deinem Herzen.«
»Sprichst du immer so mit deinen Mandantinnen?« Anna konnte nicht anders, sie musste lachen.
»Nur mit denen, die ich beeindrucken will«, konterte Wil. »Die ganz besonderen.«
Anna blickte auf ihre Füße.
»Also.« Er stand nun hinter ihr, griff um sie herum, legte ihr den Stein in die Hand und schloss ihre Finger darum. Der Stein war warm von der Sonne. Oder seiner Hand.
Annas Atmung beschleunigte sich. Sie konzentrierte sich angestrengt auf das Wasser – weder auf Wil, der ihr so nah war, noch auf die Gefühle, die sich in ihr zu recken und zu strecken begannen, als seien sie mehr als bereit, aus ihrem jahrelangen Tiefschlaf zu erwachen.
»Und jetzt«, sagte er leise und dicht an ihrem Ohr, »wirfst du ihn.«
»Das ist irgendwie komisch«, murmelte Anna. »Aber irgendwie auch …«
»Therapeutisch. Und außer mir sieht es ja niemand.«
»Stimmt.«
»Dann los.«
Anna holte aus und schleuderte den kleinen Stein so weit über das Wasser, wie sie konnte. Ein paarmal sprang er über die Oberfläche – fast trotzig, fast als bäume er sich ein letztes Mal auf. Anna verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu, wie er verschwand.
»Die Vergangenheit kommt übrigens nie zurück«, sagte Wil.
Sie wandte sich zu ihm um.
Er betrachtete sie mit leicht geneigtem Kopf.
Anna wollte einen letzten Blick auf den See werfen, doch er umfasste ihr Kinn.
»Halt das Gute in Erinnerung. Denk an all das, was dich zum Lächeln gebracht hat. Die schönen Momente mit Max bleiben immer bei dir. Du warst weder für die Missstimmung zwischen deinen Eltern verantwortlich noch für Max’ gescheiterte Ehe. Und niemand wird dich mehr hintergehen wie noch vor sechs Jahren, weil du jetzt noch viel stärker bist. Vertrau auf dein Bauchgefühl, und bleib dir selbst treu. Mehr muss man nicht tun.«
Sie begegnete seinem Blick, sah jedoch schnell wieder weg.
»Wenn man bedenkt, dass ich deinen Vorschlag mit dem Picknick heute Morgen fast abgelehnt hätte.«
»Warum denn das?«
»Ach, ich weiß nicht.« Plötzlich spürte sie, dass sich erneut etwas verändert hatte. Warum hatte sie das bloß gesagt? Wie peinlich.
Und er durchschaute sie natürlich. »Moment mal.« Er nahm die Hand weg.
Sie hätte es wissen müssen.
»Was hat dich heute Morgen denn erst abgeschreckt?«
Anna schloss die Augen. »Entschuldige. Ich bin noch ein bisschen aufgewühlt … Max’ Tod ist noch nicht lange genug her.« Sie entfernte sich von ihm.
Doch Wil war direkt hinter ihr. »Es sind ja auch erst ein paar Wochen vergangen«, entgegnete er. »Kein Wunder, dass du noch fertig bist. Geh es langsam an, Anna. Einen Schritt nach dem anderen.«
Anna drehte sich nicht zu ihm um, nickte aber. »Schau mal«, sagte sie und gab sich unbekümmert, »wie schön die Sonne auf das Schloss scheint.« Sie war den Hügel auf der Insel hinaufgestiegen und hatte von oben eine großartige Aussicht auf das gesamte Anwesen. Seltsam, dass eine so kleine Erhebung einen solch großen Unterschied machen konnte.
»Ja, es ist wunderschön hier«, bestätigte er. »Komm, fahren wir zurück.« Er machte kehrt, und Anna folgte ihm zum Boot, wo er ihr erneut die Hand hinhielt, um ihr beim Einsteigen zu helfen.
Wieder blickte sie zum Schloss. Die Nachmittagssonne färbte die Mauern rosa.
»Erlaube dir, um ihn zu trauern«, sagte er leise.
Einen kurzen Moment kämpfte sie mit den Tränen. Wie sehr Max den Anblick genossen hätte! Doch gleichzeitig verspürte sie auch Freude, und wie Wil gesagt hatte, würde sie sich auf die schönen Zeiten mit ihm konzentrieren.
Anna musste an Wil vorbeibalancieren, um zu der Bank zu kommen und sich zu setzen. Als sie gerade neben ihm war, rutschte sie aus und wäre beinahe gestürzt, aber Wil griff zu und hielt sie am Arm fest. Erstaunlicherweise lag das Boot recht stabil im Wasser. Anna stieß den Atem aus.
»Das war knapp«, sagte er, ließ ihren Arm jedoch nicht los. »Alles wieder okay?«
Anna nickte. »Ja. Danke.«
Schweigend ruderte er zum Seeufer zurück.
Anna betrachtete gedankenverloren die Umgebung, die die Heimat ihrer Vorfahren gewesen war.