14. Kapitel

Paris, November 1939

Die Bäume, die den Weg über den Friedhof von Montmartre säumten, waren kahl. Isabelle vermied es, die ungeordnete Ansammlung von Steingräbern zu betrachten. Obwohl ihr Bewusstsein automatisch Fragen stellte – was waren das für Leute, und was für ein Dasein mochten sie geführt haben? –, gab es doch nur eine Person, die wirklich zählte: Marthe. Und diese Konstante in ihrem Leben war nun seit einiger Zeit fort.

Die alte Dame hatte nicht gegen den Tod gekämpft. Sie hatte weder geklagt, als seine eisigen Klauen immer fester zupackten, noch gejammert, wann immer die Lungenentzündung ihr nächtliche Hustenanfälle bescherte, die das ganze Haus zu erschüttern schienen. Isabelle hatte viele Stunden bei ihr gesessen, ihr die glühend heiße Hand gehalten und ihre Stirn mit einem Schwamm gekühlt, aber sie hätte nicht gewusst, was sie ohne Camille hätte tun sollen. Die ruhige Bodenständigkeit ihres Zimmermädchens war ein Segen in einer Zeit, die Isabelle schmerzlich bewusst machte, dass man nicht alles unter Kontrolle haben konnte.

Außerdem hatte Camille stets gewusst, wann Isabelle nicht reden wollte – auch das war Balsam für Isabelles geschundene Seele angesichts der entsetzlichen Vorstellung, Marthe verlieren zu können.

Camille hatte sich um alles gekümmert, was die Wohnung betraf, und das allein war schon eine enorme Hilfe gewesen. Sie hatte klaglos Marthes viele Kostbarkeiten abgestaubt, das Silber poliert und das edle Porzellan sauber gehalten. Nicht ein einziges Mal hatte sie Erschöpfung gezeigt oder für die vielen Überstunden, die sie zur Verfügung stand, mehr Lohn verlangt. Als Gegenleistung hatte Isabelle ihr die Abende freigegeben. Sie wusste, dass Camille gerne mit den jungen Frauen ausging, mit denen sie sich bei ihrem Sekretärinnenlehrgang angefreundet hatte, und sie wusste auch, dass Camille ihre Pläne, aus dem Bedienstetendasein auszusteigen, wegen ihrer Loyalität zu Marthe und Isabelle verworfen hatte.

Ehe Marthe ihre Augen für immer geschlossen hatte, hatte sie Isabelle dafür gedankt, ihr in ihrer zweiten Lebenshälfte so viel Freude gemacht und frischen Wind in die Wohnung in der Rue Blanche gebracht und sie mit neuem Leben erfüllt zu haben.

Kurz danach hatte Virginia abreisen müssen. Da die Nationalsozialisten in Europa unaufhaltbar vorrückten, hatten ihre Eltern auf ihrer Heimkehr nach Boston bestanden. Auch das hatte Isabelle mit neuem Pragmatismus akzeptiert; sie hatte wohl oder übel verstanden, dass es Kräfte auf dieser Welt gab, die stärker waren als der Idealismus der Jugend.

Nun, da sie vor Marthes Grab stand und die Inschrift las, versuchte sie das Chaos ihrer Gedanken, das in den vergangenen Tagen in ihrem Kopf toste, zur Ruhe zu bringen. Doch was würde aus ihr werden? Wohin sollte sie sich wenden?

Max’ letzter Brief lag noch immer auf ihrem Nachttisch – seit seiner Ankunft vor drei Monaten. Er war, genau wie seine Vorgänger, grob zugeklebt gewesen, ohne dass man sich die Mühe gemacht hatte, die unverkennbaren schrägen Schnitte im Umschlag zu verbergen. Max hatte im August ein paar Tage auf Siegel verbringen können und ihr beschrieben, wie er in den Wäldern gewandert und auf dem See gerudert war. Isabelle hatte seine Worte immer und immer wieder gelesen und die Bilder vor ihrem inneren Auge heraufbeschworen – der Wald, die verborgene Hütte, das Seeufer, alles.

Zudem hatte Max ihr geschrieben, dass sein Vater einberufen worden war. Deutschland und Polen befanden sich im Krieg, und Isabelle hatte keine Ahnung, wo Max und sein Vater inzwischen waren. Die deutschen Truppen waren im September ins Nachbarland einmarschiert und hatten die Polen vor sich hergetrieben und Gefangene gemacht. Warschau war bombardiert, umstellt, dann eingenommen worden. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört, seit er wieder abberufen worden war, und zwei Dinge ließen sie nachts nicht schlafen – die entsetzliche Angst, dass Max getötet werden würde oder schon gefallen war, und die quälende Frage, die wohl niemand beantworten konnte. Wozu waren Kriege gut?

Isabelle fegte ein paar Zweige von Marthes Grab.

Wozu? Macht? Reichtum? Das Wissen, stärker zu sein als andere? Welchen Nutzen hatte das?

Was war mit Freiheit, Toleranz, Respekt und der Möglichkeit, etwas aus sich zu machen?

Als ein paar Wochen später endlich ein weiterer Brief ankam, war Isabelle gerade draußen spazieren gewesen. Sie verband die Wege meist mit Dingen, die sie zu erledigen hatte, aber das Gehen an sich war das Einzige, das sie momentan halbwegs erden konnte. Als der Brief kam, stürmte sie in ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen, um jedes einzelne Wort in Ruhe genießen zu können.

Max schrieb, dass sein Vater sich in einem Ausbildungslager befand. Auch sein Großvater war einberufen worden und zum Oberst ernannt worden, und polnische Gefangene waren nach Siegel geschickt worden, um die Arbeit zu erledigen, die sonst die jungen Deutschen gemacht hätten.

Die meisten hatten ihre Autos abtreten müssen; der luxuriöse Sechssitzer von Max’ Vater war von der Wehrmacht beschlagnahmt worden. Max’ Wagen war ebenfalls fort. In der Armee wurde geritten, und selbst der Treibstoff für die Traktoren für die Landarbeit war stark rationiert worden.

Alle jungen Männer aus Siegel waren eingezogen worden, ob sie nun mit Hitler sympathisierten oder nicht.

Mutti arbeitete für das Rote Kreuz und kümmerte sich um Zusammenkünfte, Inspektionen und Kundgebungen. Nadja ließ sich zum Luftschutzwart ausbilden. Um Max’ Vater – und Max selbst – zu ersetzen, wurde das Anwesen von Wachleuten geführt, die vorübergehend dort auch wohnten.

Die Bevölkerung Deutschlands nutzte wieder vornehmlich Pferde und Fahrräder, um von A nach B zu kommen. Da alles Geld für die Kriegsführung gebraucht wurde, waren die Lebensmittel rationiert – und es traf neben Brot, Butter, Margarine, Milch, Käse, Zucker, Mehl, Eier, Marmelade, Fleisch und Kaffee sogar Seife.

Das Schloss hatte die Obst- und Gemüseproduktion erhöht, um die Menschen mit zusätzlichen Nährstoffen zu versorgen. Um etwas von den rationierten Waren zu bekommen, brauchte man Lebensmittelkarten, von denen die entsprechende Menge abgetrennt wurde. Luxusgüter waren verteilt worden, bis keine mehr da waren; neue wurden nicht hergestellt. Kleidung und Schuhe wurden ebenfalls Mangelware. Die Fabriken produzierten fast ausschließlich für die Armee, und natürlich fehlte es in erster Linie an Arbeitskräften. Die Männer waren fort, während die Frauen Industrie und Landwirtschaft, so gut es mit den begrenzten Mitteln eben ging, in Gang hielten.

Hitler war nicht mehr zu stoppen.

Aber Max wollte ebenfalls wissen, wie es Isabelle ging. Er versprach ihr, sie eines Tages holen zu kommen. Eines nicht allzu fernen Tages, schrieb er. Er hoffe inständig, dass bald alles vorbei sei, damit er sie endgültig nach Siegel – nach Hause! – bringen könne.

Nachdem Isabelle den Brief dreimal gelesen und sich jedes Wort eingeprägt hatte, steckte sie ihn in die Tasche eines ihrer Wintermäntel und kehrte in den Salon zurück.

Das Radio war zum wichtigsten Gegenstand in der Wohnung geworden. Jeden Tag lauschten Camille und sie den Berichten und Bekanntmachungen, während sich das Kriegsgeschehen unaufhaltsam entwickelte und die Ängste und Sorgen beider Frauen wuchsen.

Es fiel Isabelle schwer, sich einen der jungen Männer, die sie an jenem Weihnachten kennengelernt hatte, in Schützengräben oder gar Scharmützeln vorzustellen, während Wochen zu Monaten wurden und das neue Jahr unaufhörlich näher rückte.

Als ein deutsches Frachtschiff im Frühling 1940 die britische Blockade in die neutralen Gewässer Norwegens durchbrechen konnte, bekam die britische Marine Wind davon und schickte einen Zerstörer. Beim darauffolgenden Entermanöver kamen mehrere deutsche Seeleute ums Leben. Als sie durch das Radio davon erfuhren, leuchteten Camilles Augen wie bei jeder noch so kleinen Niederlage für die Deutschen hoffnungsvoll auf, und obwohl Isabelle Camilles Lächeln erwiderte, wurde ihr jedes Mal flauer im Bauch.

Nachrichten zu hören wurde für Isabelle bald regelrecht zum Zwang. Ständig spitzte sie die Ohren nach Neuigkeiten über die deutsche Wehrmacht. Aber was erwartete sie sich davon? Die tägliche Bestätigung, dass ein bestimmter Mann – Max – am Leben war? Die Rückversicherung einer körperlosen Stimme, dass ihm schon nichts passieren und er zu ihr zurückkehren würde?

Als der Frühling in den Sommer überging und es Juni wurde, dämmerte Isabelle, dass sie Paris würde verlassen müssen. Und zwar sehr bald.

Berlin, 2010

Wil hatte sie zurück ins ehemalige Westberlin gefahren und hielt nun an der ersten Ampel auf dem Kurfürstendamm. Nachdenklich schwieg er einen Moment.

»Was hast du heute Abend vor?«, fragte er schließlich und wandte sich ihr zu.

Anna atmete aus. Tja, was hatte sie heute Abend vor? Nichts? Überraschenderweise war Jetlag absolut kein Thema.

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht laufe ich ein bisschen durch Berlin.«

»Hättest du Lust, zu mir zu kommen?«

Anna biss sich auf die Unterlippe.

»Ich habe ein paar Freunde zum Essen eingeladen«, fuhr er fort. Der Verkehr setzte sich langsam wieder in Bewegung. Sie waren nicht mehr weit von Annas Hotel entfernt. »Vielleicht wäre es für dich interessant, ein paar andere Deutsche kennenzulernen.«

Der Gedanke war reizvoll. »Okay, gerne. Danke. Ich komme gerne.«

»Ich hol dich um acht am Hotel ab, okay? Es ist alles ganz zwanglos.«

Anna nickte und wandte sich ihm zu, um sich von ihm zu verabschieden, obwohl es ihr immer schwerer fiel, ihm direkt in die Augen zu sehen. Die Gefühle, die sich vorhin am See seit langer Zeit zum ersten Mal wieder gerührt hatten, entwickelten sich zu etwas, was in Wils Gegenwart überhandzunehmen drohte. Hier saß dieser gütige, gebildete, lustige Mann, der ihr half, die Vergangenheit ihrer Vorfahren aufzuarbeiten. Und mehr war es auch nicht. Alles, was darüber hinaus ging, spielte sich nur in ihrem Kopf ab, weil sie einfach seit Ewigkeiten keinem Menschen wie ihm mehr begegnet war.

»Wunderbar«, sagte sie. »Ich freu mich.«

Wil sah sie amüsiert an. »Ich freu mich auch«, sagte er. »Übrigens will Ingrid uns morgen früh um zehn in Schloss Beringer treffen. Interessante Wahl, wie ich sagen muss.«

»Oh«, bemerkte Anna. »Hat sie einen Hang zum Drama?«

Er grinste. »Dazu sage ich jetzt nichts.«

Anna lächelte ebenfalls und stieg aus.

Anna war kurz vor acht fertig. Sie trug Jeans, ein schwarzes Polohemd, ein Halstuch dazu und schwarze Stiefel. Sie hatte mehrere Armreife angelegt, und ihr Haar war offen. Ein paar Spritzer von Van Cleef & Arpels First und sie war ausgehbereit.

Sie hatte sich generalstabsmäßig umgezogen – vollkommen auf die Aufgabe konzentriert. Es hatte keinen Sinn, sich immer wieder zu überlegen, was an diesem Abend geschehen mochte, auch wenn ihr Geist ein wenig abgedriftet war, als sie unter der Dusche gestanden hatte. Doch letztlich hatte sie die unbotmäßigen Gedanken abgeschüttelt und sich selbst im Fahrstuhl auf dem Weg zur Lobby streng ins Gebet genommen.

Wil kam nur fünf Minuten zu spät.

»Entschuldige«, sagte er. Er sah unverschämt gut aus – wie ein griechischer Gott.

»Macht nichts«, gab Anna zurück. »Es sind ja nur fünf Minuten gewesen.«

»Ich mag aber nicht zu spät kommen.« Er grinste, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.

Ganz freundschaftlich, dachte Anna. Hätte er Absichten oder Gefühle gehabt, die über reine Freundschaft hinausgingen, hätte er sie schließlich nicht auf die Wange geküsst, oder? Dann versetzte sie sich mental einen Tritt. Was dachte sie denn da? Es war ziemlich wahrscheinlich, dass unter seinen Gästen auch seine Freundin war.

»Anna? Wo bist du gerade? Ich will dich ja wirklich nicht stören, aber die anderen kommen ungefähr in einer halben Stunde, daher …«

»Entschuldige.« Anna schüttelte den Kopf. Sie musste sich zusammenreißen. War sie so ausgehungert nach männlicher Gesellschaft, dass ihr Verstand verrücktspielte, sobald sich eine Gelegenheit bot?

Unfug. Sie spielte doch gar nicht verrückt! Verärgert schlug sie sich mit dem Handballen gegen die Stirn.

»Anna!« Wil fing an zu lachen. »Müssen wir dich ins Krankenhaus fahren, oder brauchst du nur einen ordentlichen Wein? Einen hervorragenden deutschen Wein, genauer gesagt?«

Lieber noch einen hervorragenden deutschen Mann, dachte sie.

»Ich habe nur gerade über Siegel nachgedacht«, antwortete sie stattdessen, als sie durch die automatischen Türen traten. Sein Wagen stand um die Ecke.

»Du könntest dir, was das angeht, heute Abend eine Auszeit nehmen. Aber wenn du darüber reden willst, bin ich gerne dabei.«

Sobald sie im Auto saßen, blickte Anna aus dem Fenster und konzentrierte sich auf die Straßen Berlins. Als Wil schließlich ein paar Minuten später in seine Straße einbog, konnte Anna nur fasziniert starren.

»Das war früher ein Berliner Vorort«, sagte er und drosselte das Tempo.

Anmutige Villen mit makellosen Vorgärten säumten die baumbestandene Straße, die von seinen Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde.

»Ich mag mein Haus vor allem deshalb, weil es meinen Urgroßeltern gehört hat«, erklärte Wil ihr. »Es war ihr Stadthaus.«

»Tatsächlich?«

»Sie haben es gebaut, aber nach dem Krieg verkauft. Kurz nach dem Tod meines Großvaters habe ich mich nach einer Immobilie umgesehen. Als ich noch ein Kind war, sind wir oft hier

vorbeigefahren, und er hat mir viel davon erzählt. Seine Familie kam meistens im Winter zur Konzertsaison hierher. Das gesellschaftliche und kulturelle Leben war damals gerade zu dieser Zeit in vollem Gang.«

»Klingt paradiesisch«, sagte Anna.

»War es auch – für sie.« Wil klang nun ein wenig selbstironisch. »Jedenfalls habe ich mit den Besitzern Kontakt aufgenommen, ihnen ein faires Angebot gemacht, und –«

»Das war zu einfach.« Anna löste ihren Sicherheitsgurt, als der Wagen hielt, und griff nach ihrer Tasche.

Wil blickte sie neugierig an. »Du hast dich gerade fast europäisch angehört – wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ich hätte einen leichten Akzent herausgehört.«

»Kann nicht sein.« Anna verspürte einen Anflug von Gereiztheit – warum auch immer. Also wirklich. Sie erkannte sich in letzter Zeit selbst kaum wieder.

Wils Vorgarten lag im Dunkeln, aber der halbrunde Weg zur Eingangstür war gut beleuchtet. Große Bäume wuchsen auf dem Rasen.

Anna wandte sich dem Haus zu. Die Fassade war eindrucksvoll, Jugendstilelemente zierten die Fenster, und doch wirkte es vor allem freundlich und irgendwie lässig. Gepflegte Beete lockerten das Äußere auf, und Kletterrosen rankten auf einer Seite an der Mauer empor.

Wil öffnete die schwarz lackierte Eingangstür und trat zur Seite, um sie einzulassen. Der Boden des Eingangsbereichs war schwarz-weiß gekachelt, und eine Treppe führte in einem Bogen in den ersten Stock. Alles wirkte vornehm, aber heimelig. Wil führte sie in ein gemütliches Wohnzimmer mit poliertem Parkett, auf dem orientalische Teppiche lagen. Ein Flügel stand vor dem Fenster, und zwei Couchen befanden sich über Eck vor dem Kamin, in dem ein Feuer brannte.

»Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte Wil. »Bitte mach es dir bequem.«

Anna setzte sich auf eine Couch. Sie hörte Wil in der Küche Schranktüren öffnen. Nach dem Duft zu schließen, der bis ins Wohnzimmer drang, schien dort etwas Köstliches zu köcheln.

Einen Moment später kehrte er mit zwei Gläsern zurück. »Es ist hinreißend«, bemerkte sie. »Ganz du.«

»Interessant. Was genau?«, fragte er, als er ihr ein Glas reichte.

»Oh, so habe ich das nicht gemeint. Ich –«

Aber jemand war an der Tür.

»Entschuldige mich«, sagte er.

Sie hörte Stimmen an der Eingangstür; jemand redete sehr schnell auf Deutsch. Die Anspannung fiel von Anna ab, als ein kleines Mädchen, vielleicht sechs Jahre, ins Wohnzimmer gelaufen kam. Es trug einen Schlafanzug, kam direkt zu Anna und setzte sich neben sie.

»Ich bin Sasha«, sagte die Kleine auf Englisch und blickte mit schokoladenbraunen Augen zu Anna auf.

Anna lächelte. »Und ich bin Anna.«

Das Mädchen hielt ein Buch hoch. »Ich darf das noch lesen, dann muss ich schlafen. Liest du mir vor? Meine Eltern reden zu Hause Deutsch und Englisch mit mir. Sie haben mir erzählt, dass du hier bist und ich vielleicht üben kann.«

Anna nahm das Buch und fing an zu lesen. Bald war sie von der Geschichte so bezaubert, dass sie kaum bemerkte, als Wil mit vier anderen ins Wohnzimmer kam. Als die Geschichte beendet war, blickte sie auf. Sasha war auf ihren Schoß geklettert, und Wil blickte mit einem Lächeln auf sie beide herab. Wenn Anna seinen Gesichtsausdruck hätte beschreiben sollen, hätte sie ihn als schwelgerisch bezeichnet, und die Herzlichkeit wärmte sie. Allerdings dachte er sich wahrscheinlich nichts dabei.

»Anna, das sind meine Freunde. Petra und Andreas und Eva und Stefan.«

Eine Stunde später kam es Anna so vor, als kenne sie die anderen bereits seit Jahren. Um ihretwillen sprachen alle Englisch. Petra war ein dunkler Typ, sehr attraktiv und hatte einen avantgardistischen Sinn für Mode, der Anna faszinierte. Manche Frauen wussten, wie man ein Tuch tragen musste, und Petra gehörte definitiv dazu. Anna hätte zu gerne gewusst, wie sie wohnte. Ihr Lebenspartner, Andreas, einer von Wils ältesten Freunden, war so hellhäutig wie Petra dunkel. Die beiden fühlten sich miteinander eindeutig so wohl, dass es eine Freude war, mit ihnen an einem Tisch zu sitzen. Das andere Paar, Sashas Eltern, waren Eva und Stefan. Sie gingen sehr liebevoll mit ihrem Kind um. Während sie im Wohnzimmer den Wein zum Aperitif tranken, saß die Kleine bei ihrem Vater auf dem Schoß, ehe er sie ins Bett brachte.

Dann war es Zeit zum Essen. Wil war ein wunderbarer Gastgeber. Der Wein floss, die Unterhaltung war locker und lustig, und er hatte eine köstliche Mahlzeit aus Pasta mit Ragout, grünem Salat und rustikalem Brot gezaubert.

»Seine Arbeit bedeutet ihm viel«, sagte Eva, als Wil mit den anderen Männern in der Küche war. »Es gibt einige Frauen, die ihn sich gerne angeln würden, aber seine Karriere kommt immer an erster Stelle.«

Anna sagte dazu nichts.

Petra lachte leise. »Vor ein paar Jahren hatte er noch eine eher lockere Beziehung zu einer Frau, die aber schließlich jobbedingt nach München gezogen ist. Für Wil hat sich die Frage, mitzugehen, nie gestellt.«

»Ich glaube, es ging mehr um Bequemlichkeit als um alles andere«, sagte Eva.

Anna nickte. Wovor also wollte er sich schützen? War seine Arbeit eine Versicherungspolice für Kollateralschäden? Oder hatte er schlichtweg noch nicht die Richtige getroffen? Sie wollte etwas sagen, als Wil in der Tür erschien.

»Der Kaffee steht im Wohnzimmer, falls ihr mitkommen wollt«, sagte er.

»Natürlich wollen wir«, sagte Eva und stand auf.

Anna bemerkte, dass die beiden Frauen einen Blick austauschten. Hatte Wil ihre Unterhaltung mitgehört? Bitte nicht.

Der Feuerschein warf flackernde Schatten, die auf den Gesichtern tanzten, durch das Zimmer, als Geschichten aus Studienzeiten ausgepackt wurden. Anna hatte sich in eine Ecke der Couch gekuschelt, hielt ihren Kaffeebecher in beiden Händen und wünschte sich, dass der Abend niemals enden würde.

Es war so schön, Menschen kennenzulernen, bei denen man sich auf Anhieb wohlfühlte. Als Wils Freunde sich erhoben, um nach Hause zu fahren, machte Anna sich bewusst, wie lange sie keinen solchen Tag mehr erlebt hatte. Irgendwie hatte sie zwischen ihrem eigenen Laden und Max vergessen, wie man das Leben genoss.

Wil lehnte am Türrahmen, nachdem er seine Freunde verabschiedet hatte. Die Abendluft, die durch die offene Tür hereindrang, war mild.

»Hast du Lust, ein Stück spazieren zu gehen?«, fragte er Anna plötzlich.

»Jetzt?«

»Ich würde dir gerne etwas zeigen.«

Anna hatte nichts dagegen. Das Viertel war wunderschön. Es fiel schwer, diese zeitlos erscheinende Gegend mit dem ehemals zerstückelten Stadtgebiet der Berliner Vergangenheit zu vereinbaren. Anna war sich bewusst, dass etwas weiter im Osten noch immer elend viele ehemals sozialistische Plattenbauten standen.

Ein paar Minuten später blieb Wil vor einem eisernen Tor stehen. Der Garten dahinter lag im Dunkeln, aber als Anna den gepflasterten Weg entlangblickte, entdeckte sie weiter hinten die Umrisse einer Villa mit steilem Dach und vielen Fenstern. Ein Labrador kam schnüffelnd ans Tor.

Wil sagte nichts. Anna wandte sich ihm zu.

»Ich dachte, du solltest es dir wenigstens einmal ansehen«, sagte er schließlich. »Sie sind ebenfalls regelmäßig hier gewesen. Deine Urgroßmutter soll legendäre Partys gegeben haben.«

Anna trat näher an das Tor und spähte angestrengt hindurch.

»Die jetzigen Besitzer haben vier Kinder. Sie haben das Haus meiner Ansicht nach wirklich gut renoviert. Ich kann dich ihnen vorstellen, wenn du magst. Sie würden die Idee bestimmt großartig finden. Jedenfalls herrscht wieder viel Leben in dem Haus.«

»Das freut mich«, bemerkte Anna. Und tatsächlich fand sie, dass das Haus so aussah, wie es aussehen sollte.

Wil streckte die Hand aus, zog sie wieder zurück. »Es ist kühl geworden«, sagte er. »Ich sollte dich ins Hotel zurückfahren.«

Anna nickte. Plötzlich dachte sie an den morgigen Tag. Was würde er bringen? Sie würde mit ihrer Verwandten reden und hoffentlich endlich erfahren, was damals passiert war. Und dann würde sie, Anna, überlegen müssen, was sie tun konnte, um ein paar Dinge wieder geradezurücken.

Auf ihrem Weg zurück zu Wils Haus unterhielt er sich mit ihr, sofern sie wollte, und schwieg, wenn sie wortkarg war. War es wirklich möglich, dass er nicht nur verstand, wie stark ihr Wunsch war, alles über ihre Vorfahren zu erfahren und die Zukunft von Siegel positiv beeinflussen zu können, sondern auch, dass sie nicht eher über ihr weiteres Leben nachdenken konnte, ehe all das andere nicht getan war?

Als sie bei ihm ankamen, blieben sie einen Moment lang auf seiner Auffahrt stehen. Anna konzentrierte sich auf die Umgebung, seinen Garten, die Lichter vor seinem Haus – auf alles, bloß nicht auf ihn.

Nach ein paar Sekunden hörte sie das Klirren seines Autoschlüssels, aber sie hätte nicht sagen können, ob sie froh darüber war oder nicht. Sie folgte ihm zu seinem Auto, und beide stiegen schweigend ein. Erneut war sich Anna überdeutlich bewusst, dass etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen hing. Ihre Nerven flirrten, doch sie brachte kein Wort über die Lippen.

Sie blickte hinaus auf die Umrisse der alten Häuser, die nun im Dunkeln lagen – die Lichter waren größtenteils erloschen.

Auf der Fahrt eilten Annas Gedanken in ihre Zukunft. Dass er so gelassen, so still neben ihr saß, war Balsam und Zündfunken zugleich. Sie wusste, dass sie sich bei noch niemandem so gefühlt hatte wie in seiner Nähe. Noch nie war sie jemandem begegnet, dessen Gesellschaft ihr so … so richtig vorkam. Oder war sie nach Max’ Tod einfach nur besonders verletzlich und suchte unbewusst Ersatz?

Wil hielt vor ihrem Hotel, stieg aus und öffnete ihre Tür, ehe sie Zeit gehabt hatte, ihre Gedanken zu sortieren. Sie stieg ebenfalls aus und blieb auf dem Gehweg stehen. Wil machte keine Anstalten, wieder einzusteigen.

Als sie ihn ansah, flackerte etwas in seinen Augen. Aus irgendeinem Grund gab ihr das mehr Hoffnung, als sie eine Ewigkeit empfunden hatte. Unwillkürlich musste sie lächeln.

Er berührte ihren Arm.

»Ich bin um neun da«, sagte er mit tiefer, fast intimer Stimme. »Warte in der Lobby auf mich. Ich habe keine Ahnung, wo ich einen Parkplatz finde.«

»Danke.« Fakten, Sachlichkeit, das funktionierte gut, damit konnte sie umgehen. Eigentlich. Doch ausnahmsweise sträubte ihr Bewusstsein sich, darauf zurückzugreifen, denn sie wollte den Zauber des Abends nicht zerstören. Sie wollte nicht, dass es aufhörte.

Wenn sie ehrlich war, wollte sie, dass jetzt alles anfing.

Während sie am nächsten Morgen nach Schloss Beringer fuhren, wurde Anna bewusst, dass sie sich nicht nur an die Landschaft in Berlins Umland zu gewöhnen begann, sondern auch an das Gefühl, das diese in ihr erzeugte. Die Wälder, die Weiden, die verschlafenen Dörfer, hier und da ein mysteriöses Schloss und all die Geschichten, die in Deutschlands verworrener Vergangenheit wurzelten, weckten in ihr eine seltsame Sehnsucht nach etwas, was sie nicht recht in Worte fassen konnte.

Anna begriff, warum Ingrid sie nicht auf Siegel treffen wollte – das war wohl recht eindeutig. Aber warum in Schloss Beringer? Wollte sie mit dem Treffen in dem einstigen Besitz von Wils Familie demonstrieren, was mit Siegel möglichst nicht passieren sollte? Oder wollte sie ganz im Gegenteil andeuten, dass sie mit Siegel ähnliche Pläne hatte?

Sie bogen auf die Auffahrt und steuerten auf den Parkplatz zu, wo auch heute eine Ansammlung teuer aussehender europäischer Autos stand, auf deren Motorhauben noch der Morgentau glitzerte.

Betrachtete Wil die Hotelgäste als Eindringlinge? Mit einem Mal ging ihr auf, dass wohl jeder auf seine Art mit der Vergangenheit umgehen musste. Max hatte so getan, als hätte er keine, bis sein Leben sich dem Ende zugeneigt hatte. Vielleicht war seine Bitte an sie, den Ring zu holen, wirklich ein Hilferuf gewesen; vielleicht hatte er aber auch schließlich eingesehen, dass sie ein Recht hatte, von ihrer Familiengeschichte zu erfahren.

Was Wil betraf, lag es auf der Hand, dass das Schicksal von Schloss Beringer ihm am Herzen lag; die fruchtlosen Bemühungen seines Großvaters hatten ihm zugesetzt. Vielleicht musste man akzeptieren, dass die Vergangenheit nicht einfach verschwand. Das alte Brandenburg und Preußen würden Berlin und das Umland stets wie geisterhafte Großeltern überschatten, ob sie sich nun in prächtigen barocken Häusern manifestierten oder in flüsternden Wäldern, nebligen Weiten, märchenhaften Palästen und den Geschichten der Menschen, deren Vorfahren schon immer hier gelebt hatten.

Die Vergangenheit und Siegel hatten Anna auf eine Reise voller Umwege geführt. Nichts, was sie hier erlebte, passte zu dem geradlinigen Leben, an das sie bisher gewöhnt war. Sie war hier nicht in ihrem Element, und obwohl es sie einerseits verunsicherte, wollte sie doch mit beiden Händen zugreifen.

»Sag mal, Wil«, begann sie, als er den Motor abstellte. Wil wandte sich ihr nicht zu, sondern blickte durch die Windschutzscheibe hinaus. »Wie gehst du mit der Vergangenheit um?«

Ein winziges Lächeln spielte um seine Lippen. »Was meinst du damit?«

»Na ja, mit deinem Erbe, der Geschichte, dem Verlust, dem Krieg – einfach mit allem?«

Wil sagte nichts.

»Was schleppst du mit dir herum?«, fuhr Anna fort. »Was hast du zurückgelassen?«

Wil zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und spielte damit. »Erinnerungen. In beider Hinsicht. Und Geschichten. Aber ich schätze, es hängt immer davon ab, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet. Ich gebe zu, dass ich mich meistens eher auf die Zukunft konzentriere. Meine Arbeit nimmt viel Zeit und Energie ein. Und die Erfahrungen meines Großvaters waren nicht gerade ermutigend.« Er wandte sich ihr zu. »Aber seit ich dich kenne, hat sich das geändert. Sehr sogar.«

»Ich hoffe, dass du das positiv meinst«, sagte Anna mit sanfter Stimme. Es lag ein Tonfall darin, den sie bei sich noch nie gehört hatte.

Er sah sie noch immer unverwandt an, und nicht zum ersten Mal fiel Anna auf, wie beständig er wirkte – freundlich und geduldig –, doch da war noch etwas anderes, etwas Undefinierbares, das sie nicht recht zu fassen bekam. War es Zähigkeit? Nein. Es war Stärke.

»Wir sollten reingehen.« Wil öffnete seine Tür.

»Ich versuche nur, dich zu analysieren«, sagte Anna, während sie sich abschnallte, und spürte, wie Wil sich prompt verspannte. »Keine Sorge«, fuhr sie fort, während sie ausstieg. »Ich komme zu keinem Ergebnis.« Eine kleine Lüge war hier dienlicher.

Er fing ihren Blick ein, lächelte, blickte dann aber zur Seite. »Na schön.«

Anna erwiderte das Lächeln. »Komm«, sagte sie. »Ich bin gespannt. Es wird bestimmt –«

»Aufschlussreich, hoffe ich.« Wil grinste.

»Genau.« Anna drehte sich um. Das Knirschen von Kies unter ihren Schuhen hatte etwas Befriedigendes. Sie hatte sich heute Morgen für ein schwarzes Kostüm entschieden, denn sie hatte den Verdacht, dass sie bei diesem Treffen mit Ingrid Hermann Eindruck machen musste.

Paris, Juni 1940

Die Pariser versuchten, ihre Stadt zu verlassen. Der Straßenverkehr, die Metro, Busse – nichts fuhr mehr. Die Einkaufszentren der Stadt waren geschlossen worden. Jede Radiomeldung verkündete dieselben unabänderlichen Wahrheiten.

Frankreich stand kurz vor dem Zusammenbruch.

Die Armee war geschlagen, Paris eingenommen worden.

Und doch wollte Isabelle nicht gehen. Was sollte aus Marthes Schätzen werden?

Isabelle hatte sich entsetzt in die Sicherheit ihrer Wohnung zurückgezogen.

Doch wer konnte, verließ die Stadt; überall sah man traurige Grüppchen durch die Straßen ziehen. Der Krieg hatte sich wie eine schwere Decke über Paris gelegt, und es war, als habe niemand mehr die Energie, sich zu wehren.

An einem Abend wie diesem war Paris normalerweise am schönsten; man ging an der Seine spazieren und stürzte sich in das Nachtleben, um zu tanzen, zu feiern und zu tun, was junge Leute eben taten – sich amüsieren und ihre Jugend genießen.

Eine Familie zog unter dem Fenster vorbei, an dem Isabelle stand; in Ermangelung eines Karrens hatten sie ein dürres Pferd beladen. Isabelle wandte sich ab. Wohin sollte sie gehen? In der ganzen Stadt gingen Gerüchte um: Um Mitternacht würde kein Café mehr offen sein. Die SS würde alles schließen. Die Gestapo würde jeden überprüfen, der in Paris lebte, und systematisch bei jedem einzelnen Bewohner auftauchen. Das Dritte Reich war ein Regime, in dem man besser genau das tat, was von einem verlangt wurde.

Und was war mit Max? Was hielt er wirklich davon, dass die Wehrmacht sich in Europa ausbreitete? Erwarteten seine Eltern immer noch, dass er dachte wie sie? Oder begriffen sie inzwischen, wie es wirklich stand?

Camille. Wo war Camille? Das Mädchen war hinausgeeilt, hatte aber versprochen, sofort zurückzukommen.

Isabelle schauderte, als ihr ein anderer Gedanke kam. Was, wenn Camille etwas zugestoßen war?

Sie ging in Marthes Ankleidezimmer, holte tief Luft. Schloss für einen kurzen Moment die Augen und zog eine Schublade auf.

Isabelle war den ganzen Nachmittag in der Wohnung herumgerannt, hatte das Nötigste gepackt und sich darauf vorbereitet, die Stadt zu verlassen. Und wo zum Teufel blieb nun Camille? Sie hatte alles mit dem Zimmermädchen besprochen und ihr vor mindestens zwei Stunden schon gesagt, dass sie fliehen mussten.

Jetzt holte sie Marthes Schmuckkassette hervor, sperrte sie mit dem kleinen Schlüssel auf, den sie aus dem Versteck geholt hatte, legte zwei Seidentaschen bereit, die Camille und sie sich um den Hals hängen konnten, und holte die Schmuckstücke eins nach dem anderen heraus. Ohne innezuhalten, um die funkelnden Diamanten, Rubine, Saphire und Smaragde, die Marthe in ihren jungen Jahren geschenkt bekommen hatte, noch einmal zu bewundern, verteilte sie sie auf die beiden Taschen.

Als Isabelle den Türriegel klicken hörte, wäre sie vor Erleichterung beinahe auf den Stuhl in der Ecke gesunken. Camilles zielgerichtete Schritte klangen durch die Wohnung. Das Mädchen ging hinauf in ihr Zimmer über der Küche.

Isabelle zog die Reißverschlüsse zu, doch die Beutel waren so prall gefüllt, dass der Stoff an den Zähnen spannte. Nun, sie würden verdammt noch mal halten müssen.

Isabelle lief zurück in ihr Zimmer und blickte sich ein letztes Mal um. Seltsamerweise hatte sie das Bedürfnis verspürt, alles sauber und ordentlich zu hinterlassen. Wenn die Nazis in Marthes Wohnung eindringen würden, würden sie – das wusste Isabelle – an sich raffen, was immer sie tragen konnten.

Sie ging durch die Ankleide hinaus und verabschiedete sich von Marthes Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie schloss die Fensterläden und zog die Vorhänge zu.

Alles war still.

Dann ging sie durch den Salon. Es war Zeit. Sie hatte keine Wahl. Marthes ausgestopfter Strauß schien sie anzustarren. Es war ein wirklich merkwürdiges Geschenk gewesen, aber Marthe hatte sich nie davon getrennt, wie auch von keinem anderen Präsent. Aus einem Impuls heraus griff Isabelle das Schultertuch, das über Marthes Lieblingssessel hing, und drapierte es über dem Rücken des ausgestopften Vogels. Und auch hier sah sie sich noch ein letztes Mal um, während ihr Herz, ihr gesamtes Inneres sich dem Schmerz stellte, der sich in den vergangenen Wochen immer weiter in ihr ausgebreitet hatte.

Camille kam aus der Küche in den Salon und drückte die Tür, die zum Dienstbotentrakt führte, leise zu. Das Mädchen hatte seinen Koffer neben sich und wirkte so ruhig und so entschlossen wie nie zuvor.

»Wir müssen zu Fuß aus der Stadt verschwinden«, sagte es.

Isabelle schüttelte den Kopf. »Wir werden doch noch den Zug nehmen können.« Plötzlich wurde die Verzweiflung darüber, ihr Zuhause verlassen zu müssen, durch das Gefühl absoluter Dringlichkeit ersetzt. Sie mussten hier weg.

»Nein. Wir sollten direkt nach Honfleur gehen«, sagte Camille. Ihr Blick war finster. »Und dann Richtung Süden.«

Isabelle betrachtete sie einen Moment. Das Mädchen war klug – und es kannte sich auf der Straße aus. Isabelle hätte nicht gewusst, was sie ohne Camille tun sollte.

»Ich weiß, wohin wir müssen, Mademoiselle«, sagte Camille nun, wie um Isabelles Gedanken zu unterstreichen. Sie hatte ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und trug ein schlichtes Sommerkleid und feste Schuhe.

Isabelle nickte. Sie würde Camille vertrauen.

Isabelle sah sich nicht mehr um, nachdem sie die Wohnungstür abgeschlossen hatte. Sie durfte nicht mehr zurückschauen auf das Leben, das man ihr in nur wenigen, schrecklichen Monaten gestohlen hatte. Vielleicht würde sie im Herbst zurückkommen können, aber wer wusste das schon?

Niemand wusste es.