16. Kapitel

Paris, Juni 1940

Camille hatte die Führung übernommen. Sie hatte sich Isabelles Taschen umgehängt und schien genau zu wissen, wie sie sich durch die engen Straßen des linken Seine-Ufers zu bewegen hatte, um Leuten aus dem Weg zu gehen, die möglicherweise Ärger machen würden.

Isabelle musste nicht denken, und dafür war sie dankbar.

Sie hatte die Lippen zusammengepresst, ihr ganzer Körper stand unter Anspannung. Ihr Verstand kapitulierte beinahe unter der Last der Sorgen. Was war mit Max? War er in Sicherheit? Was würde mit Marthes Wohnung geschehen? Würden die Soldaten sie plündern? Hatte sie gut genug abgeschlossen? Hätte sie Marthes Schätze besser verstecken sollen?

Sie betrachtete Camilles starken Rücken vor sich. Das Mädchen führte sie durch die dunklen Gassen wie eine geübte Kundschafterin. Sein Blick huschte hierhin und dorthin, und Isabelle kam es vor, als führte es sie durch eine fremde Stadt voller finsterer Geheimnisse, von denen Isabelle selbst nichts geahnt hatte. Eins jedoch wurde Isabelle mit jedem Schritt klarer: Ohne Camille wäre sie aufgeschmissen gewesen.

Isabelle empfand plötzlich fast eine überwältigende Dankbarkeit diesem stillen dunkelhaarigen Mädchen gegenüber, das sich auch nach Marthes Tod treu um die Wohnung und Isabelle gekümmert hatte, ohne sich auch nur einmal zu beklagen. Sie hatte so wenig verdient und kaum ein Leben außerhalb ihrer Anstellung gehabt; die Vergnügungen, die zu Isabelles und Virginias Alltag gehört hatten, mussten ihr völlig fremd sein. Und doch war sie nun hier, bei Isabelle, und sagte ihr, was zu tun war.

Sobald sie Camilles Heimatort Honfleur erreicht hatten, würden sie sich in Richtung Spanien bewegen.

»Mademoiselle?« Camilles Stimme drang durch die warme Nachtluft.

Isabelle blieb stehen.

»Wir haben hier zwei Möglichkeiten.« Camilles blickte die Straße auf und ab.

»Camille, du kennst dich hier draußen zehnmal besser aus als ich. Ohne dich hätte ich es gar nicht bis hierhin geschafft.«

Etwas glomm in Camilles dunklen Augen auf. Ihre Hand griff nach Isabelles.

»Dann hier entlang«, sagte sie und zog Isabelle in eine finstere Straße. »Hier kommen wir am schnellsten weiter.«

Die Gasse war enger, als Isabelle gedacht hatte. Die Häuser ragten über ihren Köpfen auf, als wollten sie einen Bogen im nachtschwarzen Himmel bilden. Alles war still. Nirgendwo schien eine Menschenseele zu sein.

Ganz plötzlich blieb Camille wie angewurzelt stehen. »Leise«, flüsterte sie.

Stocksteif standen sie da. Jemand war in der Nähe. Da war es wieder – ein Schlurfen, Füßescharren, sehr leise, verstohlen.

Und dann traten zwei Männer aus den Schatten, zwei Männer in Uniform. Isabelle schnappte unwillkürlich nach Luft und ließ Camilles Hand los. Träumte sie? Würde doch alles gut werden? Sie trat einen Schritt näher. Er war es. Natürlich war er es. Er war gekommen, um sie aus diesem Albtraum zu befreien.

Sie hätte ihn auch aus großer Entfernung sofort erkannt. Seine Silhouette, sein Gang, seine Haltung – alles. Sie dankte im Stillen Gott, als die Erleichterung sie überkam. Er würde nicht nur sie in Sicherheit bringen, sondern auch ihre loyale Camille. Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen, hätte sich in seine Arme geworfen, sein Gesicht gestreichelt. Er war da.

Er war gekommen, um sie zu holen.

Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

»Camille Paget?«, rief eine Stimme. Deutscher Akzent. Nicht freundlich. Aber das musste ja nichts bedeuten, nicht wahr?

Isabelle blickte zu Camille. »Wieso kennen die deinen Namen?«

»Gehen Sie weg von mir«, flüsterte das Mädchen ihr zu. »Die sind hinter mir her. Laufen Sie! Schnell!«

Camille schubste Isabelle weg.

»Wovon redest du?« Isabelle hätte beinahe gelacht. Tränen der Erleichterung brannten in ihren Augen. »Alles wird gut«, flüsterte sie. »Max ist hier.«

Wieder machte sie einen Schritt auf Max zu. Rufe ertönten.

Als ein Schuss die Nacht zerriss und etwas in Isabelles Brust explodierte, rang sie einen Moment lang um Atem. Dann wandte sie sich wieder Camille zu. »Was –?«, brachte sie hervor, aber das Wort tat weh. Das Denken fiel ihr plötzlich schwer. Blickte sie hoch? Der Himmel war da.

»O mein Gott.« Camille hatte die Arme um sie geschlungen. »Ihr Bastarde!«, brüllte sie.

Isabelle sah zu dem Mädchen auf – ihre treue Freundin, denn das war sie. Und darauf lief es alles hinaus. Freundschaft. Ihr Atem kam in kurzen, keuchenden Stößen.

»Lauf!«, hörte sie. Eine männliche Stimme. Max?

Isabelle versuchte den Kopf zu heben, den Arm nach ihm auszustrecken. Wenn sie ihn erreichen konnte, würde alles gut werden …