Berlin, 2010
Die Sonne, die furchtlose, helle Sonne schickte ihre Strahlen am Morgen nach dem Treffen mit Ingrid durch den Spalt in den Vorhängen und brachte das Messinggestell von Annas Bett zum Blitzen. Sie setzte sich benommen auf; ihre Gedanken trudelten noch in einem Zustand zwischen Halbschlaf und Wachsein.
Sie musste entscheiden, was sie nun tun wollte, aber dazu brauchte sie einen klaren Kopf, daher erstellte sie eine Liste der Tatsachen, mit denen sich arbeiten ließ. Sie hatte Max’ Ring gefunden. Die Situation um das Schloss herum schien hoffnungslos. Sie konnte sich wohl kaum mit einer Geschäftsfrau anlegen, die mehr Land besaß als irgendwer sonst hier in der Gegend. Und Wil konnte das selbstverständlich auch nicht; sie war seine Mandantin, und er würde seinen Job aufs Spiel setzen.
Was blieb ihr also zu tun? Wahrscheinlich sollte sie die Sache einfach auf sich beruhen lassen. Wil hatte sein eigenes Leben, Ingrid hatte das Schloss. Sollten die Leute über Max doch denken, was sie wollten. Sie wusste es besser, und das war die Hauptsache.
Und sie, Anna, kehrte zu dem Leben zurück, das sie sich selbst aufgebaut hatte und das ihr Sicherheit und Beständigkeit verschaffte.
Es gab Schlimmeres.
Diese ganzen neuen Gefühle verwirrten sie ohnehin nur. Sie würde tun, was sie schon immer getan hatte – sie würde sich auf sich selbst verlassen.
Anna stieg aus dem Bett und ging ins Bad, wo sie einen Moment lang in den edlen Spiegel blickte. Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Das hier war kein Märchen, in dem sie das Erbe ihrer Familie rettete und mit dem deutschen edlen Ritter für immer glücklich war.
Entschlossen summte Anna ein fröhliches Liedchen vor sich hin, während sie ihre Taschen für den Rückflug nach San Francisco packte. Sie hatte Glück gehabt. Es waren noch zwei Plätze für den heutigen Flug frei gewesen.
Sie blickte sich noch einmal im Zimmer um, ehe sie in den Korridor hinaustrat und die Tür zuzog. Einen Moment lang blieb sie stehen, als ihr auf einmal flau im Magen wurde. Trotz ihrer aufgesetzten Entschlossenheit kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem zurück, was Ingrid gesagt hatte.
Anna schüttelte den Kopf und zog ihren Koffer auf den kleinen Fahrstuhl zu. Einen Schritt nach dem anderen.
Zwei Monate später war Anna davon überzeugt, dass sie die Sache ad acta gelegt hatte. Sie hatte ihren Alltag wieder, wohnte in ihrem eigenen Haus, und die Vergangenheit war in Deutschland geblieben, wo sie hingehörte. Doch es war ein kalter, nebliger Herbstmorgen, braune Blätter bedeckten die Straßen, und das Wetter schlug ihr aufs Gemüt. Umso mehr musste sie endlich akzeptieren, dass alles ein Ende hatte, nichts für ewig war.
Zeit, endlich loszulassen.
Dann stand vor ihr im Café allerdings ein junger Mann und nannte seinen Namen, nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte. Als sie den Namen auf den Becher schrieb, begannen ihre Gedanken zu rotieren.
Hans. Der junge Bursche hatte gesagt, er hieße Hans. Hans hatte auch Ingrids Vater geheißen. Er, der Max’ Kammerdiener gewesen war. Was, wenn er noch lebte?
Max war gerade erst gestorben. Hans Kramer war Nadjas Geliebter gewesen. Der Name hatte sich in Annas Gedächtnis eingebrannt.
Hans war weit mehr gewesen als nur ein Diener.
Er war Max’ rechte Hand gewesen.
Nachdem Anna den Kaffee zubereitet hatte – mit zittrigen Händen, die ihr nicht wie sonst gehorchen wollten –, bat sie jemanden vom Personal, für sie zu übernehmen, und steuerte das Büro an, wobei sie auf dem Weg noch beinahe mit einer anderen Angestellten zusammenstieß. Sie rupfte sich die schwarze Schürze ab und fuhr den Rechner hoch.
Sie konnte Wil bitten, Ingrid zu kontaktieren, sie nach ihrem Vater zu fragen und zu riskieren, dass sie damit in ein Wespennest stieß. Oder sie konnte den Kammerdiener googeln.
Sie entschied sich für Option Nummer zwei.
Wenig später hatte sie einen Unternehmer, einen Schauspieler und einen Dozenten gefunden. Wenn Max 1916 geboren worden, Nadja älter als Max gewesen war und die drei zusammen aufgewachsen waren, konnte man annehmen, dass Hans um 1913 in Siegel oder der Umgebung zur Welt gekommen war. Anna verbrachte eine halbe Stunde im Netz, doch die Suche erbrachte nichts Brauchbares. Der Unternehmer war erst siebenundzwanzig. Der Schauspieler zweiunddreißig. Und der Dozent war Ende vierzig und lebte und arbeitete in Hongkong.
Nichts als Sackgassen, und keine weitere Spur, der sie nachgehen konnte.
Und dann erschien eine Werbung auf dem Bildschirm. Anna schüttelte verärgert den Kopf. Lästig.
Aber die Werbung poppte hartnäckig auf. Sie blieb, und Anna ertappte sich dabei, dass ihr Blick immer wieder zu ihr zurückkehrte.
Ahnenforschung.com. War ihr Rechner wirklich so clever?
Eine Stunde später starrte sie auf dem Bildschirm auf eine Geburtsurkunde. Hans Kramer war 1914 in Siegel geboren worden.
Als Anna ein Foto von ihm fand, musste sie sich zurücksetzen. Blond, gut aussehend, markante Züge. Kein Wunder, dass Nadja sich in ihn verliebt hatte. Wenig später hatte Anna auch seine Wehrdienstunterlagen gefunden. Er hatte im Zweiten Weltkrieg für Deutschland gedient, jaja, das wusste sie schon …
Sie klickte auf Hochzeiten, Todesfälle. Hans war 1989 gestorben. Mit fünfundsiebzig Jahren.
Und er hatte einen Sohn gehabt.
Gabriel Kramer.
Anna startete eine Suche nach Gabriel Kramer. Zehn Minuten später griff sie nach ihrem Telefon. Und legte es wieder weg. In Amsterdam war es mitten in der Nacht. Aber der Mann, den sie gefunden hatte, musste Hans’ Sohn sein.
Sie fuhr den Computer runter, griff nach ihrer Jacke, hängte sie sich über die Schulter und schaltete auf dem Weg nach draußen die Lichter aus – das Café hatte zugemacht, während sie im Büro recherchiert hatte; Cass hatte, ehe sie gegangen war, noch schnell den Kopf durch die Tür gesteckt.
Annas Verstand arbeitete noch immer auf Hochtouren, als sie ins Bett ging. Nachdem sie sich stundenlang gewälzt hatte, ohne einschlafen zu können, stand sie wieder auf und setzte sich an ihren Rechner, um weiter nachzuforschen. Gabriel betrieb eine Galerie in Amsterdam. Er ähnelte seinem Vater stark und schien das richtige Alter zu haben; er musste um 1960 geboren worden sein. In den biografischen Angaben stand, dass er in den Achtzigern von Berlin nach Amsterdam gegangen war. Anna gab sich Mühe, ihre Gedanken im Zaum zu halten und sie nicht zu weit vorauseilen zu lassen. Im Augenblick musste sie sich vor allem darauf konzentrieren, was sie diesen Mann fragen wollte. Wie sollte sie ihm bloß erklären, was sie wollte?
Wie immer, wenn sie arbeitete, nuckelte sie am Ende ihres Stifts, eine furchtbare Angewohnheit, die sie einfach nicht ablegen konnte. Unwillkürlich dachte sie an Wil, der beim Nachdenken seinen Stift zwischen den Fingern herumwirbelte, und musste lächeln.
Wil. Mehrere Male hatte sie in den Straßen von San Francisco jemanden gesehen, der sie an ihn erinnert hatte. Ein-, zweimal hatte sie in einen BMW vom gleichen Modell wie seinen geblickt, weil sie einen kurzen Moment geglaubt hatte, dass Wil vielleicht darinsitzen könne. Langsam war es lächerlich geworden. Immer wieder befahl sie sich, sich aus dem Kopf zu schlagen, dass er der Richtige für sie sein könnte. Aber sie konnte nicht vergessen, wie er ihr zugehört, ihr geholfen hatte, wie witzig er sein konnte und wie gut sie sich mit seinen Freunden verstanden hatte. Und doch hatte er sich nicht mehr gemeldet. Er hatte die Sache wahrscheinlich abgehakt. Es war nun zwei Monate her.
Anna wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Es war fast drei Uhr morgens, aber die Galerie in Amsterdam musste nun geöffnet haben. Sie hatte sich zurechtgelegt, was sie sagen wollte, und es ein paarmal geprobt. Sie musste nur das Telefon nehmen und wählen.
Sie tat es.
»Met Gabriel Kramer.«
Anna stand auf und setzte sich in Bewegung. Das hatte sie gegoogelt. Met hieß »mit«: »Sie sprechen mit.« Und jetzt musste sie sich vorstellen.
An ihrer Wohnzimmertür blieb sie stehen. »Anna Young«, sagte sie. »Ich rufe aus Amerika an. Sprechen Sie Englisch?«
»Ja«, sagte er. Er klang entspannt. Nicht unfreundlich.
Gedanken stürmten ihr Bewusstsein. Er musste glauben, dass sie ein Gemälde kaufen wollte. Lächerlich. Aber logisch. Anna schüttelte die Vorstellung ab.
Konzentrier dich.
»Mr. Kramer –«
»Gabriel.«
»Danke. Ich … ähm, ich rufe wegen einer persönlichen Sache an.«
»Aha?« Er klang immer noch gelassen.
»Okay. Ich muss mich wohl erst richtig vorstellen.« Sie hatte ebenfalls gelesen, dass das ein wichtiger Bestandteil der niederländischen Etikette war. »Max Albrecht war mein Großvater. Man hat mir gesagt, dass Ihr Vater, Hans Kramer, sein –«
»Kammerdiener war.«
Stille in der Leitung.
Anna musste sich setzen. Sie sank auf ihren Lieblingssessel. »Okay. Also … das ist vielleicht alles ein bisschen komisch, aber ich recherchiere gerade zu unserer Familiengeschichte. Nein. Eigentlich stimmt das nicht. Ich will herausfinden, warum mein Großvater nie mehr nach Siegel zurückgekehrt ist. Er ist nach dem Krieg nach Amerika ausgewandert und kein einziges Mal nach Deutschland zurückgereist. Ich komme aber einfach nicht weiter. Ich weiß, dass es vielleicht ein wenig weit hergeholt ist, aber möglicherweise hat Ihr Vater mal irgendwann etwas über Max erwähnt. Ich gehe davon aus, dass er ihn gut gekannt hat. Aber ich habe keine Ahnung, was für ein Verhältnis die beiden hatten, als sie verschiedene Wege gingen. Das muss 1940 gewesen sein, dessen bin ich mir sicher.«
»Anna«, sagte er, »hören Sie zu.«
Anna spürte seine plötzliche Anspannung sogar durch die Leitung.
»Ich schätze, wir sollten uns unterhalten.«
»Ja.« Anna schloss die Augen. Ungeheuer erleichtert. Sie lehnte sich zurück und wartete.
»Wenn Sie schon so weit gekommen sind und mich gefunden haben, dann sollten wir die ganze Geschichte meiner Ansicht nach gemeinsam durchsprechen. Ich weiß, dass es vielleicht etwas schwierig wird, aber könnten Sie nach Amsterdam kommen, damit wir uns persönlich kennenlernen? Sie leben in den USA?«
»Ja«, sagte Anna wieder. Sie war erschöpft, doch sie wäre bis ans andere Ende der Welt gereist, wenn sie dadurch ihren Seelenfrieden wiedergefunden hätte.
»Okay. Also … meinen Sie, Sie könnten herkommen? Ich glaube wirklich, dass es am besten wäre.«
»Geben Sie mir Ihre Adresse.« Anna stand auf und ging schwankend zur Küchenarbeitsfläche, wo sie einen Stift fand.
Gabriel diktierte ihr seine Kontaktdaten und versicherte ihr, dass er jederzeit verfügbar sein würde.
Nachdem Anna aufgelegt hatte, kehrte sie an den Rechner zurück und suchte nach Flügen.