Amsterdam, 2010
Anna hatte mit Gabriel verabredet, sich gleich an ihrem ersten Nachmittag in Amsterdam zu treffen. Da sie nach ihrer Ankunft noch ein paar Stunden Zeit hatte, beschloss sie, einen langen Spaziergang zu machen. Jede Gracht schien ihren eigenen Stil zu haben, und jede faszinierte sie aufs Neue. Die zeitlos erscheinende Stadt war voller Fahrräder und Studenten und unfassbar schicker Apartments in charmanten alten Häusern, durch deren vorhanglose Fenster man das verrückteste Wohndesign bestaunen konnte. In dieser Stadt verschmolzen Alt und Neu zu einem ganz eigenen Flair.
Anna ließ sich für den Weg viel Zeit. Als sie schließlich die Tür zu Gabriels Galerie aufdrückte, sah er ihr von einem Tisch im hinteren Teil des weiß gestrichenen Raums entgegen. An den Wänden hingen eine Reihe atemberaubender Porträts, die so angestrahlt waren, dass jeweils bestimmte Züge hervorgehoben wurden. Wäre Anna aus einem anderen Grund hergekommen, hätte sie sich gerne mit viel Muße umgesehen.
»Mr. Kramer?«, fragte sie.
Er neigte den Kopf.
»Ich bin Anna Young. Ich hoffe, es passt Ihnen immer noch.«
Er nahm sich einen Moment, ehe er zum Sprechen ansetzte. »Ich muss zugeben, dass ich unablässig über Ihren Anruf nachgedacht habe, seit wir aufgelegt haben.« Plötzlich wurde Anna bewusst, dass sein Akzent eine leicht amerikanische Nuance hatte.
Er schien beinahe nicht glauben zu können, sie wirklich vor sich zu sehen – als sei sie durch Zauberhand in seiner Galerie erschienen und könne jeden Moment wieder wie ein Kaninchen im Zylinder verschwinden.
Anna musterte ihn unverhohlen. Eine Ähnlichkeit mit Ingrid konnte sie nicht feststellen. Möglicherweise hätten die blauen Augen ein Indiz sein können, wenn Gabriels Blick nicht so viel wärmer gewesen wäre. Sein graues Haar, das vermutlich auch einst blond gewesen war, war sehr kurz geschnitten, und er trug eine ausgeblichene Lederjacke über einem schwarzen Polohemd.
»Ich habe halb damit gerechnet, dass Sie doch nicht auftauchen«, sagte er nun, schloss eine Schublade auf und holte eine Lederbörse heraus. »Kommen Sie, gehen wir einen Kaffee trinken. Sie müssen den besten probieren.«
»Oh, glauben Sie mir, ich hatte wirklich schon einen sehr guten.« Sie lachte. »Ich muss zugeben, dass ihr Holländer wisst, wie man eine gute Mischung kreiert.«
»Hat er den Jetlag vertrieben?«, fragte Gabriel in einem freundlichen Plauderton.
Die Anspannung aus Annas Schultern ließ nach. Wenn sie auf Wetten stehen würde, hätte sie darauf gesetzt, dass er ein angenehmer Gesprächspartner war.
»Gibt es ein besseres Mittel dagegen?«, erwiderte sie.
Er rief etwas auf Holländisch in einen Raum hinter dem Schreibtisch. Eine Männerstimme antwortete. Anna versuchte sich darauf zu konzentrieren, was sie sagen wollte.
Doch während sie mit Gabriel den schmalen Gehweg entlangschlenderte, ließ sie sich nur allzu gerne von der spätnachmittäglichen Sonne ablenken, die die hübschen Häuser an der Gracht, den schwimmenden Blumenmarkt, die unterschiedlichen Dächer und die malerischen Boote, die auf dem Wasser dümpelten, in rosiges Licht tauchte.
Sie trat hinter ihm durch eine Glastür in ein Café, das fast wie ein Wohnzimmer wirkte: In den Regalen standen Vasen, Bücher und Lampen, die ein gemütliches Licht im Inneren verbreiteten.
Nachdem Gabriel Kaffee bestellt hatte, setzte er sich Anna gegenüber und ließ den Kopf in die Hände sinken.
»Verzeihen Sie mir«, sagte Anna. »Ich muss Sie mit dem Anruf regelrecht überfallen haben. Alles in Ordnung?«
»Jaja«, versicherte er ihr. »Es ist nur so unfassbar, jemandem gegenüberzusitzen, der in einer Verbindung zu meinem Vater steht.«
Anna beschloss, nicht zu erwähnen, dass sie erst kürzlich von dieser Verbindung erfahren hatte, und wartete stattdessen ab, dass er weitersprach.
»Also okay«, setzte er wieder an, als der Kaffee in Begleitung zweier Stücke Kuchen kam. Die Gebäckstücke waren mit Teigstreifen im Gittermuster versehen. »Das müssen Sie unbedingt probieren. Eine Spezialität von hier – vlaai. Sie wird mit hiesigen Kirschen hergestellt.«
»Leben Sie schon immer hier?«, fragte Anna und kostete den süßen Hefefladen.
»Mein Vater ist nach dem Krieg hergekommen. Er brauchte einen Ort, wo er … er selbst sein konnte.«
»Ich verstehe.«
»Wie viel wissen Sie?«
Anna erzählte ihm von Max und erfuhr, dass Gabriel zwar von seiner Halbschwester Ingrid wusste, aber nie versucht hatte, Kontakt mit ihr aufzunehmen, und Anna konnte das Wenige, das ihm über Nadja bekannt war, mit dem aufstocken, was sie von Ingrid erfahren hatte. Eine Weile sprachen sie über Ingrids verbitterte Einstellung zur Vergangenheit, und Anna erklärte Gabriel, dass sie diese Bitterkeit nicht für gänzlich gerechtfertigt hielt, weil Ingrids harsches Urteil über Max sich ganz und gar nicht mit ihrer eigenen Erfahrung deckte. Sie wolle, schloss sie, so viele Informationen wie möglich zusammentragen, um besser verstehen zu können, was damals wirklich geschehen war.
Gabriel nickte. »Das kann ich nachvollziehen. Mein Vater war sein ganzes Leben lang immer wieder in Therapie. Das, was in Paris geschehen ist, hat ihn traumatisiert, und davon hat er sich nie wieder erholt. Ich –«
Anna legte ihre Gabel ab und sah ihn an. »In Paris?«, fragte sie.
»Sie sind extra aus den USA hergeflogen. Es ist Zeit, mit dieser Geheimniskrämerei Schluss zu machen.«
Anna nickte. Würde sie jetzt endlich, endlich die Wahrheit erfahren?
»Es war immer klar, dass mein Vater, Hans, von etwas gepeinigt wurde, was er nicht preisgeben wollte, doch irgendwann gelang es einem Psychologen, es aus ihm herauszubekommen.«
Anna stützte ihr Kinn auf die Hände.
»Mein Vater hat für die Albrechts gearbeitet, seit er vierzehn Jahre alt war. Ihr Großvater, Max, und mein Vater verstanden sich sehr gut. Deshalb wurde er ziemlich früh befördert – was damals eine starke Leistung war.«
Anna nickte.
»Max liebte eine Französin. Er hatte sie vor dem Krieg kennengelernt, und die Liebe hielt.«
»Ja, ich weiß. Sie lebte wohl in dieser konservierten Wohnung in Paris. Aber viel mehr Informationen habe ich nicht über sie.«
»Sie haben also die Artikel gesehen, die darüber in den Zeitungen erschienen sind?« Gabriel blickte abrupt auf. »Waren sie der Auslöser für Ihre Recherche?«
»Max hat sie entdeckt. Und seine Reaktion darauf hat mich ziemlich erstaunt. Ich wollte der Sache unbedingt auf den Grund gehen.«
»Das war dann ja ein gutes Timing.«
»In vieler Hinsicht ja, in anderer nicht.«
»Das ist wohl oft so.«
Anna wartete.
»Mein Vater und Ihr Großvater gehörten beide der Abteilung der Wehrmacht an, die Paris besetzten. Die Nazis, müssen Sie wissen, waren vor allem hinter der Kammerzofe der Französin her. Angeblich war sie eine Spionin. Sie erhielten den Befehl, das Mädchen zu töten, aber auch Isabelle de Florian – die Frau, die Max heiraten wollte –, weil diese einer Spionin Unterschlupf gewährte.«
Anna schloss die Augen. Sie musste die Hände auf den Tisch legen, um sich zu stabilisieren.
»Geht’s Ihnen gut?«, fragte Gabriel.
»Ja, danke.«
»Es war ein Auftrag, mit dem Max’ Loyalität getestet werden sollte. Die Nazis wussten alles, was seine Liebesbeziehung betraf. Genau deswegen hatten sie auch Max für diese Mission ausgewählt. Mein Vater kannte Isabelle natürlich auch. Sie war einmal über Weihnachten auf Siegel gewesen und wurde bereits als Teil der Familie angesehen. Jeder ging davon aus, dass Max und sie nach dem Krieg heiraten würden. Mein Vater mochte sie. Es war eine Situation, die sich unserer Vorstellungskraft entzieht.«
»Oje«, murmelte Anna, »armer Max.«
»Ja. Es war, wie ich schon sagte, ein Test. Wie treu war Max seinem Land ergeben? Wie weit war er bereit, für Hitlers Ziele zu gehen? Es wurde erwartet, dass man sein persönliches Glück immer hintanstellte. Zuerst die Partei, zuerst Deutschland. Nichts anderes zählte.«
Anna nickte. Sie begann tatsächlich, nicht nur zu verstehen, sondern es auch zu fühlen. »Fahren Sie bitte fort«, brachte sie hervor, doch sie biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es wehtat.
»Max bekam den Befehl, mit meinem Vater nach Paris zu gehen. Es war der Vorabend der Invasion. Beide würden Isabelle bereits aus der Ferne erkennen können. Sie hatte die Wohnung noch nicht verlassen, das wussten die Nazis. Und die Tatsache, dass beide Frauen noch in Paris waren, verschaffte ihnen umso mehr Munition. Hatten die Frauen vor, zu bleiben und Ärger zu machen? Spione konnte die Wehrmacht nicht dulden. Und die Kammerzofe war höchst verdächtig.«
»Aber wie soll sie denn eine Spionin gewesen sein?« Anna musste diese Frage stellen.
»Es hieß, sie würde dem Feind helfen. Vermutlich bedeutete das nichts anderes, als dass jemand aus ihrem Freundeskreis ein illegaler Immigrant oder Jude war. Das war häufig die Begründung.«
»Ja. Natürlich.« Anna seufzte.
»Also verfolgten Max und mein Vater die beiden Frauen, als sie in der Nacht des 9. Juni 1940 endlich die Flucht ergreifen wollten und ihre Koffer durch die dunklen Straßen von Paris schleiften. Doch erst als die beiden in eine schmale Gasse bogen, ergab sich die Gelegenheit, sie zu töten.«
»Aber … mein Großvater –«
»Anna.« Gabriel beugte sich vor und nahm ihre Hände in seine. »Max hatte Papiere für Isabelles Flucht dabei.«
Annas Atmung beschleunigte sich. Sie betrachtete den Mann, der ihr gegenübersaß. Plötzlich wirkte er sehr erschöpft.
»Es war mein Vater, der es tat, es war Hans, der glücklose Kammerdiener, der Isabelle de Florian erschoss. Mein Vater war ehrgeizig und immer bestrebt, sich zu bewähren. Und seine Loyalität den Albrechts gegenüber war unerschütterlich. Er betrachtete es als seine oberste Pflicht, Max zu beschützen, selbst wenn das bedeutete, dass er sich über Max’ Willen hinwegsetzen musste. Mein Vater war davon überzeugt, dass Isabelle Max’ Tod bedeutete, und wäre Max etwas zugestoßen, hätte er in seiner Aufgabe, ihn zu schützen, versagt – und beide wären wegen Ungehorsams hingerichtet worden. Sosehr er Isabelle auch bewunderte, er musste sie um Max’ willen töten. Aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie stark ihn das für den Rest seines Lebens belastet hat.«
Anna sagte nichts, doch ihr Herz schlug so laut, dass es Tote hätte aufwecken können.
»Tja, mein Vater führte also den Befehl aus. Er erschoss zuerst Isabelle, weil sie vorgetreten war und nach Max gerufen hatte. Sie hatte ihn erkannt. Und es war dieser Ruf, den mein Vater nie mehr verlassen würde.«
»Nein.«
Gabriel streckte seine Hand über den Tisch aus, legte sie jedoch nur neben Annas.
»Max rannte zu Isabelle und drückte Camille die Papiere für sie in die Hand, während er sich über die sterbende Isabelle beugte. Weil er damit Camille verdeckte, musste Hans das Schießen einstellen; er hätte sonst riskiert, versehentlich Max zu töten.«
Anna nickte, doch ihr Atem kam bebend.
»Mein Vater musste in den kommenden Jahren mit entsetzlicher Schuld kämpfen. Sie fraß ihn regelrecht auf. Er hatte eine unschuldige junge Frau ermordet, eine Frau, die sein Vorgesetzter geliebt hatte – und wofür? Isabelle de Florian hatte vermutlich nicht einmal eine Ahnung von den Aktivitäten ihrer Kammerzofe gehabt. Sie sei einfach eine liebe, vielleicht ein wenig naive Person gewesen, hat mein Vater immer gesagt.«
»Gott.« Anna erkannte ihre Stimme kaum.
»Nach dem, was mein Vater getan hatte, vertraute Max ihm nicht mehr. Das Risiko zu bleiben war ihm zu groß. Er legte seine Uniform ab, die später in der Nähe gefunden wurde, und verschwand. Wohin – das wusste mein Vater in dem Moment nicht.
Aber die beiden hatten sich nahegestanden. Daher hatte er auch mitbekommen, dass die Albrechts Max viel Druck gemacht hatten. Seine Eltern wollten, dass er der NSDAP beitrat, um die Ländereien, die Familie, die Leute, die von ihnen abhingen, beschützen zu können. Doch Max hatte starke Zweifel.
Im Grunde genommen haben seine Eltern ihn in eine Situation gebracht, die seiner wahren Liebe das Leben kostete. Vielleicht hat er ihnen das nie verziehen. Oder vielleicht konnte er einfach nicht mehr zurück. Ich vermute, dass Letzteres der Fall war. Anfangs war alles zu viel, und im Laufe der Jahre wurde es immer bloß noch schwerer. Er wird gewusst haben, dass seine Brüder im Krieg gefallen waren, und über den Tod seiner Eltern wird er auch informiert worden sein. Blieben nur Nadja und Hans, aber Hans hatte Isabelle erschossen.«
Anna beugte sich vor und tätschelte seine Hand, die immer noch auf dem Tisch lag. Im Café war es still geworden. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken.
»Danke«, sagte sie. »Vielen, vielen Dank, Gabriel.«
»Wenn es etwas gibt, über das Sie sprechen wollen, dann lassen Sie es mich wissen«, entgegnete Gabriel. »Jederzeit.«
»Danke.«
»Haben Sie Ihrem Großvater denn nahegestanden? Max?«
»Ja. Sehr.«
»Brauchen Sie vielleicht jetzt etwas Zeit für sich?«, fragte er.
»Ich glaube, ja.«
Gemeinsam verließen sie das Café und verabschiedeten sich. Anna schlug den Weg zu ihrem Hotel ein und wich wie in Trance den Fahrrädern, Touristen und Einheimischen mit ihren Einkäufen aus. Sie war nicht in der echten Welt.
Sie war in Paris. In jener Gasse. Wie oft war Max gedanklich wohl dorthin zurückgekehrt? Was wäre gewesen, wenn Hitler nicht die Macht ergriffen, den Rest der Welt ins Unglück gestürzt und Max daran gehindert hätte, seine Liebe zu heiraten und sein Leben auf seinem Familienbesitz zu verbringen, wie es vorgesehen gewesen war?
Anna blieb in der Mitte einer Brücke über die Herrengracht stehen. Max hatte versucht, ihr zu vermitteln, dass man Dingen, die man für richtig hält, nicht aus Angst aus dem Weg gehen sollte. Aber wenn es so einfach war, warum schien es ihr dennoch fast unmöglich, sich ihren eigenen Gefühlen, ihren Ängsten zu stellen? Was empfand sie wirklich für Wil? Und was sollte sie jetzt in Bezug auf Siegel unternehmen?