19. Kapitel

Vierundzwanzig Stunden später zog Anna ihr Bordcase in den Amsterdamer Flughafen Schiphol. Sie stand direkt hinter den Glastüren, den Pass im Portemonnaie, ihr Ticket für den Heimflug nach San Francisco in der Hand.

Sie blickte auf das Ticket. Drehte es in den Händen. Sie würde zum Schalter gehen, es gegen eine Bordkarte eintauschen, das Flugzeug besteigen und nach Hause fliegen. Zurück zu ihrem gewohnten Leben. Ende der Geschichte.

Aber ihr war schwer ums Herz. Als sie am Abend zuvor ins Hotel zurückgegangen war, hatte sie bei jedem Paar, das Hand in Hand an ihr vorbeigeschlendert war, an Max, Isabelle und ihre tragische Liebe denken müssen.

Max hatte Isabelle, die Erinnerung an sie und seine Gefühle fast sein ganzes Leben für sich behalten und wie einen Schatz behütet. Vielleicht lag darin ja eine tröstende Schönheit.

Es war Zeit, zurückzukehren.

Anna setzte sich wieder in Bewegung. Sie konzentrierte sich bewusst auf die Suche nach dem Schalter, der den Flug nach Los Angeles auswies; von dort aus ging es nach San Francisco. Nach Hause.

Nein.

Anna blieb stehen und schüttelte den Kopf, um ihre dummen Gedanken loszuwerden. Das war albern. Sie konnte nichts tun, um Schloss Siegel zu retten. Sie konnte und würde nicht nach Berlin fliegen, um es mit Nadjas Tochter aufzunehmen.

Anna konnte sich die Unterhaltung lebhaft vorstellen. Ingrid war gut darin, ihren Standpunkt zu vertreten. Sie war eine mit allen Wassern gewaschene Geschäftsfrau. Jemand, der ein bezauberndes altes Schloss wie Siegel aus weiß Gott für Gründen dem Verfall preisgab und sich auch nicht darum scherte, dass ein ganzes Dorf darunter litt, würde sich wohl kaum durch irgendeine jahrzehntealte Liebesgeschichte aus Paris von ihrer Handlungsweise abbringen lassen.

Aber nach ein paar Metern blieb Anna wieder stehen. Sie war ebenfalls stark! Sie hatte ihr eigenes Unternehmen aufgebaut, genau wie Ingrid, wenn auch in etwas kleinerem Maßstab.

Sollte sie jetzt schon aufgeben? Sie hatte doch eigentlich gerade erst begonnen.

Schloss Siegel gehörte auch zu Annas Vergangenheit. Ingrid besaß kein Exklusivrecht auf die Geschichte.

Anna blickte wieder auf ihr Ticket.

Und dann wandte sie sich um und ging in entgegengesetzter Richtung auf einen anderen Schalter zu.

Sie würde sich ein Ticket zu ihrer zweiten Heimat kaufen.

»Nach Berlin, bitte«, sagte sie der Angestellten hinter dem Schalter.

Die Frau auf der anderen Seite der Theke hakte nicht nach. Sie tippte einfach die notwendigen Daten in den Computer und druckte ihr das Ticket aus.

Das Licht des späten Nachmittags warf eine goldene Decke über Berlin. Anna fühlte sich heimischer als je zuvor, während das Taxi sie durch die verkehrsreichen Straßen brachte. Sie blickte hinaus auf das Brandenburger Tor, das trotz allem, was zu seinen Füßen geschehen war, noch immer unerschütterlich emporragte.

Natürlich war es ein Symbol der Hoffnung und der Freiheit – der Freiheit von einer schrecklichen Vergangenheit, die von Hass und Entzweiung geprägt gewesen war. Und das war etwas, was Anna zu ändern gedachte. Wenn sie ehrlich war, wollte sie nicht nur etwas für Max’ Ruf tun, sondern auch etwas für ihre Verwandte. Sie wollte Ingrid klarmachen, dass es nicht so sein musste, dass sie keine Schuld zuweisen oder Bitterkeit verspüren musste.

Natürlich würde es nicht leicht werden, dessen war Anna sich bewusst. Aber als sie vor dem Hotel – dasselbe, in dem sie beim letzten Mal gewohnt hatte – den Taxifahrer bezahlte, gestand sie sich keine Zweifel zu.

Sobald sie eingecheckt und sich etwas frisch gemacht hatte, verließ sie ihr Zimmer wieder. Dann wählte sie Ingrids Geschäftsnummer, die sie problemlos im Internet gefunden hatte, und marschierte los, als wäre sie eine Einheimische: zielstrebig, die Augen geradeaus, ohne auf Geschäfte und Cafés zu achten.

Nach ein paar Sekunden wurde sie mit Ingrid verbunden.

»Anna«, sagte ihre Verwandte. Sachlich.

Anna würde ähnlich agieren. »Geht’s dir gut?«

»Ja, danke.«

Anna ging weiter. »Ich wollte fragen, ob wir uns noch einmal treffen können. Es gibt etwas, was ich dir mitteilen muss.«

Eine kurze Pause entstand, ehe Ingrid wiedersprach. »Ich bin im Moment in Siegel. Wo bist du?«

»In Berlin.« Anna blieb einen Moment lang stehen.

»Ich bin auch morgen noch die meiste Zeit hier«, fuhr Ingrid fort.

»Wie wär’s dann, wenn ich morgen ebenfalls nach Siegel komme?«

Wieder entstand eine kurze Pause. »Also gut«, sagte Ingrid schließlich. »Ich habe hier zwar einiges zu tun. Aber wenn du um neun hier sein kannst, wäre es in Ordnung.«

Anna willigte ein. Das kam ihr entgegen. Sie konnte mit solchen Situationen umgehen. Und besser noch – sie wusste, dass sie Ingrids Nüchternheit etwas entgegenzusetzen hatte.

Am nächsten Morgen legte sie sich zurecht, was sie sagen wollte, während sie mit dem Zug nach Siegel fuhr. Nachdem sie am winzigen Bahnhof ausgestiegen war, marschierte sie, ohne sich aufzuhalten, zum Schloss.

Es war ein prächtiger Herbstmorgen. In den bernsteinfarbenen Baumkronen zwitscherten Vögel. Während Anna an den leeren Häusern vorbeiging, nahm sie ihr Telefon ans Ohr.

»Ich sitze draußen auf der Terrasse«, sagte Ingrid. »Ich bin da, wenn du kommst.«

Anna dankte ihr. Etwas seltsam, um miteinander zu reden. Obwohl es im Haus mit all dem Staub und ohne jegliches Möbel natürlich nicht wesentlich besser gewesen wäre.

Als Anna, ohne sich zu erlauben, zum See hinüberzublicken, das alte Gemäuer umrundete und die Terrasse in Sicht kam, blieb sie wie angewurzelt stehen.

Die Szene vor ihr schien surreal.

Mitten auf den geborstenen Bodenplatten stand ein großer runder Tisch mit einer roten Decke. Um ihn herum saß Ingrid mit ein paar Männern.

Das wagst du nicht, dachte Anna. Unmut stieg in ihr auf.

»Anna«, sagte Ingrid, stand auf und streckte ihr die Hand entgegen, »ich möchte dir Mr. Wong, Mr. Chen und Mr. Li vorstellen.«

Anna regte sich nicht.

Ingrid bedeutete ihr, dass sie sich setzen möge.

Anna sah die Geschäftsleute weder an, noch lächelte sie. Stattdessen fixierte sie unverwandt ihre Verwandte. »Ingrid, können wir bitte unter vier Augen sprechen?«

Ingrid glättete ihre dunkelblaue Kostümjacke. Ihre blauen Augen glitzerten.

Los geht’s, dachte Anna.

Sie regte sich immer noch nicht.

»Natürlich.« Auf Ingrids Gesicht erschien ein Lächeln. »Meine Herren, wenn Sie mich kurz entschuldigen. Es dauert nicht lange.«

Wie aufs Stichwort erschien ein uniformierter Kellner mit einem Tablett mit Kaffee und Gebäck. Bilder von Schloss Beringer erschienen vor Annas geistigem Auge. Hässliche Teppiche, eine unterkühlte Atmosphäre, langweiliges Essen …

Das durfte nicht geschehen.

Anna verkniff sich die Worte, die ihr auf der Zunge lagen.

Sie setzte sich in Bewegung und steuerte auf das Seeufer zu.

»Ich war in Amsterdam«, sagte sie zu ihrer Verwandten an ihrer Seite.

»Aha?«, fragte die andere. Es klang eher nach: »Na und?«

Also hatte sie keine Ahnung. Sie wusste nichts von ihrem Halbbruder.

Anna trat ans Wasser. Sie blickte direkt auf den Baum, unter dem Wil und sie gesessen und gepicknickt hatten. Picknicks und Leben und Familie und Liebe – das war es, was dieses Haus hier nötig hatte.

Anna wandte sich zu ihrer Verwandten um. Auch sie blickte zur Insel. »Was ist hier los?«, fragte Anna.

»Ich überlege, das Schloss zu verkaufen«, erwiderte Ingrid mit leiser Stimme. »Ich dachte eigentlich, das würde dich freuen. Sie werden es renovieren und ausbauen. Ich bin raus, und das Schloss wird gerettet.«

Anna hätte fast gelacht, aber sie bezwang das traurige Glucksen, das in ihrer Kehle aufsteigen wollte. Sie probierte eine andere Strategie. »Was wäre, wenn sie alle noch am Leben wären?«, fragte sie leise. »Was hätten sie sich wohl gewünscht?«

»Was?«, fuhr Ingrid sie an. »Wer?«

»Didi, Jo … Isabelle«, antwortete Anna.

»Wenn du diese Frau meinst, mit der Max eine Affäre hatte –«

»Das war keine Affäre«, sagte Anna. »Sie und Max wollten heiraten. Ihr Leben zusammen verbringen.« Anna änderte ihren Tonfall nicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr. »Aber Isabelle wurde erschossen. Die Nazis hatten Max den Befehl gegeben, sie zu töten, weil man vermutete, dass ihre Kammerzofe eine Spionin war, aber Max konnte es nicht tun. Er konnte nicht die Frau töten, die er liebte.«

Ingrid sah sie unverwandt an. Ihre Augen schleuderten Blitze.

Anna wich keinen Schritt zurück. »Max wurde von seinen Eltern – deinen Großeltern – dazu gedrängt, sich Hitler anzuschließen. Er hat versucht, für seine Familie, das Dorf, Deutschland das Richtige zu tun. Immer. Aber als er das Mädchen, das er liebte, töten sollte, konnte er es nicht, also tat es ein anderer. Jemand, dessen Pflicht es wiederum war, Max, seine Familie und das Anwesen zu beschützen, und zwar nicht nur in der Zeit, die er hier gearbeitet hatte, sondern auch im Krieg, in den er mit ihm zu ziehen hatte. Gehorsam war für ihn selbstverständlich, Max’ Schutz hatte allerhöchste Priorität, daher –«

»Nein!«

Anna hatte damit gerechnet, aber als Ingrids Aufschrei die klare, frische Luft zerriss, sah sie sich alarmiert zu den Männern auf der Terrasse um. Sie alle hatten die Köpfe gewandt.

Wütend wandte sich Ingrid zum Gehen.

»Warte!« Anna gelang es, ihre Verwandte am Arm zu packen.

»Wieso sollte ich dir noch länger zuhören?«, knurrte Ingrid. Sie lief weiter und zog Anna mit. »Wie kannst du es wagen?«

»Stopp!«, flüsterte Anna und holte das kleine Kästchen aus ihrer Tasche.

Tatsächlich blieb Ingrid stehen und blickte auf den abgeschabten Samt. Ihre Augen, die eben noch in vermeintlich gerechtem Zorn gebrannt hatten, huschten nun umher, als suche sie Trost. Anna hätte wetten mögen, dass die andere gegen Tränen kämpfen musste.

»Das hier war ihr Verlobungsring. Max hatte ihn im Schloss versteckt. Kurz bevor er starb, hat er mich gebeten, ihn zu holen – nur aus diesem Grund hat er mich hierhergeschickt. Er hat Isabelles Verlust niemals verwunden, aber er hat nie mehr von ihr gesprochen, bis er vierundneunzig war.«

Ingrid streckte ihre manikürte Hand aus, nahm den Ring und betrachtete ihn eingehend.

»Und das soll ich dir glauben?« Die Bitterkeit war zurück. Sie reichte Anna den Ring und setzte sich wieder in Bewegung.

Anna ging ihr nach, bis sie am Rand der Terrasse standen.

Ingrid setzte an, zum Tisch zurückzukehren, wandte sich aber noch einmal zu Anna um. Ihre Stimme war nun kalt und glatt wie Stahl. »Ich habe mich entschieden. Man muss die Vergangenheit ruhen lassen. Danke, aber ich habe jetzt ein Meeting. Entschuldige mich.«

»Ingrid –«, versuchte Anna es erneut.

Doch die andere starrte sie bloß herausfordernd an.

Anna wandte sich an die Männer, die sie ansahen, als sei sie irgendeine verrückte … Verwandte. Nun. So war es wohl. »Entschuldigen Sie bitte den kleinen Zwischenfall.«

Dann warf sie Ingrid erneut einen Blick zu. »Ingrid, du hast mir gesagt, dass Familie nichts bedeutet. Nur die Arbeit zählt. Aber du hast noch Familie.«

»Sei nicht albern.«

»Nein. Du hast einen Halbbruder. Gabriel. Er lebt in Amsterdam. Er ist Hans Kramers Sohn, so wie du seine Tochter bist.«

Ingrid regte sich nicht.

Einer der Männer hüstelte.

»Und du hast mich«, fuhr Anna fort. »Und ich habe eigentlich auch niemanden außer dir, nun, da Max verstorben ist. Du und ich sind im Prinzip in einer ähnlichen Situation. Aber ich bin jetzt hier und … und möchte dich besser kennenlernen.«

Ingrid drehte sich zu den Geschäftsleuten um.

Einer erhob sich. »Entschuldigen Sie«, sagte er. Die anderen taten es ihm nach.

Doch Ingrid fuhr wieder zu Anna herum. »Erwartest du ernsthaft, dass ich dich und diesen Halbbruder als meine Familie akzeptiere? Jetzt noch?«

»Ja«, antwortete Anna schlicht. »Denn das sind wir.«

Die Männer verließen die Terrasse und steuerten auf einen Van zu, der auf der Auffahrt stand, wie Anna erst jetzt bemerkte. »Frau Hermann? Wir werden nun gehen«, sagte einer.

»Ich bin in einer Minute bei Ihnen«, murmelte Ingrid, aber sie waren schon an ihrem Wagen.

Anna trat behutsam einen Schritt auf ihre Verwandte zu. »Es ist hart, ich weiß«, sagte sie. »Du, ich, Max, Nadja. Ihre jüngeren Brüder getötet. Und dein Vater verstoßen, obwohl er ein Recht darauf hatte, bei euch zu sein.«

Ingrid schwieg noch immer.

»Aber eins bleibt, siehst du das nicht?«, fuhr Anna fort. »Schloss Siegel. Und du hast die Wahl. Du weißt, was richtig ist. Und ich bin bereit, dir zuzuarbeiten.«

Die ältere Frau stand steif und starr da.

Anna ließ nicht nach. »Du hast es bisher bewahrt, wie es war, und nicht zugelassen, dass es zerstört wird. Ich glaube, du hast abgewartet, aber das weißt du besser als ich. Jedenfalls hast du es nicht aufgegeben.«

Ingrid verschränkte die Arme vor der Brust und blickte hinaus in den Park.

In diesem Moment erschien die Sonne hinter einer Wolke, schickte ihre Wärme auf die Terrasse und Licht auf den See. Und Anna sah Partys vor sich, Boote, Sonnenschirme und Leute – eine Familie –, die hier draußen in der Sonne saßen und Kaffee tranken, während die Kinder durch den Garten zum Wasser liefen. Zu Geburtstagen, zu Weihnachten oder zu anderen Festen kamen Tanten zu Besuch, Cousinen oder Verwandte und Freunde aus Amerika oder Amsterdam oder wohin auch immer es sie verschlagen hatte, und das Haus am See war wieder voller Leben.

Das war ihr Traum.

»Du kannst das«, sagte Anna. »Und ich helfe dir dabei.«

»Aber wer soll hier wohnen?«, fragte Ingrid, und in ihren blauen Augen war ein Gefühl auszumachen, das Anna nicht definieren konnte. War es Anerkennung … der Familienbande?

»Das weiß ich nicht«, antwortete Anna. »Warten wir einfach ab. Wir stellen so gut es geht den ursprünglichen Zustand von Schloss Siegel wieder her und sehen, was geschieht.«

Ingrid blickte noch einen Moment aufs Wasser. Der lang gezogene Ruf eines Vogels ertönte.

Dann sanken die Schultern der älteren Frau hinab. Ihre Gesichtszüge entspannten sich. Und mit einem Mal war sie wunderschön.

»Wir hätten aber eine Mammutaufgabe vor uns«, sagte sie, ohne den Blick vom Wasser zu nehmen. »Und du hast selbst ein Geschäft in San Francisco.«

»Ich könnte mir hier im Schloss eine kleine Wohnung renovieren und die Arbeiten überwachen. Ich brauche ein neues Projekt. Mein Laden kann auch eine Weile ohne mich laufen.«

»Wir werden sehr vorsichtig vorgehen müssen. Das Schloss muss geschmackvoll restauriert werden.«

»Sehe ich auch so.«

»Na schön. Dann sollten wir uns wohl besser an die Arbeit machen«, sagte Ingrid.