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Hofmark Kaltenberg, Baiern,
Anfang September Anno Domini 1315

»Anna!« Die Stimme des Dorfschmieds überschlug sich vor Wut. Bier und halbzerkaute Bilsenkrautsamen spritzten von seinen Lippen, als er brüllte: »Du gehorchst, oder du wirst es bereuen!«

Seine Tochter Anna war aufgesprungen. Entschlossen raffte sie das knöchellange Wollkleid und warf die rote Lockenmähne zurück. Also deshalb hatte der Vater das Bierfass angezapft: um ihr die frohe Botschaft zu verkünden, dass er sie seinem Gesellen Kilian versprochen hatte! Mit zitternden Lippen, aber hoch aufgerichtet hielt das zarte Mädchen seinem Vater stand. Die Bundhaube, deren Bänder seitlich von den eiterverklebten Lidern herabfielen, ließ sein Gesicht noch grober erscheinen. Sie wusste, wie wuchtig seine abgearbeiteten Fäuste zuschlagen konnten. Das letzte Mal hatte sie drei Tage nicht arbeiten können.

»Darauf kannst du bis zum Jüngsten Gericht warten!« Ihr angeborener Hitzkopf brach sich Bahn, und sie schrie: »Ich bin deine Tochter, nicht deine Leibeigene!« Abrupt ließ sie ihn stehen und lief quer durch den einzigen Raum der Kate zum Ausgang. Gackernd brachten sich ein paar Hühner in Sicherheit. Dann war sie die hölzerne Treppe hinauf. Zorn oder der beißende Qualm des Herdfeuers hatten ihr Tränen in die Augen getrieben.

»Du wirst beim fahrenden Volk enden!«, dröhnte die Stimme des Vaters. »Hörst du? Auf den Märkten wirst du mit den Bratenfiedlern tanzen müssen. Schänden werden sie dich und dir schließlich in einer Seitengasse die Gurgel durchschneiden.« Wutentbrannt wollte er ihr nachlaufen, aber die tiefstehende Sonne blendete ihn. Er übersah einen Ast, den der Apfelbaum auf der Höhe seiner Stirn ausstreckte. Dumpf schlug er dagegen und fluchte: »Kruzifixhalleluja!«

Hinter ihm kam sein künftiger Schwiegersohn aus dem Haus. Mit seiner schwieligen Hand fuhr er sich über die Mundwinkel und wischte die Reste der Mehlsuppe am Kittel ab. »Die kann es ja kaum erwarten«, bemerkte er trocken.

Annas Bruder Martin schob den muskulösen Riesen beiseite und lief seiner Schwester nach. Trotz seiner langen Beine musste er sich anstrengen: Schnell wie ein Wiesel steuerte sie auf die Streuobstwiesen hinter der Burgsiedlung zu. Erst am Ende der langgezogenen Straße holte er sie ein.

»Vater macht sich Sorgen um dich«, redete Martin auf sie ein. »Nun komm zurück, du hast heute noch kaum etwas gegessen!«

Seine Worte erinnerten sie daran, dass es außer der Abendsuppe so gut wie keine Mahlzeit gab, die den Namen verdiente. Wieder bohrte der allgegenwärtige Hunger in ihrem Bauch.

»Du weißt, dass ich nicht ungehorsam bin«, sagte sie entschieden. »Als der Vater krank war, habe ich in der Schmiede geschuftet wie ein Mann.«

»Gehorsam würde ich dich aber auch nicht nennen«, lachte Martin. »Letztes Jahr, als wir den Wolf im Schafpferch hatten, bist du mit einem Schwert aus der Schmiede auf ihn los. Ein Mädchen mit einer Waffe, das ist vollkommen närrisch! Und erst letzte Woche hat dich die Mutter wieder bei den fahrenden Spielleuten erwischt.«

Ein Lächeln zuckte um Annas Lippen, als sie an die Gaukler mit ihren phantastischen Geschichten dachte: von fernen Ländern, großen Höfen und magischen Flüchen. Für ihre Mutter waren sie Strolche, aber Anna liebte es, ihnen zuzuhören. Bei den warmen Flötenklängen vergaß sie den Hunger und fühlte sich geborgen.

Martin legte den Arm um sie, und Anna genoss seine Wärme. Von Kindheit an – vielleicht seit fünfzehn Jahren, aber sie konnte ohnehin nicht zählen – war sie zu ihm gekommen, wenn sie etwas bedrückte. »Du sollst heiraten, nicht gehängt werden«, versuchte er sie zu trösten.

Anna stöhnte. »Ist da ein Unterschied?« Lebhaft sah sie zu ihrem Bruder auf. »Sibylle ist auch schon davongelaufen. Mit dem jüdischen Goldschmied, der im Sommer hier durchgereist ist. Und sie hatte recht. Eher tanze ich auf dem Marktplatz als nach der Pfeife von Kilian!«

Martin lachte laut. Die zarte Haut und das schmale Gesicht verliehen Anna etwas Zerbrechliches. Aber die entschlossenen Lippen und die starken, geschwungenen Brauen über den tiefblauen Augen verrieten, dass sie ihren Willen durchsetzen konnte. Mehr als ein junger Mann hatte schon erfahren müssen, dass Anna kräftig zuschlagen konnte, wenn man sie gegen ihren Willen anfasste. »Manchmal glaube ich, dass an dem Gerücht doch etwas dran ist«, grinste Martin. »Dass sich unsere Mutter von einem Gaukler ins Gebüsch zerren ließ, neun Monate bevor sie mit dir niederkam! Sei bloß vorsichtig: Du bist zehn Tage nach Vollmond geboren. Es heißt, so jemand hat ein unruhiges Leben vor sich. Kilian ist keine schlechte Partie!«

»Er hat gerade erst seine Zita unter die Erde gebracht«, erinnerte ihn Anna. »Jedes Jahr eine neue Schwangerschaft, und nicht einmal im Wochenbett konnte sie sich ausruhen! Er ist so einfühlsam wie ein Schinder und so leidenschaftlich wie eine leere Erbsenhülse.«

Das hatte er erst heute Mittag wieder bewiesen: »Eine anständige Frau stirbt mit fünfundzwanzig«, hatte er gesagt, »damit der Mann wieder heiraten kann.« Aber auf ihren Tod brauchte er nicht zu warten. Weil sie ihn gar nicht erst heiraten würde.

»Träum besser nicht von Liebesschwüren«, redete ihr Martin zu. »Der Vater behält einen guten Gesellen, und Kilian bekommt seinen Teil an der Schmiede. Die Ehe ist ein Geschäft, Kleines, nichts weiter.«

»Eben. Wie Hurerei.«

Ihr Bruder räusperte sich. »Er ist ein guter Schmied. Und wenn du ihm gehorchst, wird er dich auch nicht prügeln.«

Das versprach ja eine glückliche Zukunft, dachte Anna rebellisch. Insgeheim wünschte sie Kilian den Bauchfluss an den Hals. Die Vorstellung, wie er auf der Latrine mit dem Inhalt seines Darms kämpfte, verschaffte ihr ein wenig Genugtuung.

»Du weißt, warum Vater dich verheiraten will.« Ihr Bruder wies den bewaldeten Hügel hinauf, wo die Burgzinnen aus den Zweigen ragten. »Stimmt es, was die Leute reden?«, fragte er. »Über dich und Herrn Ulrich?«

Anna antwortete nicht, aber ihr Erröten verriet ihre Gefühle. Zweimal wöchentlich leistete ihr Vater seine Fronarbeit auf der Burg, und sie brachte ihm das Bier hinauf. Anfangs hatte sie Ulrich von Rohrbach, den jungen Burgherrn, nur von weitem gesehen, wenn er auf seinem Schimmel über den Hof trabte. Mit den anderen Mädchen hatte sie über sein gutes Aussehen getuschelt und nur heimlich von ihm geträumt. Bis vor wenigen Monaten …

»Heilige Maria!«, stieß Martin hervor. Er hob ihr Kinn an, so dass sie ihm ins Gesicht sehen musste. »Hat er dich mit Gewalt genommen?«

»Er hat nichts getan, was ich nicht gewollt hätte!«, erwiderte Anna heftig. »Was ich sonst von niemandem hier sagen kann!« Sie befreite sich. Dann dachte sie wieder an den letzten Maitanz und musste unwillkürlich lächeln. Die ganze Zeit schon hatte sie bemerkt, wie Ulrich sie vom Rand des Tanzbodens aus beobachtete. Erhitzt war sie irgendwann hinter die Wildrosensträucher am Dorfanger gelaufen. Und er war ihr gefolgt.

Er hatte ihre strengen Zöpfe gelöst und die Locken durch seine langen, schlanken Finger gleiten lassen. Hundertmal hatte man sie gewarnt, dass sie mit ihrer Unschuld auch ihre Ehre verspielte. Aber als er sie geküsst hatte, hatte Anna gespürt, dass er sich ebenso wenig wehren konnte wie sie. Der Duft der Wildrosen war ihr betäubender erschienen als je zuvor und die Rhythmen vom Anger erregender. Als er sich im weichen Gras über sie gebeugt hatte, hatte sie einfach die Augen geschlossen und es geschehen lassen. Ein kurzer Schmerz hatte sie leise aufschreien lassen, und sie hatte gewusst, dass es kein Zurück mehr gab. Ihr Gesicht glühte beim bloßen Gedanken an das, was er dann mit ihr getan hatte. Seitdem trafen sie sich, heimlich, verstohlen, leidenschaftlich, wann immer es ging.

»Gott hat es nun einmal so eingerichtet, dass es Herren und Diener gibt«, redete Martin auf sie ein. »Ein Ritter steht fast so weit über einer Bauernmagd wie der Kaiser über den Sterblichen. Was ihr treibt, ist Unzucht!«

Als ob sie das nicht wüsste! Jedes Mal, wenn sie diesen furchterregenden und zugleich vollkommenen Augenblicken des Glücks entgegensah, kostete der Weg zur Burg Anna ungeheuren Mut. Scham, Angst und das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, ließen sie davor zurückscheuen. Aber wenn sie dann bei ihm war, wenn sie sich küssten und sie seine unbeherrschte Erregung spürte, wollte sie nur noch eines: ihn festhalten und nie wieder aufgeben.

»Ich wünschte ja selbst, wir wären vom gleichen Stand und könnten heiraten«, erwiderte sie endlich. Heimlich träumte sie davon, sich nicht mehr verstecken zu müssen, wenn sie sich berühren wollten. Selbst die erbärmlichste Kate wäre ihr gut genug gewesen, wenn sie dort offen mit Ulrich hätte leben können. Aber dass ein Ritter eine Bauernmagd heiratete, dazu brauchte es mehr als ein Wunder.

Martin nahm sie bei den Schultern. »Jeder Ritter hat seine Liebschaften. Ihm wird niemand einen Vorwurf machen. Aber an dir wird es hängenbleiben. Zum Teufel, Anna, denk doch an die Zukunft! Wenn du erst einmal als Hure gebrandmarkt bist, bist du so gut wie rechtlos!«

Tausendmal hatte sie sich mit diesem Gedanken gequält. Natürlich hatte sie Angst. Wer sich selbst aus der Herde des Herrn ausschloss, konnte auch keine Hilfe erwarten, das predigte der Pfarrer fast jeden Sonntag. Anna sah ihren Bruder ernst an. »Ich will euch keine Schande machen. Aber ich kann nicht anders.«

Er seufzte verzweifelt. »Lass mich mit den Eltern reden! Vielleicht muss es ja nicht gerade Kilian sein. Aber mach dir keine großen Hoffnungen – heiraten wirst du müssen. Und jetzt komm«, sagte er liebevoll. »Um diese Zeit sollte man im Haus sein.«

»Lass mich noch einen Augenblick allein.« Er zögerte, und Anna umarmte ihn. »Ich komme ja gleich.«

Sie sah ihm nach, wie er zum Dorf zurücklief. Wenn jemand ihre Eltern besänftigen konnte, dann er. Langsam trat sie zwischen den hagelgeschlagenen Obstbäumen hinaus auf die Wiese. Hinter ihr erhoben sich der Burgberg und die Siedlung, unterhalb davon floss die Paar. Zum Ammersee hin durchbrachen moorige Schilflandschaften mit kleinen Burgen die Wälder, und bei schönem Wetter sah man am Horizont die Berge. Die meisten Menschen hatten Angst vor der Dämmerung, aber sie hatte sich hier schon immer sicher gefühlt. Mit diesem Ort war sie verbunden. Was immer geschah, hier würde sie sich beschützt fühlen.

Sie musste an den alten Raunachtbrauch denken: Wenn ein Mädchen zur Wintersonnwende einen Baum umarmte, verriet das nächste Hundegebell die Richtung, aus der ihr zukünftiger Ehemann kommen würde. Anna beschloss, dass sie nicht die Zeit hatte, bis Sonnwend zu warten. Mit beiden Händen umfasste sie den knorrigen Stamm.

Die Schafe des alten Hauser blökten in ihrem Pferch am Ende der Dorfstraße. Von den ersten gepflügten Feldern wehte der Geruch der feuchten Schollen herüber und mischte sich mit dem süßlichen Aroma faulender Holzäpfel. Die Kälte kroch ihre nackten Füße hinauf. Ungeduldig rieb sie das Gesicht an ihrem Ärmel. Da hörte sie den Hund.

Es war ein kurzes, wütendes Bellen. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Der Hund gab wieder Laut. Sie hatte sich nicht getäuscht: Es kam vom Hügel herab – aus der Richtung der Burg!

Annas Herz schlug schneller. Ein weiterer Hund bellte. Irgendwo donnerte leiser Hufschlag. Nun hörte sie auch das tiefe Organ des schwarzen Schäferhundes vom Herrenhof. Wachsam öffnete sie die Augen und sah zurück zum Dorf.

Von überall her bellten nun Hunde. Hufschlag näherte sich, aber es war nicht nur ein Pferd, wie sie zuerst dachte. Es mussten mehr als zwanzig sein. Heisere Rufe aus Männerkehlen, das Klatschen einer Peitsche. Dort, wo die Straße nach Landsberg abzweigte, brachen Reiter aus dem Wald. Etwas flog zischend auf das Strohdach der ersten Kate. Eine Stichflamme loderte auf – es war ein brennender Pfeil!

Die Österreicher!, fuhr es Anna durch den Kopf. Gott steh uns bei!

Seit Tagen belagerten österreichische und schwäbische Ritter die Stadt Landsberg. Wenn sie ausschwärmten, konnte das nur eins bedeuten: Landsberg war gefallen, und nun plünderten die Sieger die umliegenden Dörfer – schon allein um zu dem Sold zu kommen, den ihnen ihre Herren nach der schlechten Ernte dieses Jahr wohl kaum zahlen konnten. Und Martin würde ihnen direkt entgegenlaufen!

Anna raffte die Röcke und sprang über den Zaun, der die Burgsiedlung begrenzte. Ein Holunderzweig streifte ihren Nacken, wie gelähmt blieb sie unter dem Strauch stehen. Erst jetzt fiel ihr ein, was ihr Bruder ihr von Kindheit an eingeschärft hatte: dass bei einer Plünderung die Wälder der einzig sichere Ort waren.

»Martin!«, schrie sie verzweifelt. Sie wollte ihm nach, aber im selben Moment duckte sie sich in nackter Angst wieder unter den Busch.

Dort, wo sie vorhin gelaufen waren, sprengten Ritter auf riesigen Pferden heran. Blutspuren und Schlamm zogen sich über die langen Waffenröcke, Rüstungen glänzten schemenhaft im Rauch. Einer donnerte so nahe an ihr vorbei, dass sein langes Hemd sie streifte. Die enge Straße entlang ritten sie alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Brennende Pfeile flogen durch die Luft, überall stank es nach Qualm. In Panik flohen die Menschen ziellos durcheinander. Einige liefen auf den Waldrand zu. Annas Finger krampften sich um einen Zweig, als einer der Schatten, von einer Armbrust getroffen, zu Boden stürzte. Kinder schrien nach ihren Eltern, in den Ställen brüllte Vieh. Verängstigt blickte sie die Straße hinab zu ihrem Elternhaus. Das feuchte Flechtwerk der Wände schwelte bereits. Eine Flamme leckte am tiefhängenden Strohdach, auf einmal loderte es auf. Funken wurden vom Wind weitergetragen, und alles in ihr zog sich zusammen. Die Bäckerei, die Töpferei, selbst aus den ärmlichen Hütten der Kleinbauern am Dorfrand stieg schwarzer Rauch.

Einer war vom Pferd gesprungen und riss die Tochter des Baders zu Boden. Verzweifelt wehrte sich Mechthild, doch der Mann hielt sie unbarmherzig fest. Rücksichtslos drückte er ihr Gesicht in den Schlamm. Er zerrte an seinen blutverschmierten, zerrissenen Kleidern und riss ihr mitten auf der Straße die Cotte hoch. Anna schlug die Hände vors Gesicht, sah doch wieder hin: Das Jüngste der Waltners lief weinend über die Straße und fiel am Wegrand hin, beinahe wäre es niedergeritten worden. Ein junger Mann wurde mit einem Schwerthieb zur Seite geschleudert. Anna würgte, als sie unter der blutüberströmten Fratze Benedikt erkannte. Er hatte nach Erntedank heiraten wollen.

Unruhig flackerten die Bilder des Grauens vor ihren Augen. Überall lagen Tote und Tierkadaver, die sie nur noch als dunkle Erhebungen wahrnahm. Der süßliche Geruch nach Blut, der Qualm, alles war auf einmal unwirklich. Während die einen die Frauen schändeten, trieben andere das Vieh weg oder schlugen ihm mit den Schwertern einfach das Genick durch. Schweine liefen in Panik die Straße entlang, ihre kreischenden Laute klangen erschreckend menschlich. Blutiger Schlamm und Kot spritzten auf sie, als die Reiter ihre Pferde anhielten. Die Knechte begannen, die ersten Leichen auszuziehen und Kleider und Habseligkeiten an sich zu nehmen. Panik lähmte Anna. Wie durch ein Wunder hatte noch niemand sie bemerkt. Doch das war nur eine Frage der Zeit.

Das scharfe Knacken von Zweigen riss sie aus ihrer Starre. Die kleinen Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Langsam wandte sie den Kopf.

Sie sah in ein schweißglänzendes Gesicht mit grau durchsetztem Bart. Tückische kleine Augen glitten an ihr herab, der fleischige Mund verzog sich zu einem Grinsen und entblößte verfaulte Zahnstümpfe. Der fremde Ritter packte sie und zerrte sie aus ihrem Versteck. Anna hob die Arme. Sie ließ sich fallen, um sich dem Griff zu entwinden, doch er packte sie erneut. Der Mann zog sie zu sich heran, der Geruch nach Wein und Knoblauch schlug ihr entgegen. Verzweifelt versuchte sie sich zu wehren. Warum war sie nur zur Siedlung zurückgelaufen!

Der Mann stieß sie brutal zu Boden und griff unter seinen Waffenrock. Panisch warf sie sich herum, schlug und trat nach ihm. Doch alles, was sie damit erreichte, war ein unwilliges Knurren. Er versetzte ihr eine Ohrfeige. Sie betastete den schmerzenden Nacken. Ihre Wange war heiß und schwoll an, sie schmeckte Blut. Der Fremde beugte sich über sie, und sie spuckte ihm ins Gesicht.

Ein kräftiger Arm hielt ihn fest, jemand schlug ihm einen Stock ins Genick. Der Ritter taumelte.

»Martin!«, stieß Anna hervor.

»Lauf!«, schrie er. Anna kam auf die Füße. Sie wollte nach seiner Hand greifen, doch er schüttelte sie ab. »Verschwinde!«

Der Ritter hatte die Überraschung überwunden. Er hob das Schwert. Martin sah Anna in die Augen.

Um nichts in der Welt wollte sie ohne ihn gehen. Aber es lag etwas in seinem Blick, das keinen Widerspruch zuließ. Anna hetzte über die Straße. Das Ochsengespann des Tanners hatte sich losgerissen und hätte sie beinahe überrannt. Panisch donnerte eine Viehherde heran. Über die Körper der Tiere hinweg sah sie, wie Martin auf der anderen Straßenseite seinen Stock hob. Der Ritter grinste breit. Offenbar gefiel ihm der Mut des kräftigen jungen Schmieds. Er wehrte den Schlag mit Leichtigkeit ab und hob den Anderthalbhänder.

Anna wollte schreien, doch nur ein ersticktes Krächzen kam über ihre kalten Lippen. Sie hörte den dumpfen Aufprall des Schwerts, das knirschende Geräusch, als die Knochen brachen, das gurgelnde Hervorschießen des Blutes. Wie gelähmt starrte sie hinüber. Die breiten Rücken der durchgehenden Rinder waren plötzlich blutig, ließen sie nur bruchstückweise sehen, was geschehen war: Der Ritter hatte Martin buchstäblich in zwei Teile zerschlagen.

Anna hörte sich schreien. Brennender Hass überwältigte sie, erstickte jedes andere Gefühl, für einen Moment selbst den Schmerz.

Lauf!, drängte Martins Stimme in ihrem Inneren. Auf einmal waren ihre Gedanken so klar, dass es sie erschreckte. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Mit wild schlagendem Herzen schloss sie die Augen. Dann sprang sie mitten in die rasende Herde auf die Straße.

Dornen zerrten an ihrem Kleid, sie befreite sich und rannte weiter. Sie spürte den starken Rindergeruch, der zerstampfte Boden zitterte unter den Hufen. Das Auf und Ab der gescheckten Leiber nahm ihr die Sicht, sie rannte blindlings mit, versuchte nur auf den Beinen zu bleiben. Mit ungelenken Sprüngen galoppierten die schweren Tiere an ihr vorbei. Wie durch ein Wunder war sie nicht niedergetrampelt worden. Ohne sich umzusehen, hetzte sie die steile Straße hinauf – in Richtung des einzigen Ortes, wo sie vielleicht sicher war. Wenn sie die letzten hundert Schritte dort hinauf überlebte.

Rechts von ihr ragte der Umriss des Bergfrieds zwischen den Bäumen hervor. Anna stolperte, mit pfeifendem Atem kämpfte sie um ihr Gleichgewicht. Sie hatte die Burg fast erreicht, da hörte sie Hufschlag hinter sich. Mit fliegendem Atem fuhr sie herum.

Ein Ritter auf einem Rappen hatte sie erreicht. Mit einer Hand stemmte er die gespannte Armbrust aufs Knie. Er beherrschte das unruhige Pferd sicher mit der Kraft seiner Schenkel. Der Wind zerrte an dem schwarzen Waffenrock und meißelte den schlanken Körper heraus. Zwei oder drei Knechte, die ihm gefolgt waren, wichen vor seiner bloßen Handbewegung scheu zurück. Die Augen hinter dem Visier trafen ihre.

Plötzlich nahm er den Helm ab. Mit einer heftigen Bewegung schüttelte er schulterlange schwarze Locken aus dem Gesicht, die schweißfeucht auf seiner Stirn klebten. Und in diesem Augenblick prägte sich Anna sein Gesicht unlöschbar ein.

Die ausdrucksstarken Lippen unter dem ausrasierten Vollbart, die scharfen Falten um seine Nase verrieten Anspannung – oder mühsam beherrschtes Entsetzen? Die nachtdunklen Augen des jungen Ritters sahen sie an. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihm dieser eine Blick schon alles über sie verraten, was es zu sagen gab.

»Komm her!«, befahl er. Seine melodische, von einem dunklen Akzent gefärbte Stimme fesselte Anna wider Willen. Da bemerkte sie das Blut an seinen Handschuhen. Er hielt die Armbrust erhoben, so dass er jederzeit schießen konnte. Erst jetzt begriff sie: Er war nicht hier, um ihr zu helfen. Er war einer der Plünderer!

Anna zitterte vor Hass. Sein ritterliches Äußeres war nichts als Blendwerk. Er würde sie schänden und dann töten, und niemand würde sich darum kümmern – im Gegenteil, er würde damit noch vor seinen Männern prahlen. Das Gefühl der völligen Hilflosigkeit war unerträglich.

»Fahrt zur Hölle!«, kreischte sie. Halb verrückt vor Angst hörte sie sich schreien: »Ihr sollt verdammt sein für das, was Ihr tut!«

Die Worte klangen fremd in ihren Ohren. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie selbst sie ausgesprochen hatte. Eiskalte Schauer jagten über ihre schweißüberströmte Haut.

Der schwarzhaarige Ritter hatte überrascht die Waffe sinken lassen. Anna hielt sich nicht mit der Frage auf, warum er nicht schoss. Sie begann zu rennen.

Er rief etwas, sie hörte nicht hin. Die an Seilen aufgehängte Brücke zur Burg war bereits für die Verteidiger heruntergelassen. Anna erwartete, das Zischen des Armbrustbolzens zu hören, dann den tödlichen Schmerz im Rücken. Nichts geschah.

Sie hetzte über die Zugbrücke, ihre Schritte klangen hohl auf den Holzbrettern. Dumpf prallte ihr Körper gegen das Tor. Sie spürte kaum noch, wie ein Splitter ihre Wange aufriss und salzige Tränen darin brannten. Mit den Fäusten hämmerte sie gegen das schwere Eichenholz.