Anna ahnte nicht, dass ihr Todfeind nur wenige Meilen entfernt war. Auf Kaltenberg hatte man andere Sorgen, denn in derselben Nacht trat die Paar am Fuße des Burgbergs über die Ufer. Ein langgezogener, flacher See bedeckte die Krautfelder der Allmende, dessen Oberfläche ein schneidend kalter Wind kräuselte. Im Wald glänzte Wasser zwischen den Stämmen und drohte auch das Holz zu verderben, das man zum Heizen brauchte. Die Dorfleute versammelten sich zu einer Flurprozession und bewegten sich langsam in Richtung eines frei stehenden Baumes. Der Winter nahte, und niemand wusste, ob die plündernden Truppen wiederkommen würden. Nur noch Gott konnte ihnen helfen.
Der Gesang der ungeübten Stimmen drang verzerrt zur Burg herauf und mischte sich mit dem des Spielmanns Falconet in der Küche. Auch er sang gegen den Hunger, allerdings waren seine Aussichten besser: Vom Tisch des Burgherrn fiel meistens genug für ihn ab. Diesen Winter hätte er es schlechter treffen können. Kaltenberg war zwar klein, aber es fehlte an nichts.
Sein Magen knurrte bereits vernehmlich, als Anna ein Leintuch voller Äpfel für den Koch brachte. Sie rieb sich die Augen, denn die qualmdurchwölkte Küche mit dem gemauerten Herd war düster – selbst auf den Rauchabzug in der Decke fiel noch der Schatten des Bergfrieds. Doch die verheißungsvollen Düfte nach saurer Lunge mit Semmelknödeln machten den Eindruck wett. Noch immer war sie dankbar für jede sichere Mahlzeit. Erwartungsvoll jaulend hatten sich die Hunde bei dem Spielmann niedergelassen, während er ein fröhliches Liedchen auf seiner Flöte pfiff. An seinem Mi-parti, dem Gewand mit der roten und der grünen Seite, baumelten Glöckchen, die er im Takt klingeln ließ. Er war nicht so jung, wie Anna zuerst gedacht hatte, sicher hatte er die vierzig überschritten. Mit einem Auge zwinkerte er ihr zu, und sie musste lachen. Nur der Koch, dem das alles galt, machte keine Anstalten, wie gewünscht zu handeln, sondern beugte sich über den gewaltigen Kupferkessel mit dem Gesindemahl. Auch der Küchenjunge, der den Spieß mit der Schweinshaxe für die Herrschaft drehte, beachtete Falconet nur heimlich.
»Du verschwendest deine Kunst«, zog Anna den Gaukler auf. Sie war so glücklich wie seit Tagen nicht mehr. Immer wieder musste sie verstohlen ein Lächeln verbergen. Die halbe Nacht hatte sie mit Ulrich verbracht. Ehe sie ins Gesindehaus zurückgekehrt war, hatte sie zärtlich seinen muskulösen Körper gestreichelt und einfach nur das Gefühl genossen, dass er ihr gehörte.
Sie leerte ihr Tuch in eine Holzschale. Die Äpfel rollten hinein, und der aromatische Duft, den sie so liebte, breitete sich aus. »Das Pfeifen wird dich nicht satt machen.«
Falconet ließ die Flöte sinken. »Ich wette meine Kleider, dass ich etwas vom Braten abbekomme.« Er griff neben sich und legte die Laute auf seinen Schoß. »Wirst sehen! Das war noch gar nichts.«
Anna warf einen Blick zu dem dicken Koch, der ungerührt das Gesindeessen abschmeckte. Seine fetten Wangen verzogen sich, als er grinste. Er würde sich nichts abschwatzen lassen. »Und wenn ich dagegenhalte?«, forderte sie ihn heraus.
»Setzt du auch deine Kleider?« Falconet grinste, und sie wurde rot. Die unbescholtene Schmiedetochter in Anna wollte das Weite suchen. Neugierig setzte sie sich dann doch zu ihm. Vermutlich hatte er seine Kleider irgendwo gestohlen, dachte sie, sie waren viel zu gut für einen Spielmann. Aber wenn er so unvorsichtig damit umging, würde er bald nackt wie Adam auf der Straße stehen. »Nur mein Wort«, erwiderte sie. »Mehr habe ich nicht zu verwetten.«
Er musterte sie frech. »Nicht einmal einen Kuss?«
Anna wollte aufstehen, doch er hielt sie fest. »Schon gut, schon gut. Also meine Kleider gegen nichts. Aber nur, weil du so ein nettes Mädchen bist.«
Sie ließ sich wieder nieder und griff neugierig nach dem Buch, das neben ihm lag. Sie konnte nicht lesen, aber sie sah, dass eine ungeübte Hand es geschrieben hatte.
»Das ist mein Spielmannsbuch«, erklärte er – so hastig, dass Anna neugierig wurde. »Nur meine Carmina stehen drin – meine Lieder.«
Ein zusammengefaltetes Stück Pergament lag lose darin, und sie klappte es auf.
Gebannt starrte Anna das Bild an. Es zeigte eine Herrscherin mit Mantel und Krone in einem rot ausgemalten Rad. Es fiel Anna schwer, dem starren Blick der gemalten Augen standzuhalten. Die Speichen des Rades hoben einen Mann hoch. Oben in dem blau und gelb ausgemalten Kreuz war er König über eine Stadt, dann wurde er in den Staub geworfen und unter den Füßen der Frau zertreten. Obwohl die Linien der Zeichnung einfach waren, beeindruckte sie Anna. Sie sah sofort, dass dieses Bild nicht von demjenigen gemalt war, der die Texte in das Buch gekritzelt hatte.
»Das Schicksalsrad«, sagte Falconet unwillkürlich. »Es beherrscht alles. Wenn es sich dreht, wirft es selbst Könige in den Staub.«
»Was steht daneben? Kannst du mir beibringen, das zu lesen?«
Er rutschte auf dem Boden herum. Schließlich nahm er es ihr aus der Hand. »Natürlich kann ich, aber nicht jetzt«, sagte er widerwillig. Sie hatte das Gefühl, dass es nicht nur das war. Doch der Spielmann war offenbar nicht bereit, länger über das Buch zu sprechen. Er wies in die dunkle Ecke, wo eine bauchige Flasche lag und sich Ratten und Mäuse quiekend an den Abfällen gütlich taten. »Unsere Wette. Reich mir mal den Schnaps, wenn ich durstig bin, bringe ich nichts zustande.«
Anna gab ihm die Flasche herüber. Woher er den Fusel hatte, wollte sie lieber gar nicht wissen. Falconet entkorkte die Flasche geräuschvoll, und ein scharfer Geruch nach Birne stieg auf. Er nahm einen tiefen Schluck, rülpste und griff in die Saiten. Anna hatte die warmen, sinnlichen Klänge erwartet, die sie an der Laute liebte. Stattdessen entlockte er dem Instrument einen volltönenden Akkord.
»Estuans interius ira vehementi,
in amaritudine loquor mee menti …«
Sie verstand kein Wort, trotzdem prickelte es in ihr. Falconets Finger flogen über die Saiten. Der Rhythmus riss sie unaufhaltsam mit. Diese Musik hatte nichts mit den frommen Chorälen der Mönche zu tun, die sie schon gehört hatte, auch nicht mit den einfachen Liedern der Bauern. Sie atmete eine unbeherrschte Lust am Leben – wie die, welche sie in Ulrichs Arme trieb. Sie lebte – jetzt!
Falconet unterbrach sich plötzlich. Anna wurde aus ihren Träumen gerissen und blinzelte überrascht. Der Gaukler schielte nach dem Koch, doch der rührte weiter unbeeindruckt in dem Kessel mit der Lunge.
»Gewöhnlich fallen die Vögel tot von den Bäumen, wenn ich das singe«, bemerkte Falconet beleidigt. »Der Kerl hat einfach kein Vagantenblut. Aber dir hat es gefallen, was?«
Zum ersten Mal seit der Plünderung konnte Anna wieder lachen. »Mit dem fahrenden Volk habe ich auch nichts zu schaffen!«
Er musterte sie aus seinen flinken Augen. »Aber du hast es gespürt, was? Ein Rhythmus wie die Fleischeslust! Hast du noch nie das Gefühl gehabt, dass Musik deine Gefühle besser ausdrückt als Worte?«
Annas Lachen verstummte. Sie wollte nichts mit einem Gaukler gemeinsam haben. Immer wenn sie zu den Spielleuten lief, musste sie sich nachher anhören, sie würde noch einmal auf der Straße enden.
»Du hast es«, sagte er, ohne eine Antwort abzuwarten. »Schau nicht so wütend! Das ist eine Gabe, kein Fluch.«
»Eine Gabe«, erwiderte sie unwirsch. »Zuhören, wie du an den Töpfen der Reichen bettelst?«
Falconet musste lachen. »Meinetwegen, es geht auch um den Braten. Aber selbst der erbärmlichste Possenreißer kann Menschen ihr Elend vergessen lassen. Oft sehe ich in die Gesichter der Leute, die mir zuhören. Ich weiß, dass ihre Herren sie prügeln und schänden, und wenn es die Herren nicht tun, dann ein fehdelüsterner Ritter von einer benachbarten Burg. Und ich sehe, wie sie bei meinen Carmina lachen und weinen, wie sie fühlen, was sie sonst weit von sich wegschieben müssen. Das ist ein gutes Gefühl. Bei mir sind sie die Könige.«
Anna hatte ihm gebannt zugehört. Wider Willen riss sie sich aus der Verzauberung. »Du bist mir deine Kleider schuldig!«, wechselte sie das Thema.
»Abwarten.« Falconet lachte, dann runzelte er die Stirn. »Der Bursche ist eine harte Nuss, aber noch gebe ich mich nicht geschlagen!«
»Da bin ich neugierig!« Anna winkelte die Beine an. Die Cotte fiel lang darüber, und sie legte die Arme darum.
Falconet schlug seine Laute an und entlockte ihr einen tief schwingenden Akkord. Es klang geheimnisvoll, und Anna richtete sich ein wenig auf. Er begann zu singen, doch jetzt leise: »Auf der Waage meines Herzens streiten Zweifel: laszive Begierde und Keuschheit …«
Die Melodie war einfach, wie Anna es liebte. Langsam neigte sie sich nach vorne. Das Fuchsgesicht des Gauklers hatte den gewohnten spöttischen Ausdruck verloren. Es war, als könnte er ihre innersten Gedanken lesen. Unwillkürlich schloss sie die Augen. Sie dachte an die Burgkapelle, wo sie aus Angst, für ihre verbotene Leidenschaft bestraft zu werden, auf Knien die heilige Maria Magdalena anrief. Und dann an das Bärenfell im Rittersaal, in dem noch der wilde Geruch des Waldes hing, wo Ulrich und sie nicht Ritter und Magd waren, sondern Mann und Frau. Dieses Lied beschrieb ihre verborgensten Gefühle, über die sie sich selbst nicht einmal im Klaren gewesen war.
»Aber ich wähle, was ich sehe …« Falconets Stimme wurde leise und nahm sich fast völlig zurück. Reglos, als könnte die kleinste Bewegung diesen Zauber zerstören, hörte sie zu. Die Melodie war nun so verführerisch, dass sie am liebsten geweint hätte.
»… und beuge den Nacken unter das Joch – das süße, süße Joch …«
Anna schlug die Hand vor die geöffneten Lippen. Die Musik war längst verstummt, als sie endlich die Augen öffnete.
Der Koch wischte sich mit der fettverschmierten Hand verstohlen über Augen und Nase. Dann griff er nach seinem Fleischermesser, säbelte ein Stück von der Haxe ab und warf es dem Gaukler zu. Falconet fing es mit einer Verbeugung auf. Knirschend biss er in die Fettkruste, während Anna ihn ungläubig anstarrte.
Der helle Lichtstreifen von draußen verdunkelte sich. Sie hatte das Gefühl, jeder könnte Ulrichs besitzergreifende Küsse auf ihrer Haut sehen, als wären es Brandmale. Wie bei etwas Verbotenem überrascht sah sie auf. Im Eingang stand Jutha.
»Wieder einmal beim Spielmann«, bemerkte die Herrin. Wie üblich sprach sie undeutlich, behindert durch die strenge Kinnbinde. Mit hochgezogenen Brauen bemerkte sie die neue Borte am Saum von Annas Cotte: Ulrich hatte sie seiner Geliebten geschenkt. »Und Zeit, dich wie eine fahrende Musikantin herauszuputzen, hast du auch. Das Holz ist schon wieder nicht ordentlich geschichtet, und im Palas fehlen Kienspäne. Wenn du hier nicht arbeitest und nur Männer im Kopf hast, kann ich dich auch hinauswerfen.«
Anna hätte einiges darum gegeben, ihr sagen zu dürfen, was sie dachte: Sollte Jutha sie doch für eine Hure halten! Für sie war nur eines Hurerei, nämlich einem Mann zu gehören, ohne ihn zu lieben. Auch wenn es der eigene Ehemann war. Sie war klug genug, ihre Herrin nicht zu reizen, aber gängeln lassen würde sie sich auch nicht. Ruhig erwiderte sie: »Ich habe die Äpfel gebracht und den Spielmann nach einer Arznei gefragt. Gertraut hat doch diesen Ausschlag.«
Sie erntete einen dankbaren Blick von Falconet. Wie gerufen kam Gertraut mit Trockenobst und Eiern herein.
Misstrauisch überzeugte sich Jutha, dass die Haut der Alten wirklich wund war. »Gut, lass den Spielmann das ansehen«, befahl sie. »Und du, komm mit!«, rief sie Anna nach, die mit den Küchenabfällen hinausging. Sie folgte ihr ins Freie. »Ich muss nach den Vorräten sehen, wir bekommen einen Gast. Er steht im Dienst des Grafen von Tirol, da will Ulrich einiges auffahren. Dafür, dass er nur ein kleiner Ministeriale ist, will mein teurer Gemahl hoch hinaus.«
Anna kippte die Abfälle auf den Misthaufen, und sofort begannen die Schweine darin zu wühlen. Wachsam betrachtete sie die Herrin. Es sah Jutha nicht ähnlich, vor einer Magd über ihren Mann zu sprechen, schon gar nicht mit ihr.
Ein unverhohlener Triumph flog über Juthas spitzes Wachtelgesicht. »Ulrich wartet nur darauf, Kaltenberg zu verlassen und nach München zu gehen.« Ihr abfälliger Blick blieb an Annas bloßen Füßen hängen. »Dann wird hier ein anderer Wind wehen. Ich«, betonte sie spitz, »werde ihn nicht vermissen. Ich nicht.«