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Anna hatte nie daran gedacht, dass Ulrich Kaltenberg verlassen könnte. Sie hatte die Drohung ihrer Herrin verstanden, und sie machte ihr Angst. Jutha würde sie hinauswerfen, noch ehe er richtig zum Tor hinaus war, daran hatte sie keinen Zweifel gelassen. Und eine Frau, das behauptete wenigstens ihr Vater, überlebte nicht lange auf der Straße.

Ohne sich darum zu scheren, dass der fremde Ritter Anna suchte, schickte die Burgherrin sie zur Mühle, um das bestellte Mehl abzuholen. Es war ein gutes Stück die Paar abwärts, und immer wieder sah sich Anna besorgt nach dem schwarzen Pferd um. Sie war froh, endlich im Schutz des vorspringenden Dachs zu stehen. Wie immer traf sich die halbe Burgsiedlung dort, auch aus den Nachbardörfern kamen die Leute.

Bei ihrem Anblick verstummten die Gespräche. Der Müller schüttete seinen Roggen in den Trichter, ohne sie zu begrüßen. Nur das rhythmische Klappern des Mühlrads durchbrach die Stille, und sie spürte die Blicke wie Wespenstiche. Eigentlich hatten die Frauen andere Sorgen als Klatsch: Ihre Männer waren tot oder davongelaufen, ihnen blieben nur die Bankerte und Hautkrankheiten der Plünderer. Eine meinte sogar verständnisvoll , gegen die Liebe sei kein Kraut gewachsen. Aber die Männer grinsten und begafften Anna wie eine Kuh, die zum Verkauf stand. Und die alte Allgeierin zischte, man solle sie verbrennen. Anna hatte das Gefühl, sie hätte es ihr weniger übelgenommen, wenn sie den Burgherrn umgebracht hätte, als dass sie ihm ihre Unschuld geschenkt hatte.

Den ganzen Rückweg überlegte sie fieberhaft, was sie tun sollte. Die letzten Tage war sie einfach nur froh gewesen, bei Ulrich zu sein, und hatte den Gedanken an die Zukunft weit von sich geschoben. Aber Martin hatte sie gewarnt: Niemand würde schlecht über den Herrn reden, an ihr würde alles hängenbleiben. Sie musste dringend zur Beichte. Es würde der Herrin schwerer fallen, sie für eine Sünde hinauszuwerfen, die ein Geistlicher bereits vergeben hatte.

Jutha war nicht zu sehen, als sie in den Hof trat. Anna brachte das Mehl in die Küche und lief zur Kapelle, die sich hoch über dem Burggraben an die Mauer schmiegte. Es kostete sie Überwindung, aber dann gestand sie alles Vater Maurus. Der Burgkaplan war nachsichtiger als Paulus, der Dorfpfarrer – Paulus hätte ihr keine Absolution erteilt, und das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Trotzdem konnte sie nicht bereuen, Ulrich zu lieben. Selbst wenn es sie das Seelenheil kostete.

»Ich weiß, dass es Sünde ist«, schloss sie ihre Beichte. »Aber ich habe keine Wahl. Ich liebe ihn. Und ich habe doch nur noch ihn.« Ihre Knie schmerzten auf der harten Kirchenbank. Erkalteter Weihrauch hing in der Luft, und sie fror.

Vater Maurus’ hageres Priesterantlitz blieb überraschend mild. Er las ihr zwar die Leviten, gab aber schließlich resigniert zu, dass ihre Sünde nur allzu verbreitet war. Eine Frau brauchte einen Beschützer, das wusste er genauso gut wie jedermann. So ließ er sie zur Buße mit Anrufungen der heiligen Afra – der Schutzpatronin reuiger Freudenmädchen – davonkommen.

Als Anna sich von den Knien erhob, fühlte sie sich unendlich befreit. Es tat gut, endlich mit jemand darüber sprechen zu können. »Vater«, sagte sie, als sie schon in der Tür stand. »Mein Bruder starb ohne Absolution. Glaubt Ihr, dass Gott ihm vergibt?«

Maurus, der schon wieder vor dem Altar seine Blumen richtete, blickte auf. »Das Letzte, was er auf dieser Welt tat, war, dein Leben zu retten. Gott wird die Liebe höher rechnen als seine wenigen Sünden.«

Anna nickte. Doch sie lief noch einmal zurück und küsste seine Hand. Als sie aufstand, hatte sie Tränen in den Augen, aber sie lächelte.

Sie wusste, dass sie sich in Zukunft besser von Ulrich fernhalten sollte. Als sie ihm jedoch auf dem Hof begegnete, streichelte er im Vorbeigehen ihre Finger und flüsterte: »Komm zu mir, nach der Komplet!«

Die heilige Afra hätte der Versuchung widerstanden, aber Anna war keine Heilige. Sie vergaß ihre Sorgen, als Ulrich sie im Rittersaal mit wilden Küssen bedeckte.

»Im Winter gehe ich nach München«, bestätigte er ihre Befürchtung, als sie später nebeneinander auf dem Bärenfell lagen. Er blickte auf den gewebten Wandteppich, der eine glanzvolle Jagdszene zeigte. »Wenn die Zeiten besser sind, wird König Ludwig auch wieder Turniere ausrichten. Dann kann ich ihm zeigen, wozu ich fähig bin. Es heißt, er hat aus dem kleinen Städtchen eine richtige Residenz gemacht.«

»Davon hast du mir nichts gesagt.« Anna bemühte sich, ihn ihre Enttäuschung nicht spüren zu lassen. Sie hatte es so genossen, bei ihm zu sein, dass der Gedanke, er könnte sie verlassen, unerträglich war. Wieder musste sie an Juthas Worte denken. Sie richtete sich auf, und das offene Haar kitzelte ihren Rücken. »Kann ich nicht mit dir gehen?«

»Führe mich nicht in Versuchung!« Ulrichs Finger spielten mit einer Strähne, und er zog sie zu sich herab. Anna dachte an ihre Beichte, aber sie konnte nicht anders. Zärtlich vergrub sie die Hände in seinem blonden Haar und küsste ihn.

»Wer weiß«, flüsterte er.

Anna war so erleichtert, dass sie selbst als seine Trosshure mitgegangen wäre. Als sie das Zittern seiner muskulösen Schultern spürte, durchlief sie ein tiefes Glücksgefühl.

»Allmählich wirst du mir gefährlich«, lächelte er. »Ich sollte dich verbrennen.«

Erst lange nach der Matutin kam sie zurück ins Gesindehaus. Die halbe Nacht lag sie hellwach auf ihrem Strohsack. Während Gertraut neben ihr schnarchte, spürte sie Ulrichs Körper auf ihrem nach und träumte davon, mit ihm in der großen Stadt zu leben.

Am andern Morgen wurde sie erst von dem ungewöhnlichen Lärm im Hof geweckt. Der Duft von warmem Haferbrei kitzelte ihre Nase und machte sie munter. Neugierig trat sie an das winzige Fenster unter den weit vorragenden Dachsparren und sah hinab.

Zwei Reitknechte hatten offenbar Schwierigkeiten, ein unruhiges Pferd zu bändigen. Rufe flogen hin und her, jemand schrie etwas, und die Männer sprangen zur Seite. Das Pferd buckelte und schlug nach hinten aus. Schnaubend warf es den Kopf, die gewellte Mähne flog hin und her. Anna rieb sich den Schlaf aus den Augen. Überrascht sah sie genauer hin. Es war rabenschwarz, ohne einen weißen Fleck, wie man es nur selten sah. Gänzlich schwarze Tiere galten als satanische Kreaturen und wurden meistens getötet. Aber einmal war sie einem solchen Pferd begegnet – in der Nacht, als das Dorf geplündert wurde.

Anna kämpfte gegen eine plötzliche Beklemmung an. Das Pferd hatte einen Reitknecht auf den Lehmboden geworfen und bäumte sich auf. Seine Vorderhufe fegten durch die Luft, und schreiend hob der Mann die Arme, um seinen Kopf zu schützen.

Eine scharfe Stimme rief etwas in einer fremden Sprache. Das Pferd kam zu Boden und bespritzte den Knecht von oben bis unten mit Schlamm. Schnaubend wich es zurück zu den Handwerkerbuden, deren Insassen sich brüllend an die Wände drückten. Der Mann kam auf die Beine. Offenbar hatte er keine ernste Verletzung davongetragen.

»Das ist ja der Teufel persönlich!«, fluchte er und machte sich aus dem Staub. In sicherer Entfernung krempelte er seinen Ärmel hoch und begutachtete eine blutende Schramme.

Jemand lachte dunkel. »Ab und zu versucht er sogar seinen Herrn zu töten. Aber nicht öfter als jede gute Ehefrau.« Dunkles, schulterlanges Haar kam in Annas Blickfeld. Ein junger Mann hatte die Zügel ergriffen und redete beruhigend auf das tänzelnde Pferd ein. Ein gegürteter schwarzer Waffenrock fiel über die Knie auf die schweren Lederstiefel. Anna fuhr zusammen und stieß schmerzhaft gegen den Dachsparren. Leise fluchend betastete sie ihre Stirn.

Der fremde Ritter sah, aufmerksam geworden, zum Gesindehaus hinauf. Ihre Augen trafen sich. Anna fiel ein, dass sie nichts anhatte, und mit einem erschrockenen Keuchen zog sie sich zurück. Sie lehnte sich neben dem Fenster an die Wand und schlug beide Hände vor den Mund. Für ihn also hatte Jutha die Vorräte überprüft. Langsam ließ Anna die zitternden Hände sinken. Sie schloss die Augen und versuchte ihren heftigen Atem zu beruhigen. Tagelang hatte sie gebetet, diesen Mann nie wiederzusehen, und nun war er hier – als Ulrichs Gast!

»Er ist mit dem Teufel im Bund!«, flüsterte jemand. Gertraut war herangekommen und bekreuzigte sich. »Vorhin blieb er vor dem Eingang zur Kapelle stehen, als könne er die Schwelle nicht übertreten.«

»Das ist der Mann, der mit den Plünderern hier war!«, stieß Anna hervor.

»Der?« Der Morgen musste kühl sein, denn die alte Magd zog ihren ausgewaschenen Umhang fester um die Schultern. »Er heißt Raoul. Die Knechte sagen, er sei ein fahrender Ritter. Niemand weiß, woher er kommt und in wessen Dienst er steht. Aber sie haben Angst vor ihm.«

»Er ist es.« Anna bebte vor Angst und Hass. Vorsichtig trat sie wieder ans Fenster. Ein zweiter Mann kam in ihr Blickfeld, offenbar sein einziger Diener. Um seinen Kopf war ein Tuch gewunden, wie Anna es noch nie gesehen hatte. Die Männer wechselten einige Worte. Ihre Sprache schien nur aus Rachen- und Kehllauten zu bestehen. Anna dachte an das, was sie ihm ins Gesicht geschrien hatte. Wenn Raoul sie wiedererkannte, würde er sie töten. Sie musste sofort zu Ulrich.

Hastig suchte Anna ihre Kleider zusammen. Sie zerrte so fahrig an den Bändern, dass sie beinahe rissen. Mit einer Verwünschung bemerkte sie einen Fleck auf ihrem Hemd. Doch sie besaß nur das eine, und Waschtag war erst nächste Woche. Unbehaglich trat sie von einem Bein auf das andere. Ihre Blase drückte, aber um zu dem einzigen Abort der Burg zu gelangen, musste sie an dem Fremden vorbei über den Hof.

Entschlossen griff sie nach ihrem Tuch und lief zur Tür. Während sie ihr Haar darunter verbarg, starrte sie hasserfüllt die steile, wurmstichige Stiege hinab. Sie würde nicht abwarten, bis Raoul ihr die Kehle durchschnitt. Ulrich beschützte sie, und der Fremde würde für das büßen, was er getan hatte.

Stallgeruch verriet, dass Gertraut hinter sie trat. »Sei froh, dass du hier bist.« Auf einmal klang so etwas wie Mitgefühl in ihrer Stimme. »Der Burgfriede verbietet selbst Todfeinden jeden Streit. Das bedeutet, du bist vor ihm sicher.« Sie machte eine Pause, dann vollendete sie: »Zumindest, solange du ihm nicht außerhalb der Mauern begegnest.«