Kleine Tröpfchen glänzten auf Raouls dunkler Cotte, deren Saum schlammbeschwert an seinen Stiefeln klebte. Vermutlich war er unbemerkt zurückgeblieben, als die Aufmerksamkeit aller auf den Toten gerichtet war. Er trug kein Schwert, aber das würde er auch nicht brauchen. Langsam kam er auf sie zu, die Hand locker auf den Dolch im Gürtel gelegt. Eine Flucht war aussichtslos: Links versperrte ihr der Erdrutsch den Weg. Unterhalb der Burgmauer krallten Vogelbeeren und Hagebutten ihre Wurzeln in den Hang, und im Wald am Hang hätte er sie mühelos eingeholt. Anna zwang sich, nicht wegzulaufen. Er konnte sie töten, aber sie würde ihm nicht zeigen, dass sie Angst hatte.
»Es ging Euch nicht darum, Maurus zu retten!«, kam sie ihm hasserfüllt zuvor. Sie wischte die Tränen ab und verschmierte dabei ihr Gesicht. »Ihr wolltet mich hinabstürzen.«
Er kam noch näher, bis er nur noch wenige Schritte entfernt war. Anna wich keinen Fußbreit zurück, und er pfiff durch die Zähne. »Du bist stur wie ein Maultier.«
»Wir sind so in Baiern. Daran sind schon ganz andere zerschellt als Ihr!« Erschrocken machte sie sich klar, dass ein Ritter ein Mädchen ihres Standes wegen weit weniger umbringen konnte. Was machte dieser Mann mit ihr, dass sie derart die Beherrschung verlor?
»Für eine Bauerndirne bist du nicht einmal dumm.« Seine trügerische Freundlichkeit verschwand, und die unterdrückte Wut in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Der Gedanke ist mir wirklich durch den Kopf gegangen. Es wäre ein Leichtes gewesen, dich zu töten. Aber alles zu seiner Zeit. Gegen das, was ich will, fällt selbst ein Fluch nicht ins Gewicht. Vorerst.«
Was keineswegs bedeutete, dass das, was er stattdessen mit ihr vorhatte, viel besser war. Anna hätte eher einem hungrigen Wolf im Wald vertraut als ihm. Obwohl er nicht herankam, ließ seine bedrohliche Nähe ihren Puls schneller schlagen. Unbehaglich fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er konnte sie hier ins Gebüsch zerren, nur um Ulrich zu demütigen, und niemand würde ihre Schreie hören.
»Ich will Burg Kaltenberg.« Raoul wies mit dem Kopf den Hang hinauf. »Und ich werde nicht abreisen, ehe sie nicht mein ist. Sag das deinem Liebhaber!« Dann wandte er sich ab und ging den Weg zurück.
Wenn Anna geglaubt hatte, Ulrich würde sie nun bezüglich Raouls ins Vertrauen ziehen, wurde sie enttäuscht. Er schob sie nur hastig vom Fenster des Rittersaals weg, da Gertraut neugierig hinaufschielte. Seine undurchsichtigen Augen verrieten nichts, als er meinte, sie solle sich nicht ihren hübschen Kopf zerbrechen. Obwohl sie wusste, dass er nicht einmal Jutha von seinen Geschäften erzählte, war sie enttäuscht.
Bis zum Erntedankfest hatten sie die Burgmauer so weit instand gesetzt, dass sie den Winter und das Tauwetter im Frühjahr überstehen würde. Wenn sie nicht bei Ulrich oder bei der Arbeit war, übte Anna mit Falconet Lesen. Seit Vater Maurus’ Tod war die kahle Schreibstube im obersten Stockwerk verlassen. Von hier aus überblickte man den Lechrain mit seinen Wäldern und Türmen kleiner Burgen. Einziger Schmuck war ein schlichtes Holzkreuz, und durch das Fenster zog es, aber trotzdem kam Anna gern hierher. Sie war es, die jetzt dafür sorgte, dass die Federn immer angespitzt waren, dass das Pergament in einer Truhe aufbewahrt wurde, wo es Nässe und Kälte nicht ausgesetzt war. Es schien ihr das Mindeste zu sein, was sie dem Toten schuldete. Und obwohl ihr manchmal vor Kälte die Finger steif wurden, liebte sie das Kratzen der Feder auf dem weichen Untergrund.
Die ersten frostigen Nächte kündigten den Winter an, als Falconet die gewundene Steintreppe heraufkam. Sorgfältig vollendete Anna den feucht glänzenden Buchstaben auf dem Blatt und legte die Feder ab. Wenn sie die Minuskeln malte, hatte sie das Gefühl, an die Macht eines uralten Zaubers zu rühren – als könnte sie mit den Worten auch Dinge in die Welt bringen, von denen sie nicht genau wusste, wie mächtig sie waren. Vom Burghof her hörte sie einen Karren rattern. Nachdenklich betrachtete sie wieder das Bild, das sie aus ihrer Vorlage gezogen hatte: die Frau in dem Rad, das die Menschen hochhob und wieder in den Staub warf. Sie rieb sich die eisigen Hände.
Falconet kam näher und erkannte das Buch. »Mein Spielmannsbuch!« Hastig griff er danach und ließ es in seinen Kleidern verschwinden. »Wie kommst du daran?«
Anna bemühte sich um ein unschuldiges Gesicht. Heute Morgen hatte er es in der Küche vergessen, und sie hatte nicht widerstehen können. »Ich wollte es dir zurückgeben«, verteidigte sie sich. »Ich verstehe ohnehin nicht, was drinsteht. Die Lieder sind lateinisch.« Carmina hatte Falconet die Lieder genannt. Das Wort hatte einen schönen Klang. »Manche sind auch auf Bairisch. Hast du sie gemacht?«
»Da traust du mir zu viel zu.« Falconet fuhr ihr liebevoll übers Haar und beugte sich über das, was sie geschrieben hatte. »Stetit puella rubetae tunica …« Er stutzte, dann begann er laut zu lachen.
»Was ist?«, fragte Anna beleidigt.
Er schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Vergnügen. »Rufa!«, stieß er hervor. »Es heißt rufa tunica: Ein Mädchen stand da im roten Kleid. Du hast geschrieben: Ein Mädchen stand da im Krötenkleid !«
Annas Mundwinkel zuckten, dann musste sie auch lachen. Laut und hemmungslos brach es aus ihr heraus, es schüttelte sie förmlich. Schon lange hatte sie nicht mehr so gelacht. Es war, als wollte sie alles nachholen, was sie in der letzten Zeit versäumt hatte. Sie wollte sich beherrschen, aber dann sah sie in Falconets grinsendes Fuchsgesicht und prustete wieder los.
»Woher kommst du, dass du Latein sprichst?«, fragte sie endlich.
Der Gaukler ließ sich neben ihr auf den Boden fallen. »Aus dem Elsass. Ich sollte ins Kloster, aber ich bin davongelaufen.«
»Hast du nie Sehnsucht gehabt zurückzukehren?«
Falconet zögerte. »Doch«, antwortete er schließlich. »Aber manchmal muss man sehr weit reisen, um zu begreifen, wohin man gehört.« Auf einmal grinste er. »Du zitterst wie ein Jagdhund, der zum ersten Mal auf die Fährte gesetzt wird! Verleugne besser nicht, was dir im Blut liegt. Irgendwann bricht es hervor, ob du willst oder nicht. Und der Augenblick«, er berührte ihre Schulter, »der Augenblick könnte bei Gott der falsche sein.«
Beschämt, an seinen Lippen gehangen zu haben, erwiderte sie abweisend: »Fängst du schon wieder damit an?«
Falconet grinste verlegen. »Na, deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte dir sagen, dass Herr Ulrich und sein Gast ihre Kräfte bei einem Reiterspiel messen, unten auf der Wiese. Das halbe Dorf ist schon dort!«
Anna sprang von ihrem Holzklotz auf. Viel zu lange hatte sie ihre Freunde nicht gesehen. Und vielleicht ergab sich ja sogar eine Gelegenheit, ihre Eltern zu sprechen?
Als sie sich der Wiese näherte und die Gerüche von Rauch und Kohlsuppe wahrnahm, erfüllte Anna eine freudige Erwartung. Im Waffenrock seiner Familie würde Ulrich ein beeindruckendes Bild abgeben. Der Gedanke erregte sie, bisher hatte sie ihn kaum in Rüstung oder gar beim Kämpfen beobachtet. Außerdem würde er Raoul in die Schranken weisen. Endlich würde sie den mächtigen schwarzen Ritter Staub schlucken sehen!
Oberhalb der Wiese blieb sie stehen. Der Ort bei der Vorburg und den Wirtschaftsgebäuden auf der Südwestseite war kaum wiederzuerkennen. Wo sonst nur die Schafe vorbeigetrieben wurden, hatten die Knechte mit roten Bändern eine Reitbahn markiert. Wimpel flatterten im Wind, und jemand hatte Juthas ledernen Faltstuhl ins Freie gebracht. Daneben war Ulrichs Schild mit dem schwarzweißen Wappen und der Hopfenrebe aufgestellt. Eine schiefe Fanfare trompetete, Pferde wieherten, und die Gerüche von Öl und Leder mischten sich in die tausend anderen Düfte. Knechte schleppten mehrere Klafter lange Lanzen und die Schwerter. Ein buntes Gewimmel von braunen und grauen Cotten breitete sich vor ihr aus. Die halbe Burgsiedlung musste sich hier versammelt haben. Von überall strömten noch mehr Leute heran, angelockt von der Abwechslung – und von dem Fass, das Gernot gerade anzapfte. Ihre Eltern waren wieder nicht zu sehen, stellte Anna enttäuscht fest.
Regina und einige andere Frauen sangen und klopften mit ihren Holzschuhen den Takt dazu. Lachend riefen sie Falconet zu sich heran. Es war ihnen anzusehen, wie sehr sie dieses harmlose Vergnügen nach den schrecklichen Ereignissen genossen. Anna schob die Gedanken weg und ließ sich mittreiben. Übermütig tanzte und schrie sie mit ihnen die Freude heraus, noch am Leben zu sein. Im Rhythmus von Falconets Flöte schlängelte sie sich durch die Leute. Cotten aus grober Wolle und Hanf streiften sie, der Geruch nach tagelang getragenen Kleidern und Zwiebeln hing zwischen den Menschen. Auf der Reitbahn war Hartmut mit etwas beschäftigt, das sie eher für eine Vogelscheuche gehalten hätte: einem Gestell, das mit einer ausgedienten Cotte bekleidet war. Neugierig kam sie näher. Über dem einen Arm des Gestells lag ein Holzschild, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte. Am andern hing ein fleckiger Sack. Das Ganze war auf einer Vorrichtung angebracht, die es erlaubte, es zu drehen. Alles roch schimmlig, als hätte es den Sommer auf einem undichten Scheunenboden verbracht.
»Ich nenne ihn Roland. Man sticht mit der Lanze nach dem Schild«, erklärte Hartmut und zog die Stricke fest, an denen die Vorrichtung befestigt war. Er lächelte ihr zu, wie so oft, wenn sie auf der Burg miteinander arbeiteten. »Wenn man dann nicht sofort dem Pferd die Sporen gibt, schwenkt das Gestell herum, und der Aschesack wirft einen zu Boden. Offenbar langweilt sich unser Gast.«
Das war nicht verwunderlich. Bald würde der Winter die Burg in einen eisigen Panzer hüllen und bis zum Tauwetter einschließen. Dann blieb nur noch die Unterhaltung, die innerhalb der Mauern möglich war – Schach, Spielleute und Musik. Mit einem verstohlenen Lächeln dachte Anna an die vergangene Nacht, und wie Ulrich sie heute Morgen von hinten umarmt hatte, als gerade niemand hinsah. Es würde ihnen sicher auch noch mehr ein fallen.
»Das Leben auf der Burg scheint dir ja zu bekommen«, unterbrach sie eine Frauenstimme. »Du bist gefüttert wie eine edle Dame!«
»Reingard!« Lachend fiel Anna der Hebamme um den Hals. Reingards schmale Hände waren wie immer gepflegt. Anna wusste, dass sie damit kräftig zupacken konnte. Nach der Plünderung hatte sie oft voller Sorge an die Freundin gedacht, aber glücklicherweise war Reingards Selbstvertrauen so unverwüstlich wie ihr Lachen.
»Es gibt Neuigkeiten«, erzählte die Hebamme und zog sie zur Seite. »Gestern brachte sie ein fahrender Handwerksbursche: Sibylle hat den Goldschmied geheiratet, mit dem sie im Sommer aus Kaltenberg weggelaufen ist. Er hat einen Meister gefunden, in Brixen.«
»Brixen«, wiederholte Anna. Sie hatte keine Vorstellung, wo das lag. Sibylle hatte wirklich Mut gehabt.
Reingard lachte leise und wies über den Reitplatz hinweg, wo Ulrich soeben von der Burg herabkam. Unablässig redete der alte Seyfrid auf ihn ein. »Ich wette das Erbe meines seligen Johannes darauf, dass er ihn mit dem Quellwasser besprengen will.«
Tatsächlich: der alte Mann hatte eine kleine Phiole in der Hand.Anna wusste, dass er es von der Quelle des heiligen Ulrich holte. Seyfrid war fest überzeugt davon, dass man damit alles besiegen konnte: Warzen, Furunkel, das Fieber und wahrscheinlich sogar den Aussatz. Ulrich schob ihn ungeduldig zur Seite, damit Gernot ihm in die Rüstung helfen konnte. Verstohlen genoss es Anna, ihren Geliebten zu beobachten. Das gepolsterte Untergewand ließ ihn noch kräftiger wirken. Jetzt streifte ihm der Knecht den Kettenharnisch über den Kopf. Wenigstens die zärtlichen Blicke konnte ihr niemand verbieten.
Eine schwarzgekleidete Gestalt schob sich in ihr Blickfeld, und sie zuckte zusammen. Nicht einmal ein Wappen schmückte Raouls Brust. Der Panzer schmiegte sich wie Seide an seinen Körper, und wider Willen musste sie zugeben, dass er gut aussah. Die Männer wechselten einige scharfe Worte, dann beendete Ulrich das Gespräch mit einem wütenden Satz. Raoul maß ihn mit einem verschlagenen Blick.
»Here Frouwe – heilige Maria!«, entfuhr es Reingard. »Das Wunderwasser kann vielleicht doch nicht schaden. Der Mann sieht aus, als wollte er eine Fehde austragen.«
Bisher war Anna nie der Gedanke gekommen, dass Ulrich je etwas zustoßen könnte. Aber auf einmal wäre sie gern in seiner Nähe gewesen.
Die Knechte halfen den Rittern in den Sattel. In der glänzenden Rüstung und auf dem gewaltigen Streitross mit der prachtvollen Decke schien Ulrich ihr seltsam fremd und unnahbar. Vergeblich suchte sie unter dem schimmernden Helm seine Augen. Er wog die Lanze in der Hand und legte sie dann über den Sattel. Die Pferde tänzelten. Ulrich ließ seinem Gast den Vortritt. Unruhig biss sich Anna auf die Lippen.
»Der Verlierer muss sein Pferd beim anderen auslösen«, erklärte Reingard. Sie hatte offenbar schon Erkundigungen eingeholt. »Aber es gefällt mir nicht, wie die beiden sich anstarren.«
Anna wollte in Raouls Gesicht sehen, doch in diesem Moment griff er nach dem eisernen Helm mit dem schwarzen Federbusch und stülpte ihn über. Kurz blickte er auf, und Anna hatte das unangenehme Gefühl, er könnte alles von ihr sehen. Umgekehrt ließ der schmale Sehschlitz keinen Blick mehr in seine Augen zu. Er legte die Lanze auf den Arm und nickte. Hartmut, der bei seinem Roland stand, überprüfte noch einmal die Ausrichtung und rannte dann aus der Bahn.
Angespannt verfolgte sie, wie Raoul seinem Rappen die Sporen gab. Alle Aufmerksamkeit auf sein Ziel gerichtet, hielt er sich sicher und elegant im Sattel. Sein schlanker Körper schien mit dem Pferd verwachsen, ihre Bewegungen waren eins. In vollem Galopp donnerte er auf den Roland zu und hob den Arm mit der Lanze.
»Er mag ja mit dem Teufel im Bund sein«, bemerkte Reingard, »aber er macht eine gute Figur, was?«
Auch die Augen der anderen Frauen verfolgten den schlanken Reiter in Schwarz mit unverhohlenem Interesse. Es machte Anna wütend. Sie schickte den frommen Wunsch zum Himmel, ihr Fluch möge sich jetzt und hier erfüllen und Raoul sich den Hals brechen.
Mit ungebremster Wucht krachte die Waffe auf den Schild. Der Aufprall war so heftig, dass Raoul zur Seite geschleudert wurde. Der Roland drehte sich, der Aschesack flog herum. Dumpf prallte er gegen den Reiter und warf ihn aus dem Sattel.
Anna stieß einen trillernden Triumphschrei aus. Wie aus einer einzigen Kehle brüllten die Zuschauer auf. Die Bauernkinder johlten, und das Gesinde machte seiner Scheu vor ihm in Beschimpfungen Luft.
Wütend klopfte sich Raoul den Schmutz vom Waffenrock. Das schwarze Haar fiel über seine Schultern, sein Helm lag einige Schritte weiter im Gras. Mit verzerrtem Gesicht betastete er seine Schulter.
Lachend höhnte Anna: »Wenn er mit Hilfe des Teufels nichts Besseres zustande bringt, möchte ich nicht wissen, wie er ohne kämpfen würde!« Er fegte mit der Hand über seinen Waffenrock und kam einen zornigen Schritt auf sie zu. Der Geruch des zerstampften Bodens und des Pferdes wehte herüber. Unvermittelt verstummten die Menschen, nur Anna hob trotzig das Kinn.
Ulrich war nichts anzumerken. Er hatte den Sitz seines Helms überprüft, als sei nichts geschehen. Die Lanze senkrecht nach oben haltend, lenkte er den schweren Schimmel auf die Bahn. Atemlos verfolgte Anna, wie er angaloppierte, und ein Prickeln überlief sie. Auch Ulrich saß fest im Sattel, ohne dass die unhandliche Waffe schwankte. Schaum spritzte vom Maul des weißen Schlachtrosses, die Panzerung klirrte, der Blick hinter dem Sehschlitz war fest auf das Ziel gerichtet. Er senkte die Lanze. Mit ungeheurer Wucht, die durch die Masse des Streitrosses noch verstärkt wurde, traf er, schlug dem Schimmel die Hacken in die Flanke – und entging dem Sack um Haaresbreite.
Anna lachte und klatschte in die Hände. Stolz erfüllte sie, als alle ihm zujubelten. Schwankend richtete sich Ulrich im Sattel auf. Unwillkürlich schweifte Annas Blick zu Raoul auf der anderen Seite der Bahn. Während alle den Burgherrn beglückwünschten, achtete niemand auf ihn. Er winkte Hartmut, ihm aufs Pferd zu helfen. Ehe er den Helm wieder aufsetzte, sah sie das verschlagene Lächeln um seine Lippen. Auf einmal trieb er den Rappen direkt auf die Schranke zu. Mit einem gewaltigen Sprung setzte er darüber hinweg.
Anna schrie empört auf. Obwohl sie nichts von Waffenspielen verstand, wusste sie: Das verstieß gegen jede Regel. Sie begriff auf einmal, dass er sie alle zum Narren gehalten hatte. Vermutlich hatte er sogar seinen Sturz bei dem Roland vorgetäuscht, um sie in Sicherheit zu wiegen! Die Dorfbewohner schrien und pfiffen durch die Zähne, als er dem Burgherrn nachgaloppierte.
Ulrich fuhr herum, da erreichte ihn sein Verfolger. Raoul hob das Schwert und schlug mit voller Wucht zu. Im letzten Moment konnte Ulrich seine eigene Waffe hochreißen, aber er schwankte im Sattel. Während er noch um sein Gleichgewicht kämpfte, schlug Raoul seinem Schimmel die flache Klinge auf die Flanke, dass er einen Satz machte. In einer unglaublichen Wendung galoppierte er seitlich davon. Ein neuer Aufschrei ging durch die Zuschauer. Anna schlug die Hände vor den Mund. Zwischen den vielen Menschen wurde ihr heiß.
Ulrich wurde aus dem Sattel geschleudert und hinter seinem scheuenden Tier hergeschleift. Staub verhüllte ihn, Erde spritzte auf. In rasendem Galopp wurde er über die Wiese gezerrt, bis das Pferd endlich zum Stehen kam. Stöhnend blieb er liegen.
Ohne sich um die Leute zu kümmern, tauchte Anna unter dem Band durch und rannte Hartmut nach. Der Knecht hatte Ulrich bereits erreicht und half ihm auf die Beine. Erleichtert bemerkte sie, dass Ulrich bei dem Sturz in voller Rüstung nicht das Bewusstsein verloren hatte. Sein Waffenrock war mit Erde verschmiert, und er hielt sich den Arm. Mit fliegenden Fingern wollte sie ihn betasten, aber er schob sie weg.
»Verdammter Bastard!«, brüllte er, als er schwankend auf die Beine kam. Unter dem Helm waren seine Worte nur undeutlich zu verstehen. »Ich bringe Euch um!« Wütend raffte er das Schwert auf und ging auf Raoul los. Anna wollte ihm nach, doch Hartmut hielt sie fest.
»Das ist kein Spiel mehr!«, schrie sie. Verzweifelt kämpfte sie gegen die kräftigen Arme. Sie versuchte zu beißen, trat nach ihm, aber er ließ sie nicht los.
»Das ist es nie«, erwiderte Hartmut. »Es geht immer um viel mehr: um die Ehre, um eine Burg – um Leben und Tod.«
Anna starrte ihn an. Er konnte doch nicht einfach zusehen! Auf einmal fühlte sie sich furchtbar machtlos. Sie hätte alles darum gegeben, sich vor Gott und der Welt zu Ulrich bekennen zu dürfen. Verzweifelt betete sie, dass ihm nichts geschah. Auf einmal hatte sie entsetzliche Angst.
»Er ist größer und kräftiger«, versuchte Hartmut sie zu beruhigen. »Er wird sich nicht besiegen lassen.« Durch den schmalen Schlitz seines Visiers konnte Raoul von den Zuschauern kaum mehr als graubraune Flecken erkennen. Ihr Geschrei hörte er nur als verschwommenes Summen. Unter dem Helm schlug sich sein stoßweise gehender Atem feucht auf der Haut nieder. Das geschlossene Visier verbarg sein tückisches Lächeln. Er wusste, dass er schnell war und weit kräftiger, als man ihm ansah. Seine Schulter schmerzte von dem Sturz, es war doch nicht so leicht gewesen, ihn vorzutäuschen. Langsam kam er vom Pferd. Er ließ Ulrichs Schwertstreich an seiner Klinge abgleiten und versetzte seinem Gegner eine Ohrfeige, die ihn zu Boden warf.
»Schlagt ihn tot!«, hörte er Gernot seinem Herrn zubrüllen. »Haut ihm den Kopf vom Rumpf!«
Stöhnend kam der Burgherr auf die Beine. Raouls Finger schlossen sich um den Schwertgriff, wie er es hundertmal geübt hatte: zärtlich und an den natürlichen Lauf der Waffe angepasst, im vollkommenen Gleichklang mit seinem muskulösen Körper. Mit unerbittlicher Entschlossenheit ging er auf ihn los. Die Klingen prallten aufeinander, ein Funke flog auf. Ulrich nutzte die Atempause. Er drückte seine Klinge gegen Raouls, riss ihm den Helm vom Kopf und drehte das Schwert, um zuzuschlagen. Blitzschnell tauchte Raoul darunter hinweg und zog seinen Griff nach oben, um den Hieb abgleiten zu lassen.
Die Zuschauer schrien wieder Beschimpfungen. Sie wollten Blut sehen. Gut möglich, dass ihnen der fromme Wunsch erfüllt wurde. Raoul war entschlossen, den Kampf zu gewinnen, und wenn er Ulrich töten musste. Durch den unbedeckten Kopf war er nun im Nachteil, aber dafür hatte er das weitere Blickfeld. Keuchend warf er die schweißfeuchten Locken zurück und sah sich um. Er konnte Ulrich beim Roland in die Enge drängen.
Mit einem Schrei drehte er die Klinge und trieb Ulrich mit wechselnden Ober- und Unterhauen vor sich her. Vor den immer schneller werdenden Schlägen wich der Burgherr zum Roland zurück. Unter dem Helm konnte er den Kopf kaum drehen. Ulrich stieß gegen das Hindernis, taumelte überrascht, und Raoul setzte zu einem seitlichen Hieb an.
Ulrich duckte sich, krachend schlug das Schwert auf den Schild des Roland. Ulrich versetzte ihm einen Stoß, und der Aschesack schwenkte herum. Raoul sah ihn auf sein Gesicht zukommen. Mit seinem ganzen Gewicht warf er sich auf seinen Gegner.
Er spürte den Luftzug, als der Sack an ihm vorbeifegte. Sie waren sich so nahe, dass Raoul den Schweiß auf dem warmem Harnisch roch. Ulrich klammerte den Unterarm um seine Schwerthand, um ihm die Waffe auszuhebeln, doch umsonst. Mit einer schnellen Bewegung schlitzte Raoul den Aschesack auf. Der beißend riechende Inhalt strömte auf den zerstampften Boden und ließ die Augen tränen.
Das Ende kam schnell: Ulrich schlug nach seinem unbedeckten Kopf. Raoul warf sich zur Seite. In derselben Bewegung durchschnitt seine Klinge die Bänder, die den Roland hielten, und das Gestell kippte auf Ulrich herab. Mit einem Schrei riss der Burgherr den Arm hoch, um sein Gesicht zu schützen. Krachend zerbarst das spröde Holzgestell auf dem Boden. Ulrich taumelte, und Raoul nutzte die Gelegenheit, um seinen Gegner mit voller Kraft in die Kniekehlen zu treten.
Brüllend vor Wut kam Ulrich wieder hoch, brachte seinen Gegner mit einem geschickten Wurf zu Fall und stieß senkrecht von oben zu. Im letzten Augenblick rollte Raoul zur Seite und stand wieder auf den Beinen. Er versetzte Ulrich einen Schlag mit dem eisernen Knauf, der ihn rücklings ins Gras schleuderte, und riss ihm den Helm ab. Ein überwältigendes Triumphgefühl bemächtigte sich seiner. Mit beiden Händen hob er das Schwert.
Irgendwo hörte er eine Frau schreien. Unter dem Harnisch hob und senkte sich seine Brust heftig. Mit rotem, verschwitztem Gesicht starrte Ulrich ihn entsetzt an.