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Anna schlug die Augen auf. Über ihr war alles grün und verschwommen. Jemand sagte etwas, das sie nicht verstand. Sie fröstelte, dann wurde ihr heiß. Ihr war so übel, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen.

Langsam wurde das Bild klarer. Über ihr breitete sich ein lichtes Dach aus bunten Buchenblättern aus. Vorsichtig bewegte sie die eiskalte Hand. Ihre Fingerspitzen waren fast taub, aber sie fühlte einen fremdartigen Wollstoff unter sich. Und Schmerzen. Ihr Gesicht war heiß und geschwollen. Ihr ganzer Körper pochte und glühte, als hätte man ihr jeden Knochen im Leib zerschlagen.

»Du bist wach!« Die Stimme hatte einen starken Akzent. Anna versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Stöhnend fasste sie sich an den Kopf und spürte einen Verband.

Der Mann, der gesprochen hatte, kniete neben ihr nieder: ein dunkler Fremder mit schwarzem Vollbart. Jetzt erkannte sie ihn: Maimun. Er gehörte zu Raouls Gefolge.

Anna erschrak zu Tode. Sie fuhr hoch, und für einen Moment drehte sich alles. »Vorsichtig«, lachte er. »Leg dich hin, sonst übergibst du dich wieder. Du warst fast ertrunken, als Raoul dich aus dem Lech zog. Beinahe wärst du uns unter den Händen gestorben. So.« Er sah nach ihren Verbänden, offenbar waren es einige. Dann tupfte er ihr vorsichtig die Stirn und flößte ihr ein bitteres Gebräu ein. »Trink! Es wird dich beleben und die Verletzungen heilen lassen.«

Anna roch zermahlene Kräuter. Während sie den scharf gewürzten Trank schluckte, kämpfte sie fieberhaft gegen das dumpfe Gefühl in ihrem Kopf an. Aber sie war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Raoul? Sie hatte einen Fluch gegen ihn ausgesprochen, er wollte sie töten. Warum sollte er sein Leben wagen, um sie zu retten?

Zitternd setzte sie den Becher ab und klammerte die Hände dar um. Man hatte sie ertränken wollen. Mit einem Schlag kam das ganze Entsetzen wieder, es schüttelte sie förmlich. Das Wasser um sie, die machtlose Panik, als sie zu ersticken glaubte … die erbarmungslosen Gesichter am Ufer … die Schläge, die Dunkelheit … Anna stöhnte. Sie hatte das Gefühl, die Erinnerungen nicht aushalten zu können.

Maimun flößte ihr mehr ein, und die Panik stumpfte ab. Sie sah sich um. Hinter ihr stieg der Boden an, auf der anderen Seite fiel er sichtlich ab. Offenbar befand sie sich noch am Steilhang des Lechs. Vertrocknete Waldheidelbeeren hingen an den entlaubten Zweigen. In einer Kuhle brannte ein Feuer, fremdartige Gerätschaften standen daneben, ein kupferner Krug mit langer Tülle. »Was ist das?«, fragte sie, als der Becher leer war.

»Stechapfel, Alraune, Galgant … und der Rest ist mein Geheimnis«, erwiderte Maimun lächelnd.

»Teufelsapfel?« Die Kirche verdammte den Stechapfel als magische Pflanze. Es hieß, er steigere die fleischliche Begierde – auch wenn der Geschmack alles andere als luststeigernd war. Aber Anna war viel zu erschöpft, um noch zu erschrecken.

Maimun ging zum Feuer, um mit seinen bauchigen Flaschen zu hantieren. Sie bemerkte das in dunkles Leder gebundene Buch, das er neben ihr hatte liegen lassen. In ihrem Leben hatte sie vielleicht zwei oder drei Bücher gesehen. Dass jemand eine solche Kostbarkeit einfach herumliegen ließ, befremdete sie. Neugierig schlug sie es auf.

Das Bild verschwamm. Benommen kniff sie die Augen zusammen, dann wurde es klar. Es zeigte einen Mann und eine Frau. Nackt, in schamloser Umarmung. Annas Kopf war dumpf, aber sie war nun vollends überzeugt, in den Händen einer Satanskreatur zu sein. Nur mit des Teufels Hilfe konnte Raoul sie aus dem kochenden Hexenkessel des Lechs gerettet haben.

Hufschlag näherte sich. Jemand lachte und sagte einen Satz in einer fremden Sprache.

»Mein Medizinbuch?«, wiederholte Maimun in Annas Sprache. Sie blickte auf und sah zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Ihr Kopf glühte, und sie schob das Buch weg. Mit einem Schlag war sie hellwach.

Raoul warf seinem Diener Mantel und Schwert zu und schwang sich leicht aus dem Sattel. Er trug seinen schwarzen Waffenrock, der ihm bis über die Knie fiel und von dem silberbeschlagenen Gürtel gehalten wurde. Als er vor ihr stehen blieb, spürte sie den angenehmen Duft seines Parfüms. Aber seine eindruckgebietende Erscheinung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sie nur aus einem Grund gerettet haben konnte: um sie in seine Gewalt zu bringen.

»Worauf wartet Ihr noch?« Annas Zunge gehorchte ihr nicht ganz, aber sie war des Spiels müde, das er mit ihr spielte. »Nehmt Euer Schwert und tut es endlich!«

Raoul verzog die Mundwinkel. »Ich töte kein fieberkrankes Mädchen, das nur aus Blutergüssen und eingeschlagenen Zähnen besteht. Selbst wenn es nur die Metze eines Dorfritters ist. Du wirst dich gedulden müssen.«

Etwas in seiner tiefen Stimme fesselte sie. Unwillkürlich fühlte sie mit der Zunge nach ihren Zähnen. Wenigstens hier schien alles unversehrt zu sein. Zornig, dass er es wieder einmal fertiggebracht hatte, sie zu verwirren, entgegnete sie: »Für einen ehrlosen Straßenkämpfer habt Ihr ja beinahe Anstand.«

Er maß sie mit einem gefährlichen Blick, unter dem sie zusammenzuckte. Anna erschrak, wie schwer es ihr fiel, ihren Hass auf ihn zu beherrschen. Doch statt sie an den Haaren hochzuzerren und zu verprügeln, erwiderte er nur: »Für eine Magd hast du eine scharfe Zunge. Du solltest sie besser hüten.«

Er schien sicher, sein Ziel auch anders zu erreichen. Ein ungutes Gefühl breitete sich in Anna aus, und sie wies auf den Becher. »Wollt Ihr mich damit gefügig machen?«

»Bei deiner Sturheit bräuchte es dazu schon ein Wunder. Wie ich sehe, zeigt nicht einmal das Opium Wirkung.«

Mit schwerem Kopf sah sie ihn verständnislos an.

»Eine Droge aus meinem Land. Man nimmt es, um die Lust anzufachen …«, er schien sich über ihren entsetzten Blick zu amüsieren, »… aber auch, um zu betäuben oder Schmerzen zu lindern. Es hilft jedenfalls besser als das Wasser aus euren heiligen Quellen.«

Anna sank zurück. Jetzt, da er es erwähnte, spürte sie wieder, dass ihr ganzer Körper eine einzige Prellung war. Sie sah an sich herab und bemerkte, dass sie eine zu große dunkle Cotte trug. Offenbar hatten die Männer sie ausgezogen und in trockene Kleider gesteckt. Mit einem erschrockenen Laut zog sie den Reitschlitz über den Beinen zusammen.

Raoul schien ihre Gedanken zu erraten. »Meinen Glückwunsch«, spottete er: »So wie du aussiehst, vergeht selbst einem ehrlosen Straßenkämpfer die Lust, dich zu schänden.«

»Eure Schmeicheleien sind so wohltuend wie Eure Arzneien«, stöhnte Anna giftig. Jeder Knochen in ihrem Leib schmerzte, und obwohl sein Hohn offensichtlich war, bekam sie es wieder mit der Angst zu tun. Man konnte seine Worte durchaus als Drohung verstehen.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, zuckten seine Mundwinkel. »Kamelwolle aus Damaskus«, erklärte er und reichte ihr noch eine Decke. »Die Sarazenen schwören darauf.« Er warf einen Blick in das aufgeschlagene Buch, und seine Brauen hoben sich. Dann ging er zum Feuer und hockte sich auf die Fersen.

Dankbar legte Anna sich die Decke um die klammen Schultern. Vorsichtig rückte sie näher zum Feuer, in einiger Entfernung von Raoul. Sie hätte ihr Seelenheil dafür gegeben, jetzt bei Ulrich zu sein. Ohne ihn fühlte sie sich verloren, noch nie im Leben war sie auf sich allein gestellt gewesen. Dass sich Raoul über sie lustig zu machen schien, brachte sie vollends durcheinander. Es wäre ihr lieber gewesen, er hätte sie bedroht, dann hätte sie wenigstens gewusst, woran sie war.

Maimun schenkte ihr aus der Kupferkanne ein. »Wein«, erklärte er, als er ihr Misstrauen bemerkte. Anna drehte das Glas in den Händen. Es war keiner von den hölzernen Humpen, die man hier benutzte, sondern zierlich und elegant. Langsam trank sie und spürte einen bitteren Beigeschmack. Was war diesem Trank nun wieder beigesetzt? Sie fischte einen klebrigen schwarzen Klumpen heraus. Angewidert warf sie ihn hinter sich – und erntete fassungslose Blicke.

»Das war Opium im Wert von gut einem halben Dirham«, bemerkte Raoul endlich. Sein dunkles Lachen war angenehm und passte nicht zu dem Mann, als den sie ihn kennengelernt hatte. »Ich sollte dich an deinen schönen roten Locken in den Wald zerren und es wieder auflesen lassen!«

Es gelang Anna nicht, ihre Überraschung zu verbergen. Noch nie hatte ihr jemand gesagt, dass ihr Haar schön sei. Selbst Ulrich gefiel zwar seine Widerspenstigkeit, aber nicht seine Farbe.

Raoul beugte sich vor, um sich nachzuschenken, und die Sonne warf einen warmen Schimmer durch die Zweige auf ihn. »Man hat dich der Hexerei angeklagt, sagten die Leute. Ist das wahr?«

Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er mit ihr spielte, wie eine Katze mit der Beute. Entschlossen, sich selbst den Ränken des Leibhaftigen zu widersetzen, erklärte sie schroff: »Es war ein Gottesurteil.«

»Du hattest Glück. Das Seil, das dich hielt, ist gerissen.«

Es war gerissen! Anna umklammerte ihr Glas fester. Ihr wurde klar, wie knapp sie dem Tod entronnen war. Sie hielt die Frage nicht mehr aus, die sie fast verrückt machte. »Was ist mit Ulrich?«

Raouls dunkle Augen blickten auf. »Mach dir um ihn keine Sorgen. Wahrscheinlich hatte er genug von dir.«

Zornig sprang sie auf. Wieder kämpfte sie gegen die Übelkeit, dann fuhr sie ihn an: »Er hatte nicht genug von mir – wenn Ihr versteht, was ich meine!«

Seine schönen Lippen verzogen sich abfällig. »Immerhin wollte er dich ersäufen wie eine Straßenkatze!«

»Behaltet Eure Verleumdungen für Euch!«, schrie sie. »Ulrich hätte mich niemals aufgegeben, und schon gar nicht so.«

Die Falten um seine Nase gruben sich tiefer in die Haut. Er fuhr sich über die schwarzen Brauen und schloss die Augen. Obwohl er sich sofort wieder in der Gewalt hatte, war er ihr unheimlich.

»Wart Ihr es?«, fragte sie leise. »Habt Ihr mich angeklagt?«

Raoul stutzte, dann lachte er laut auf. »Mir fällt ein Dutzend guter Gründe ein, dich umzubringen. Aber Hexerei ist sicher keiner davon.«

Beunruhigt starrte Anna ihn an. Sie hatte gehofft, dass er es zugeben würde. Wenn das die Wahrheit war, blieb nur, was sie schon geahnt hatte: Hermann von Rohrbach wollte sie loswerden, weil sein Sohn sie mehr liebte, als ihr zustand. Sie sehnte sich so sehr nach Ulrich, dass sie hätte schreien können. Es musste einen Weg geben, zu ihm zurückzugehen.

»Du solltest besser nicht an eine Flucht denken«, warnte Raoul, als könne er ihre Gedanken erraten. »Denn du weißt noch nicht alles. Dass der Fluss dich mitgerissen hat, wurde als Beweis deiner Schuld gedeutet. Ulrich wird dir nicht helfen, er hätte dich sterben lassen, ohne einen Finger zu rühren. Du bist so gut wie geächtet.«

Anna brauchte einen Moment, um zu begreifen. Stumm bewegten sich ihre eiskalten Lippen. »Das ist nicht wahr!«, flüsterte sie endlich. Sie versuchte sich klarzumachen, was das bedeutete: völlig allein zu sein, ohne Gesetze, die sie schützten, ohne ein Zuhause, in das sie zurückkehren konnte. Jeder konnte sie töten oder zur Notzucht zwingen. Es bedeutete, ausgeschlossen zu sein von der Gemeinschaft, die sie ihr Leben lang getragen hatte, ausgeschlossen von Heil und Seligkeit – verloren.

Unvermittelt ging sie auf ihn los. Mit bloßen Fäusten schlug sie auf ihn ein, trat und schrie Worte, die sie selbst nicht verstand. Tränen liefen ihr übers Gesicht, es war, als müsse sie noch einmal auf ihr zerstörtes Dorf sehen. Der ohnmächtige Hass erstickte sie fast.

Raoul packte sie und zog sie zu sich heran. Anna stockte der Atem. Sie fühlte seinen Waffenrock unter den Fingern, die warmen Muskeln auf seiner Brust. Er sah ihr in die Augen, und ein glühender Fieberschauer jagte durch ihren Körper.

»Gewöhne dich besser daran, dass du keinen Beschützer mehr hast.« Das kalte Lächeln zuckte wieder um seinen Bart, als er nachsetzte: »Abgesehen von mir!«