In der Nacht begann Anna wieder zu fiebern. Mit weit geöffneten Augen sprach sie unzusammenhängende Sätze. Maimun versuchte sie warm zu halten und flößte ihr Lindenblütenaufguss ein. Doch auch am nächsten Tag schienen ihre Augen mit jeder Stunde tiefer in den Höhlen zu liegen, und die Adern schimmerten bläulich durch die Lider. Rote Flecken bedeckten die durchscheinende Haut, und ihre Lippen platzten auf. Gegen Abend kam Raoul von seinem üblichen Ritt zurück.
»Mach schnell!«, rief er Maimun in seiner Muttersprache zu. »Die Knechte der Rohrbacher!«
Er sprang vom Pferd, und hastig rafften die Männer zusammen, was ihre Anwesenheit verraten konnte. Raoul warf die Satteltaschen über den Rücken seines Pferdes. Mit den Stiefeln trat er das Feuer aus und schob die toten Blätter darüber, die überall den Boden bedeckten. Maimun hatte Kochgeräte und Decken in einen Teppich gerollt und hinter seinem Sattel verschnürt, dann hob er Anna auf. Sie war ohne Bewusstsein.
»Sie wird es nicht schaffen«, warf er seinem Herrn zu. »Wenn wir sie verstecken …«
»Nein!«, erwiderte Raoul scharf. »Sie haben Hunde, sie würden sie finden.« Er stieg auf seinen tänzelnden Rappen und streckte den Arm aus. Maimun hob das Mädchen zu ihm aufs Pferd. Sie war erschreckend leicht, dachte Raoul. Als sie seufzend den Kopf an seine Schulter legte, durchlief ihn ein Schauer. Er warf einen Blick zurück, dass ihm das schwarze Haar in die Stirn fiel, und gab seinem Tier die Sporen.
Keinen Augenblick zu früh. Kaum waren die beiden Reiter außer Sichtweite, erreichte ein Trupp Waffenknechte den Lagerplatz. Mit geifernden Lefzen wühlten die Hunde ihre Schnauzen in den Boden, wo eben noch Annas Decke gelegen hatte. Sie nahmen die Fährte der Pferde auf, und zerrten an ihren Leinen. Der Anführer lachte und gab seinen Männern ein Zeichen.
In vollem Galopp hetzten Raoul und Maimun durch das raschelnde Laub. Es bedeckte den Boden und machte jeden Pfad auf dem unter den Hufen hinwegfliegenden Boden unsichtbar. Wenigstens schien die Sonne fahl, so dass sie sich halbwegs orientieren konnten.
Raoul zügelte das Pferd, und das Sattelzeug flog bei der abrupten Wendung um seine Beine. Wie durch ein Wunder waren die Tiere nicht in Löcher oder auf Wurzeln getreten. Anna lag bewusstlos an seiner Brust, ihr flacher Atem strich über seinen Hals. Der Wind wehte einzelne Fäden aus ihrem rotgoldenen Haar auf seine Cotte. Seine Hände in den schwarzen Lederhandschuhen krampften sich fester um die Zügel, mit dem linken Arm hielt er den glühenden Körper des Mädchens an sich gepresst. Zwischen den Bäumen erkannte er die ausgebrannte Hütte eines Waldbauern. Rufe und Hundegebell hinter ihnen bewiesen, dass die Waffenknechte ihnen auf den Fersen waren. Wortlos wies er nach Osten, und die Männer sprengten weiter.
Der Wald war größer, als Raoul ihn in Erinnerung gehabt hatte. Von den Mäulern der Pferde triefte der Schaum, als sie endlich Licht durch die Bäume schimmern sahen. Bienenkästen am Waldrand verrieten, wo sie waren. Im Süden hoben sich die Berge weiß und dunkelblau vom sturmzerrissenen Himmel ab. Eine kleine Scheune stand auf der Wiese, dahinter floss die Paar. Rücksichtslos trieben sie die widerstrebenden Tiere ins Wasser. Obwohl der Pegel gesunken war, spritzte es hoch auf, als die beiden Reiter den Bachlauf entlang nach Süden galoppierten.
Ein unverkennbares Männerparfüm mischte sich in Annas Fieberträume. Ihre Lider flatterten. Ihre Hand schloss sich um das Gewand auf Raouls Brust und hielt es fest. Während sie wieder in die Bewusstlosigkeit hinüberglitt, sah sie zwei dunkle Augen auf sich gerichtet.
Sie kam wieder zu sich, als eine kühle, sehnige Hand auf ihrer Stirn lag. Jemand stützte ihren Rücken und flößte ihr etwas ein. Unwillkürlich schluckte sie und öffnete die Lider. Sie lag in Raouls Armen.
Sein Haar kräuselte sich leicht von der Nässe. Dämmriges Licht brach durch die Bäume und ließ die Augen unter den dichten Wimpern weicher scheinen. Es waren diese nachtdunklen Augen gewesen, die sie in ihren Fieberträumen immer wieder vor sich gesehen hatte. War dies das Gesicht des Mannes, der ihr Dorf niedergebrannt hatte?
Raoul räusperte sich. Er ließ sie auf die Decke am Boden gleiten. Als er aufstand, sah sie, dass der Saum seiner Cotte feucht war. »Wir sind in Sicherheit«, sagte er schroff. Ehe Anna ihre Überraschung überwunden hatte, rief er nach Maimun und verschwand aus ihrem Blickfeld.
»Er ist kaum einen Moment von deiner Seite gewichen«, sagte Maimun, als er neben ihr niederkniete. »Aber verrate ihm nicht, dass ich es dir erzählt habe. Er würde mich umbringen.« Er half ihr, sich aufzurichten. Sie befanden sich im Wald, es musste Abend sein. Zwischen lichten Bäumen lag ein ungenutzter Kohlenmeiler: Laub und Gras, die ihn bedeckt hatten, waren herabgerutscht, und an manchen Stellen standen verkohlte Äste heraus.
»Wir sind nicht weit von Kaltenberg«, beantwortete Maimun ihre unausgesprochene Frage. Er wies den Hang hinab, wo sich ein schmaler Weg zwischen den Stämmen verlor. »Dort unten liegt die Burg Geltendorf. Du hast die Natur einer Löwin. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich so schnell erholst.«
Anna kam schwankend auf die Beine. Die Pferde waren an den Vorderbeinen gefesselt und suchten im Laub nach Futter. Kein Feuer glomm, doch es gab eine Kuhle, wo vor nicht allzu langer Zeit offenbar eines gebrannt hatte. Darum lagen Decken und Teppiche ausgebreitet. Sie wollte sich setzen, da bemerkte sie die Pilze.
Ein etwa einen Schritt großer Ring aus braunen Hallimasch, die kaum aus dem Laub ragten. »Das ist ein Hexenring!«, stieß sie hervor.
Ungerührt holte Maimun den Topf aus der noch warmen Asche. Anna stand am Rand des Rings und kämpfte mit sich. Vermutlich hatte der Köhler seinen Meiler deshalb verlassen. Niemand wollte an einem solchen Ort arbeiten. Es war Raoul zuzutrauen, dass er den Platz genau aus diesem Grund gewählt hatte.
Sie roch die scharf gewürzte Brühe und spürte, wie hungrig sie war. Entschlossen hockte sie sich hin und löffelte gierig die Fleischstücke heraus. Der Geschmack war fremd und verführerisch, und immer wieder biss sie auf zerstoßene Körner eines Gewürzes, das sie nicht kannte. Es dauerte einige Zeit, bis sie zufrieden seufzend den Löffel weglegte.
Raoul hatte schweigend gewartet. Jetzt griff er nach der Kupferkanne und füllte ein dampfendes Gebräu in Becher. »Tee«, erklärte er.
Anna trank in kleinen Schlucken. Das schwerfällige Gefühl, das sonst beim Aufstehen erst spät aus den Gliedern wich, verflog. Allerdings beruhigte sie das nicht gerade. Ihre gewohnte Morgenmolke hatte zwar keine vergleichbare Wirkung, aber dafür wusste sie wenigstens, was drin war. Forschend beobachtete sie Raoul, der sich wenige Schritte weiter unter einen Baum gesetzt hatte. Sie verstand noch immer nicht, warum ausgerechnet ihr Feind ihr half. »Warum habt Ihr mich gerettet?«
Die direkte Frage schien ihn zu überraschen. Er lehnte den Kopf gegen den Stamm, so dass sie sein Profil sah. Zweige warfen weiche Schatten auf das glänzend schwarze Haar und die edel geschwungenen Lippen unter dem Bart. Ihr ganzes Leben lang hatte Anna gehört, dass gutes Aussehen ein Zeichen göttlicher Gnade sei. Wieder fragte sie sich, wie jemand, der so schön war, schlecht sein konnte.
»Ein Fluch bindet zwei Menschen aneinander«, erwiderte Raoul endlich. Seine Stimme klang lauernd, und sie war sich nicht sicher, ob er sie verspottete. »Unauflöslich, mehr als ein Eheversprechen.«
Er musste sie verspotten. Fieber oder Hass jagte glühende Schauer durch ihren Körper. Wenn er glaubte, mit ihr spielen zu können, nur weil sie ein einfaches Dorfmädchen war, würde sie ihn enttäuschen!
»Nach Maurus’ Tod hast du Ulrich die Briefe seines Vaters vorgelesen, nicht wahr?«, fragte Raoul. »Hat er seinem Vater von mir berichtet?«
Daher die trügerische Freundlichkeit! Trotzig warf Anna den Kopf in den Nacken, dass Blätter und Erde aus ihren Locken fielen. Sie hatte sich selbst darüber gewundert, auch wenn sie nicht viel von dem erfahren hatte, was Ulrich seinem Vater mitgeteilt hatte. Aber das würde sie Raoul niemals verraten, und wenn er den Teufel selbst zur Hilfe rief!
Er kam auf sie zu und blieb hoch aufgerichtet vor ihr stehen, dass der Saum seiner Cotte sie fast berührte. »Ich kann es auch aus dir herausprügeln«, drohte er leise.
Sie dachte an seine warmen Augen, als sie in seinem Arm aufgewacht war. Entschlossen hielt sie ihm stand. »Dann liegt Euch ja viel daran.«
Einen Moment war sie nicht sicher, ob sie nicht zu weit gegangen war. Seine Lippen waren schmal geworden.
»Du bist leichtfertig«, sagte er endlich. »In deinem Hass wie in der Liebe. Hast du dir je Gedanken gemacht, was es bedeutet hätte, von Ulrich schwanger zu werden? Unehrlich geboren«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Die dunklen Augen brannten. »Deine Kinder dürften seinen Namen nicht tragen, weder sein Wappen noch seine Farben.«
Auch er trug weder Wappen noch Farben einer edlen Familie. Anna starrte ihn ungläubig an. »Ihr seid …«
»Ein Bastard«, vollendete er hart. »Ich dürfte mich nicht einmal Ritter nennen. Wenn jemand wüsste, wer ich wirklich bin, hätte ich weniger Rechte als du. Mein Vater hat mich verraten, ehe ich geboren wurde. Nur weil Ulrich im Ehebett gezeugt wurde, nennt er ihn seinen Sohn. Ist das gerecht? Ich will nur, was mir zusteht.«
Ulrichs Bruder! Vergeblich suchte Anna in seinem Gesicht eine Ähnlichkeit. Sie erinnerte sich, wie die beiden Männer gekämpft hatten. Es war dieselbe wütende Entschlossenheit gewesen, mit der sie aufeinander losgegangen waren. Aber dann dachte sie an Ulrichs wilde Küsse auf ihrer Haut, und ein Schauer überlief sie. Nein, dachte sie. Unmöglich.
»Ihr habt nichts mit Ulrich gemein!«, schrie sie ihn an und sprang auf. »Er hätte Kaltenberg niemals niedergebrannt!«
»Ich habe mich an Friedrich gewandt, weil ich sicher war, dass er den Lechrain erobern würde«, erwiderte Raoul scharf. »Es ist mir gleich, welcher König es beherrscht, aber ich liebe das Land, auf dem mein Vater geboren wurde. Und ich liebe meinen Vater, obwohl er mir nichts gegeben hat – nicht einmal seinen Namen!«
Das letzte Abendrot fiel durch die herbstlich bunten Blätter und warf einen goldenen Schimmer auf seine gebräunte Haut. Anna fiel der frisch verheilte Schnitt auf seinem Handrücken auf, den Ulrich ihm beigebracht hatte. Sie musste sich mühsam bewusst machen, dass Raoul bei allem, was er tat, eine Absicht verfolgte – und meistens keine gute.
»Ich soll Euch helfen, Ulrich Kaltenberg zu nehmen?«, fragte sie scharf.
Kalt erwiderte er: »Ich könnte ihm noch viel mehr nehmen.« Plötzlich kam er auf sie zu und küsste sie.
Anna war so überrascht, dass sie sich nicht einmal wehrte. Sie spürte den schlanken kräftigen Körper ihres Feindes, die Lederhandschuhe auf ihren Armen, die Gürtelbeschläge. Der fremde Duft hing in seinem Haar, das auf ihr Gesicht fiel. Hart und fordernd presste sich sein Mund auf ihren, und wider Willen öffneten sich ihre Lippen. Anna erschrak über sich selbst und biss zu.
Mit einem Schrei fuhr Raoul zurück und berührte seine blutende Lippe.
»Und wenn Ihr der Teufel selbst wärt, könntet Ihr mich nicht auf Eure Seite ziehen!«, zischte sie. Ihr Gesicht glühte. »Ich werde zu Ulrich zurückkehren.« Sie drehte sich um und lief den Pfad hinauf.
Etwas zischte, dann steckte ein kurzer Bolzen in dem Baum direkt neben ihr. Raoul ließ die Armbrust sinken. »Das glaube ich kaum«, erwiderte er ruhig.
Anna war stehen geblieben und schnappte nach Luft. Schon damals war ihr die Waffe aufgefallen, die im Krieg als unehrenhaft galt. Siedend heiß wurde ihr klar, dass er sie schon bei ihrer ersten Begegnung mühelos von hinten hätte niederschießen können.
Hufschlag näherte sich. Anna wollte aufatmen, doch Raoul war mit wenigen Schritten bei ihr. Mit geübten Bewegungen stemmte er die Armbrust auf den Boden, um sie neu zu spannen. Er machte eine Geste mit dem Kopf, und Maimun lief den Pfad hinauf. Anna wollte an ihm vorbei, doch er hielt sie mit dem linken Arm zurück. So dicht hinter ihm konnte sie jeden seiner Atemzüge spüren.
Maimun kam zurück. »Es ist Heinrich von Wolfsberg!«
Überrascht bemerkte sie, dass Raoul beim Namen des gefürchteten Raubritters die Waffe weglegte.
Ein graues Pferd trabte schwerfällig heran. Raoul ging ihm entgegen und legte ihm die Hand auf den Hals. Der Reiter war so ärmlich gekleidet, dass man ihn für einen Bauern hätte halten können: eine verschlissene Cotte und eine Bundhaube, die ihre besten Tage auch schon hinter sich hatte. Doch das Gesicht hätte Anna überall wiedererkannt.
Tückische grüne Augen, ein grau durchsetzter Bart, der von einer Narbe geteilt wurde. Der fleischige Mund verzog sich zu einem Grinsen. Sie erinnerte sich an dieses Lächeln – als er Martin erschlagen hatte. Anna taumelte zurück. Ihr wurde eiskalt, sie starrte von ihm zu Raoul. Im ersten Moment fühlte sie gar nichts – nur wie ihr Mund trocken wurde und ein Zittern sie überlief. Sie war wie betäubt.
»Ihretwegen wolltet Ihr meine Hilfe?«, fragte Heinrich von Wolfsberg. Er lachte spöttisch. »Sie fällt Euch doch nur zur Last. Tötet sie, das hättet Ihr schon längst tun sollen!«
Anna wusste nicht, vor wem sie mehr Angst hatte: vor dem älteren Raubritter oder vor dem schlanken dunkelhaarigen Mann an seiner Seite. Das Licht spielte ein verwirrendes Spiel auf Raouls Cotte. Er maß sie kurz und berührte seine blutende Lippe. »Nicht jetzt«, meinte er mit undurchschaubarem Gesicht.
»Sie gefällt Euch, was?«, grinste der Fraß. »Dann nehmt sie, bis Ihr genug von ihr habt, und schneidet ihr dann die Kehle durch!«
»Ich habe Euch nicht gerufen, um mir das Gefasel eines lüsternen alten Mannes anzuhören!«, erwiderte Raoul so heftig, dass Anna zusammenschrak. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine steile Falte. Er presste Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel.
»Ach, das ist der Föhn, er macht Euch reizbar. Man bekommt Kopfschmerzen davon, aber Ihr werdet Euch schon daran gewöhnen.« Schwerfällig kam der Raubritter aus dem Sattel. Er warf einen Blick nach Anna, und ihr fiel auf, dass seine Augen durch das häufige Kauen von Bilsenkraut rot geädert waren. »Das höfische Gehabe steht Euch nicht, Raoul. Dabei habe ich es an Euch geschätzt, dass Ihr diese verlogene Maske nie getragen habt. Ein Ritter ist zum Töten ausgebildet, ganz gleich ob ihn der König dafür bezahlt oder ob er es auf eigene Rechnung tut. Eure Worte, mein Freund!«
»Haltet den Mund!«, erwiderte Raoul schroff. »Auf dieser Seite des Lechs sage ich Euch, was Ihr zu tun habt, findet Euch damit ab!«
Heinrich von Wolfsbergs Hand fuhr zum Schwert. Raoul erwiderte den Blick kalt. Überrascht bemerkte Anna, wie der Ältere sich unbehaglich mit der Zunge über die fleischigen Lippen fuhr. So dankbar sie für Raouls Schutz war, fragte sie sich doch, was er getan haben konnte, dass sogar Heinrich von Wolfsberg ihn fürchtete.
Wie um den Anflug von Scheu zu bekämpfen, hob der Fraß die Flasche an seinem Gürtel. Der Geruch von Met stieg auf. Er nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Mund. »Meinetwegen.«
Auf Raouls Handbewegung hinkte er zum Feuer und ließ sich nieder.
»Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben«, versuchte Maimun sie zu beruhigen. »Sie sind sich im Heer König Friedrichs begegnet. Raoul hat ihn gerufen, weil er die Gegend kennt, aber mehr verbindet sie nicht.«
Anna hockte sich etwas abseits. In der Gewalt ihres Feindes fühlte sie sich ohnehin alles andere als sicher, und dass er mit dem Fraß im Bund war, empfahl Raoul noch weniger. Während sie fieberhaft überlegte, wie sie fliehen konnte, hörte sie mit halbem Ohr den Gesprächen zu.
»Was bringt Ihr für Neuigkeiten?«, fragte Raoul und reichte seinem Gast den Becher. Der Ritter leerte ihn in einem Zug, während Raoul einen toten Hasen mit dem Dolch aufschlitzte. Vermutlich hatte er ihn gefangen, während Anna bewusstlos gewesen war.
»Es gab wieder keine Entscheidung. Die Heere der beiden Könige standen sich bei Buchloe gegenüber. Bewegungslos wie zwei Kreuzottern, die auf die Gelegenheit zum Zuschlagen warten. Bis zum Bauch sollen die Gäule im Wasser gestanden haben. Ludwig hätte Friedrich aufreiben können, aber er hat den Vogel wieder mal ungerupft gelassen. Wäre ich Friedrich, hätte ich ihm einen Meuchelmörder geschickt. Stattdessen sind sie abgezogen. Weiß der Teufel, warum.«
Das dunkle Haar, das ihm ins Gesicht fiel, ließ Raouls Blick noch intensiver wirken. Mit wenigen Schnitten hatte er die Eingeweide des Hasen entfernt und steckte die Waffe in die Erde. Anna wünschte, der Landrichter würde ihn wegen Wilderei hängen. Seinem höhnischen Lächeln nach schien er ihre Gedanken zu erraten. Er hängte das blutige Fleisch über einen Ast und wusch sich die Hände unter der Wasserkanne, die Maimun für ihn hielt.
»Ludwig hat dann seinen Bruder bei Wolfratshausen belagert. Aber bis er die Burg eingenommen hatte, war der Vogel schon ausgeflogen«, fuhr der Fraß fort. Er hatte sich nachgeschenkt und leerte auch den zweiten Becher. »Ende des Jahres soll der Wittelsbacher in Landsberg sein. Wenn Ihr klug seid, wartet Ihr bis dann. Hermann von Rohrbach ist in seinem Gefolge – wenn er wirklich hier war, dann nur kurz. Er hat vielleicht keine Lust, die Frucht einer kurzen Liebschaft als seinen Sohn anzuerkennen. Aber Ludwig braucht Ritter für sein Heer, und wenn es ihn nur einen Federstrich kostet, umso besser. Ich werde mich in Zukunft auf den Schlachtfeldern vor Euch in Acht nehmen.« Er lachte dröhnend.
»Ich bete, dass er es tut«, stieß Raoul zwischen den Zähnen hervor. Ein kaltes Feuer loderte in seinen Augen. »Nichts und niemand wird mich hindern, mein Erbe anzutreten. Wenn ich müsste, würde ich in Kaltenberg keinen Stein auf dem andern lassen.«
Anna lief es eiskalt über den Rücken. Dann schlug ihre Angst in offene Wut um. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick lang zweifeln können, dass er ein gewissenloser Verbrecher war! Sie raffte ihre Kleider und sprang auf. Raoul kam ihr nach und hielt sie fest. Eine beherrschte Wut lag in seiner Bewegung, die etwas von einem Raubtier hatte. Eine Bö fegte ihr Haare und Blätter ins Gesicht. »Man sollte Euch erschlagen wie einen reißenden Wolf!«, stieß sie hervor.
Raoul zischte etwas, um sie zum Schweigen zu bringen, doch Anna konnte sich nicht mehr zurückhalten. Ungehemmt brach sich ihr Hass Bahn. »Wolltet Ihr Euch mit diesem Abschaum um den Verstand trinken, ehe Ihr mich tötet?«, schrie sie ihn an.
Heinrich von Wolfsberg riss das Schwert hoch. Der Met triefte von seinen Lippen, und die geröteten Augen stierten sie hasserfüllt an. Maimun griff nach seinem Arm und zwang ihn, sich wieder zu setzen.
Anna kümmerte sich nicht darum. Wahrscheinlich konnte man sie bis nach Kaltenberg hören, aber sie hatte nichts mehr zu verlieren. »Und ich war noch dankbar, dass Ihr mich aus dem Lech gerettet habt!«
Raoul stieß einen Fluch in seiner fremden Sprache aus. »Ich bekomme Lust, dich wieder hineinzuwerfen!«, erwiderte er heftig. Er sah an ihren mit Erde verschmierten Kleidern herab: »Schaden würde dir ein Bad ohnehin nicht!« Wütend bohrten sich Annas Augen in seinen muskulösen Rücken, als er zum Feuer ging. Sie hasste ihn mehr denn je.
Raoul fand seine Beherrschung schnell wieder, doch die dunklen Blicke, die Anna immer wieder trafen, verrieten, dass seine Ruhe nur äußerlich war. Der Fraß wartete sichtlich nur auf einen günstigen Moment, ihr die Kehle durchzuschneiden. Und wenn Raoul ihn nicht hinderte, dann nur deshalb, weil sie für ihn lebend mehr wert war – vielleicht sogar als Faustpfand gegen Ulrich. Annas Puls raste, sie wusste, dass sie drei Männern niemals entkommen konnte. Aber Raoul selbst hatte sie auf einen Gedanken gebracht. Sie wartete einige Zeit, dann stand sie auf.
»Ist es in Eurem Land üblich, die Frauen nicht einmal bei ihrer Notdurft in Ruhe zu lassen?«, kam sie seiner misstrauischen Frage zuvor. Doch kaum war sie hinter den Zweigen verschwunden, lief sie zu den Pferden. Die Tiere schnaubten unruhig. Maimuns Satteltasche lag noch da, wo er sie vorher abgelegt hatte. Fahrig suchte sie darin nach dem Opium. Raoul hatte gesagt, es betäube, doch sie hatte keine Vorstellung, wie viel sie brauchen würde. Unschlüssig wog sie einen der schwarzen Klumpen in der Hand und warf einen raschen Blick unter dem Bauch des Pferdes zum Feuer. Die drei Männer redeten in heftigem Ton durcheinander. Entschlossen brach Anna ein großes Stück ab. Es gelang ihr, das zerkleinerte Kraut unbemerkt in die Schüssel mit der Abendsuppe zu mischen. Keiner der Männer schöpfte Verdacht, als sie das Essen verächtlich von sich wegschob. Erleichtert bemerkte sie, dass alle noch zusätzlich Opiumwein tranken.
Es dauerte eine Weile, bis die Gespräche verstummten. Heinrich von Wolfsberg stierte aus glasigen Augen vor sich hin, ein Grinsen lag auf seinem grausamen Mund. Maimun schnarchte leise, und Raoul lag reglos an seinem Platz. Nicht einmal sein Atem war zu hören. Anna kämpfte gegen ein schlechtes Gewissen. Was, wenn sie ihn umgebracht hatte? Sie schob die Bedenken von sich, raffte das kleine Messer auf und entfernte sich lautlos vom Lager. Dann begann sie zu rennen.
Dornensträucher zerrten an ihrer Cotte, unter den groben Schuhen spürte sie Wurzeln. Der faulige Geruch des Spätherbstes hing in der Luft – taudurchnässte Blätter, giftige Pilze und von Eichhörnchen angefressene Eicheln und Bucheckern. Irgendwo heulte ein Wolf. Sie schlug die Richtung nach Burg Geltendorf ein, die nur wenige Meilen von Kaltenberg entfernt lag.
Mit brennender Lunge hetzte Anna durch den Wald. Der Föhn war zu einem Sturm geworden und fegte ihr die Haare ins Gesicht. Sie sah kaum die Hand vor Augen, stieß gegen Stämme und ritzte sich die Hände an der rauen Borke. Mit einem Schrei stolperte sie über eine Wurzel, schlug ins raschelnde Laub und blieb keuchend liegen. Sie hatte ihre Kräfte überschätzt, aber sie wollte nicht aufgeben. Mühsam raffte sie sich auf und lief weiter. Licht schimmerte vor ihr durch die Bäume. Der Wind fuhr unter ihre schweißfeuchten Kleider, und frierend schlug sie die Arme vor die Brust.
Schattenhaft machte sie die Umrisse einer Scheune oder eines Stalles am Waldrand aus. Ein Feuer brannte, auf aufgeschüttetem Stroh und Decken lagen Menschen. Jemand sang – eine Frau. Sie trug ihr Haar offen. Anna fiel die Wäsche auf, die zwischen den Bäumen aufgehängt war: rot oder bunt. Keine anständige Bauersfrau hätte so etwas angezogen, dachte sie erschrocken. Ihr fielen die Gerüchte ein, die man sich über das fahrende Volk erzählte: sittenlose Lüsternheit sagte man ihm nach, Diebereien. Verzweifelt rief sie die heilige Afra an.
Ein Mann trat in den Feuerschein und warf etwas in die Glut. Sie erkannte braunes, kurzgeschorenes Haar. Das Feuer warf sein flackerndes Licht auf sein Fuchsgesicht, und Anna stieß einen Stoßseufzer aus. Halblaut rief sie ihn beim Namen: »Falconet?«
Überrascht richtete er sich auf. Die Frau lief zu ihren schlafenden Kindern, und ein kräftiger Mann kam heran: ein bärtiger Geselle, der sich sofort einen Stock griff.
Falconet legte dem Bärtigen die Hand auf den Arm, und der senkte den Stock. »Anna?«, rief er. »Komm, du brauchst keine Furcht zu haben!«
Anna war sich dessen keineswegs sicher. Doch sie hatte keine Wahl.