Als der Morgen anbrach, lockte der Laienbruder Bertram leise pfeifend seine Schafe. Er ahnte nichts von dem schwarzen Ritter, über den sich die Dörfler unheimliche Geschichten erzählten. In den Jahren, die er nun schon mit den Tieren lebte, hatte er diese Stunde kurz vor Sonnenaufgang lieben gelernt. In einiger Entfernung konnte Bertram den Turm von Kaltenberg erkennen, und hinter ihm schälten sich die Mauern der Burg Geltendorf aus dem Dunst. Die einsame Fackel am Turm bewies, dass der Vogt auf seinem Posten war. Später würde Bertram die gewundene Straße zur Kirche hinaufgehen. Wie üblich würde er auf halber Strecke einen Morgentrunk beim Bauern Xaver nehmen, denn er war nicht mehr der Jüngste, und der Weg war steil. Jetzt war der bewaldete Vogelberg sein Ziel, der vor ihm aus dem Zwielicht ragte. Wo sich sonst die Haselzweige unter der Last der Nüsse beugten, hatten hungrige Dorfbewohner längst alles Essbare abgeerntet.
Verwundert beobachtete Bertram, wie sich seine Tiere blökend zusammendrängten. Auch der zottige schwarze Hirtenhund konnte sie nicht zum Gehen bewegen. Der Bruder umklammerte seinen Stock fester. Aus kurzsichtigen Augen schielte er den Pfad entlang zum Wegkreuz. Dort lag etwas.
Der Mönch bekreuzigte sich. Er hatte eine heilige Scheu vor der Stelle, wo sich zwei Straßen trafen. Nicht umsonst galten diese Orte als Tummelplatz böser Geister. Gebete murmelnd wagte er sich näher.
»Bruder Bertram! Wir haben auf Euch gewartet!«
Der Mönch dankte Gott, als er den Gaukler Falconet erkannte. Zusammengesunken im Halbschlaf hatte er ausgesehen wie ein Kobold. Jetzt stieß er das Mädchen an, das neben ihm kauerte. »Das ist Anna aus Kaltenberg«, stellte Falconet sie vor. »Sie bittet Euch um Hilfe.«
Wohlwollender musterte Bertram die Gestalt, die unter viel zu großen dunklen Männerkleidern kaum zu erkennen war. Ein halbes Kind noch, müde und verzweifelt, wie die Schatten unter ihren blauen Augen bewiesen. Das Haar war notdürftig geflochten, sie hatte alles vermieden, was an die losen Sitten der Gauklerinnen erinnerte. Ein Christenkind, das seine Hilfe brauchte. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich bitte Euch, eine Botschaft zu überbringen«, erwiderte das Mädchen. Obwohl ihre Stimme zitterte, hörte man, dass sie klangvoll war. »An Herrn Ulrich von Rohrbach.«
Nachdem Anna den Bruder zur Burg geschickt hatte, fühlte sie sich etwas besser. Sie hatte getan, was sie konnte: Durch ihren Boten würde Ulrich erfahren, wer Raoul war und was er plante. Jetzt konnte sie an sich denken. Obwohl die Gaukler ihr einen Platz im Stall überlassen hatten, fühlte sie sich wie gerädert. Ihre Prellungen schmerzten, ihr Haar war verfilzt und ungewaschen. Außerdem hatte sie fast nicht geschlafen, weil die Frau mit ihrem Gefährten die halbe Nacht schamlos gelacht und gestöhnt hatte. Anna hoffte nur, dass Ulrich sie so schnell wie möglich nach Kaltenberg zurückholen würde.
»Ich fürchte, das kann er nicht«, meinte Falconet ungewohnt ernst, als sie es aussprach. »Wenn er dir hilft, werden die Leute erst recht glauben, dass du ihn verhext hast.«
Wieder wurde Anna klar, wie wenig sie darauf vorbereitet war, auf sich allein gestellt zu sein. Der alte Seyfrid hätte sie mit dem Wasser aus der Ulrichsquelle in Eresing besprengt, wie es die Leute seit jeher taten. Vielleicht war das nicht das Schlechteste, dachte Anna. Eresing war nicht weit, und sie hatte Trost und Schutz nötiger denn je.
Eine Linde breitete ihre Arme über die winzige Kapelle am Waldrand. Beerendolden von Holunderbüschen färbten die Mauern mit ihrem blutroten klebrigen Saft. Wie sie es von Kindheit an gewohnt war, nickte sie den Geistern zu, die der Legende nach in den Sträuchern wohnten. Dann warf sie sich vor dem Gnadenbild nieder.
Auf dem kalten Stein fror sie erbärmlich, und vom bedeckten Himmel fiel kaum Licht durch die Pfeiler. Anna kämpfte gegen das trockene Schluchzen an, das in ihrer Kehle aufstieg. Falconet hatte recht, Ulrich konnte ihr nicht helfen. An wen sie sich auch wandte, sie brachte ihn in Gefahr – die Anklage der Hexerei war eine tödliche Waffe. Sie wünschte, sie hätte Martin fragen können, was sie tun sollte. Seine ruhige Art hatte ihr das Gefühl gegeben, dass es immer Hoffnung gab. Aber sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte, sie fand keinen Ausweg. Ein Mann, der auf der Straße lebte, konnte eine reiche Witwe suchen, die ihn heiratete, oder als Spielmann einen Beschützer finden. Eine fahrende Frau war nicht viel besser als eine Hure.
Ein eisiger Luftzug strich über ihren Nacken, ihre Finger waren klamm. Ihr Stolz hatte sie so weit gebracht, warf sie sich vor. Noch vor wenigen Tagen war sie die ehrbare Tochter eines Schmieds gewesen. Hätte sie nicht von dem Burgherrn geträumt, wäre sie noch in Kaltenberg. Aber jetzt würde Raoul sie töten, es war ein Wunder, dass er es nicht längst getan hatte. Straßenräuber konnten sie misshandeln und zum Sterben liegen lassen. Der Winter würde die Wölfe wieder nah an die Dörfer treiben. Selbst wenn sie den Tieren entkam, allein auf der Straße würde sie in wenigen Tagen verhungern oder erfrieren. Sie musste zurück, oder sie würde den kurzen Rest ihres Lebens bei den Gauklern verbringen.
Hilfesuchend sah sie zu dem Gnadenbild auf. Der huldvoll lächelnde Heilige hatte wenig mit dem Ulrich gemeinsam, den sie liebte. Je länger sie auf der Burg gewesen war, desto besser hatte sie ihn zu kennen geglaubt. Niemals würde sie ihn aufgeben! Ulrichs Vater würde sie wirklich töten müssen, wenn er sie von ihrem Geliebten trennen wollte. Ketzerei! Es war lächerlich, dieses Lied … Anna dachte nach. Raoul musste ihr mit seinem Opium den Kopf vernebelt haben! Warum war sie nicht gleich dar auf gekommen? Wenn das Lied, das sie gesungen hatte, ketzerisch war, müsste Falconet das doch wissen. Schließlich hatte er es ihr beigebracht. Sie würde ihm einiges zu sagen haben!, dachte sie zornig. Das Mindeste, was er ihr schuldig war, war, ihre Unschuld zu beweisen.
Anna atmete auf. Es war nur ein Hoffnungsschimmer, aber sie fühlte sich besser. Sorgfältig füllte sie ihre tönerne Kanne mit dem heiligen Wasser und wischte sie mit einem Zipfel ihrer Cotte ab. Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie eine Bewegung auf der Straße. Unwillkürlich drückte sie sich hinter einen Pfeiler und blieb abwartend stehen. Der Holunder machte sie beinahe unsichtbar.
Ein Reiter näherte sich. Annas Finger klammerten sich fester um das heilige Wasser, als sie ihn erkannte.
Raoul zügelte sein Pferd mitten auf der Wiese. Die schwarzen Augen schweiften über den Wald zur Kapelle. Wind fuhr durch sein dunkles Haar, die Hände in den Lederhandschuhen lagen ruhig auf dem Sattel.
Sie hatte ihn also mit dem Opium nicht umgebracht. Im Gegenteil, er wirkte geradezu unverschämt bei Kräften. Anna dachte daran, wie er sie geküsst hatte. Hass und Scham jagten eine Hitzewelle durch ihren Körper. Zitternd stand sie an den kalten Pfeiler gepresst und verfolgte jede seiner Bewegungen durch die vorstehenden Holunderzweige. Stumm betete sie, dass er sie nicht bemerkt hatte.
Einige unendlich scheinende Augenblicke schaute Raoul herüber. Es war derselbe forschende Blick wie bei ihrer ersten Begegnung – derselbe Blick, der ihr das Gefühl gab, er wüsste alles über sie. Dann hielt er die Finger der einen Hand gegen die Nasenwurzel, als habe er Kopfschmerzen oder denke krampfhaft über etwas nach. Endlich hob er die Zügelhand und ritt zurück nach Eresing.
Als Anna zu den Gauklern zurückkam, erfuhr sie zu ihrem Erschrecken, dass Raoul sie dort bereits gesucht hatte. Beeindruckt erzählten die Kinder von dem feurigen Pferd, dem fremdartigen Schwert und der ungewöhnlichen schwarzen Kleidung. Aber offenbar war man ihm mit dem üblichen Misstrauen des fahrenden Volkes gegenüber einem Ritter begegnet. Er hatte nichts in Erfahrung bringen können.
Erwartungsvoll fragte sie Falconet und dann die anderen Gaukler nach dem Lied, das ihr die Anklage eingebracht hatte. Aber Falconet behauptete, er wüsste auch nicht mehr darüber als sie. Er hätte es von einem Chorherrn, aber der hätte es nicht gedichtet. Von den andern kannte es keiner, zumindest taten sie so. Wahrscheinlich logen sie und wollten nur Geld, dachte Anna wütend. Sie hätte ihrer Mutter glauben sollen: Gaukler waren schmutzig, liederlich und betrogen, wo sie nur konnten. Der bärtige Matthäus brummte, er könne weder lesen noch singen. Niemand wusste viel über ihn, offenbar war er nicht einmal mit seiner Geliebten lange bekannt. Der Vater ihrer Kinder war er jedenfalls nicht. Der große Blonde mit dem ungepflegten langen Haar gab sich geheimnisvoll, aber vermutlich tat er sich nur vor den andern Männern wichtig. Er hieß Steffen und war ein Goliarde, ein entlaufener Kleriker. Offenbar hatte er sich gegen die Schweizer verdingt und war auch erst tags zuvor zu Falconet gestoßen. Und die Art, wie er Anna begaffte, verriet überdeutlich, dass er eine Bettgenossin suchte.
»Heute kannst du noch einmal hier schlafen.« Eva, die blonde Frau mit den Kindern, wies auf das lose Heu in dem verlassenen Schafpferch. Die Bäume hatten Eicheln und kleine Zweige auf dem Dach abgeladen. Durch Löcher in den morschen Schindeln fielen sie herein und drückten beim Liegen unangenehm in den Rücken. »Aber morgen früh verschwindest du, oder du suchst dir Arbeit. Ich werde dich jedenfalls nicht durchfüttern.«
Am liebsten hätte Anna erwidert, dass sie keineswegs freiwillig mit diesem verlausten, verlogenen Pack im Stall hauste. Aber besser, sie verscherzte sich ihre letzte Zuflucht nicht auch noch.
»Mal geht es gut im Leben, dann wieder bergab«, sagte Eva und wandte sich zur Tür. »Finde dich damit ab. Alle Pfaffen mit ihrem Latein können uns nicht erklären, warum.«
Anna starrte ihr nach. Alle Pfaffen mit ihrem Latein. Warum hatte sie nicht sofort daran gedacht? Das Lied, das ihr die Anklage eingebracht hatte, war lateinisch. Und nur ein Kleriker konnte so gut Latein sprechen. In blendender Klarheit sah sie vor sich, was sie zu tun hatte:
Sie musste den Mann finden, der dieses Lied geschrieben hatte. Konnte sie beweisen, dass er kein Ketzer war, dann zerfiel auch die Anklage gegen sie zu Staub. Wenn er nur einen Funken Ehre besaß, würde er für sie bürgen. Und niemand würde es dann noch wagen, sie eine Hexe zu nennen. Nicht einmal Hermann von Rohrbach.