»Besser, wir gehen einzeln«, schlug Matthäus vor. »Wenn wir kniend hinüberrutschen, haben wir mehr Halt.«
Der Holzsteg, an dem die Gaukler standen, war fast überspült, und die fauligen Bohlen wirkten alles andere als vertrauenswürdig. Nach dem Regen der letzten Wochen war die Amper bei ihrem Austritt aus dem Ammersee stark angeschwollen. Tief stand das Uferschilf im schlammigen Wasser. Anna dachte daran, wie sie so auf den Lech gesehen hatte, kurz bevor sie im schäumenden Wasser um ihr Leben gekämpft hatte. Trotz der Kälte brach ihr der Schweiß aus. Zu gut wusste sie, wie gefährlich die Amper wegen ihrer heimtückischen Strudel war. Der bloße Anblick machte sie schwindlig. Aber die Gaukler wollten nach München, und Ulrich hatte auch dorthin gewollt. Vielleicht konnte sie ihn dort finden.
Steffen sprang mit breiten Beinen auf den Steg. Offensichtlich wollte er angeben. Den ganzen Tag schon hatten er und Matthäus sich gegenseitig zu übertrumpfen versucht. Jeder wollte den Anführer machen. Auf den algenüberzogenen Brettern glitt er aus, und seine Bundhaube fiel ins Wasser. Mit einem Fluch wollte er sie herausfischen, doch zu spät: Ein Strudel hatte sie erfasst und zog sie in die Tiefe. Annas Mund wurde trocken.
»Stimmt es, dass sie dich ertränken wollten?«, fragte das kleine Mädchen. Anna schluckte, aber sie wurde das Gefühl nicht los.
»Wenn du eine Hexe wärst, hättest du davonfliegen können, oder?«
»Halt den Mund, Resi!«, fuhr Eva dazwischen. Matthäus hatte dem Jungen zugenickt und schob ihn vor sich auf die Planken. Der Steg schwankte, als sie sich langsam auf allen vieren hinüberbewegten. Anna verkrampfte die Hände ineinander, als das Kind auf dem nassen Holz rutschte, doch Matthäus hatte schnell zugegriffen. Erleichtert sah sie, wie die beiden endlich an Land krochen. Steffen ging als Nächster, dann kam Eva mit ihrer Tochter. Die kleine Resi kletterte sicher wie eine Katze und schien die Abwechslung zu genießen. Falconet stieß Anna an. Doch sie schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf und bedeutete ihm voranzugehen.
Er hatte etwas über die Hälfte zurückgelegt, als ein Windstoß seinen Mantel blähte. Der Gaukler zuckte zusammen und rutschte ab.
Klatschend fiel er ins Wasser. Eine Sturmbö übertönte das Geräusch, es ging so schnell, dass er nicht einmal hatte schreien können. Trotz der scheinbar ruhigen Oberfläche war die Strömung stark, und er musste alle Kraft aufwenden, um sich an den Planken festzuhalten. Die anderen drüben hatten noch nichts bemerkt, Eva war damit beschäftigt, ihren Sohn abzutrocknen, Matthäus leerte das Wasser aus seinen Schuhen, und Steffen nahm einen Schluck aus der Flasche an seinem Gürtel.
Der Gedanke an die schrecklichen Augenblicke, als der Lech sie mitriss, war so stark, dass Anna am liebsten davongelaufen wäre. Mühsam überwand sie sich, Falconet zu helfen. Sie ließ sich auf die Knie sinken und kämpfte sich Zoll für Zoll vorwärts. Das Holz unter ihren Händen war kalt und glitschig, ihre zitternden Hände konnten es kaum halten. Eine eisige Welle lief über ihre Finger. Annas Herz raste. Sie rief nach den andern, aber sie wagte nicht aufzusehen.
Vorsichtig legte sie sich flach auf den Steg. Mit einer Hand klammerte sie sich an die Planken, die andere streckte sie aus. Sie hörte Falconet vor Angst und Anstrengung keuchen, als er danach griff. Ihre nassen Finger klammerten sich so fest in das fasrige Holz, dass sie sie kaum noch spürte. Mit aller Kraft bemühte sie sich, dem Zug standzuhalten.
»Halt ihn noch einen Augenblick!«, schrie Matthäus. Er hatte sie bemerkt und kroch auf allen vieren langsam heran.
Anna spürte die Bewegung, als er den Gaukler wie eine Katze am Kragen packte. Dann kam Falconet dumpf neben ihr auf den Steg zu hocken wie eine gebadete Maus. Vom Ufer her hörten sie die anderen erleichtert johlen. Die durchnässten Kleider klebten an seinem hageren Körper. Er zitterte am ganzen Leib, und sein Fuchsgesicht war blass. Nur sein Witz schien unversehrt.
»Sei froh, dass dir das nicht passiert ist«, japste er. »Du hast nur ein Kleid, und Steffen hätte darauf bestanden, dass du es ausziehst.«
Anna war so erleichtert, dass sie haltlos zu kichern begann. »Ich hätte dich ersaufen lassen sollen«, stieß sie hervor. »Ulrich hatte recht, du hast ein ungewaschenes Maul!«
Es dauerte eine Weile, bis sie sich halbwegs am Feuer getrocknet hatten. Mit noch klammen Kleidern gingen sie weiter entlang der Ufermoore des langgezogenen Ammersees. Das Schilf raschelte, und die Kinder tuschelten etwas von Dämonen. Ein Seufzen zitterte in der Luft.
Anna zuckte zusammen. Noch nie hatte sie etwas Ähnliches gehört. Selbst Steffen umfasste seinen Stock fester. Der unheimliche Laut schwoll leicht an, dann erstarb er.
»Wind im Röhricht«, lachte Falconet und wies auf das Schilf. »Sorgt euch lieber um die natürlichen Gefahren. Davon gibt es genug.«
Sie folgten den Mooren auf dem Ostufer nach Süden. Anna war zwar früher ab und zu nach Landsberg gelaufen, aber die Gaukler gingen schnell, und ihre Beine wurden allmählich schwer. Bei jedem Schritt zog es in den Knien. Ihre Kleider waren feuchtkalt und stanken erbärmlich. Wie ein wildes Tier lebte sie, dachte Anna. Aber trotzdem … Stärker denn je prickelte das Leben in ihren Adern. Selbst die Luft schmeckte intensiver hier draußen, wo kein Qualm sie beschwerte.
Als sie endlich rasteten, trieb der Durst Anna hinunter zum See. Hinter sich hörte sie die Gaukler bei ihrer Mahlzeit lachen. Zumindest für den Augenblick hatten die Männer ihre Rivalität vergessen. Auch ihr Magen knurrte, aber sie hatte nichts bei sich und wollte den anderen nicht beim Essen zusehen. Der See hatte ein tiefes, kaltes Blau, und dankbar zog sie die Decke, die ihr Falconet gegeben hatte, fester um die Schultern. Sie trank gierig. Am Horizont über dem Wasser waren die Zugspitze und die Ammergauer Berge längst tief verschneit. Im Rittersaal auf Kaltenberg brannte jetzt ein warmes Kohlenbecken, dachte sie sehnsüchtig. Ulrich hätte sie heimlich in die Arme genommen und sie geküsst …
Das Schilf raschelte, Schritte näherten sich. Steffen ließ sich bei ihr nieder. »Nun hab dich nicht so«, hielt er sie zurück, als sie aufstehen wollte. »Ich bin gut darin, gebrochene Herzen zu trösten.«
»Ich brauche keinen Trost«, erwiderte Anna schroff. Männer seines Standes hatten nicht den besten Ruf, und er hatte sie schon gestern begafft. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können, sich abseits zu setzen! Wenn sie so weitermachte, würde sie nicht lange überleben.
»Wie du willst. Ich dachte, du wolltest etwas über das Lied wissen.«
Langsam ließ Anna sich wieder nieder. Misstrauen und Neugierde stritten in ihr. Jeder Teil seines Gesichts hätte für sich gut ausgesehen, aber da alles zu groß geraten war, wirkte es grob. Der Bursche wirkte, als sei er hinter jedem Rock her und hätte ansonsten bestenfalls Fressen und Bier im Kopf. Aber er hatte behauptet, er sei Mönch in Steyr gewesen. Und sie hatte ihn schon im Verdacht gehabt, mehr zu wissen, als er zugab.
Breitbeinig flegelte sich Steffen neben sie ans Ufer und protzte in stockendem Latein: »Meum pectus sauciat puellarum decor. Et quas tactu nequeo saltem corde mechor.«
Anna verstand nichts. Aber es war derselbe Rhythmus wie in Falconets Lied.
»Ich bin ganz wild auf hübsche Mädchen«, übersetzte er grinsend. »Die ich nicht leibhaftig haben kann, mit denen treib ich’s in Gedanken.«
Vielleicht war sein Maul größer als das, was unter seiner Cotte steckte, aber so genau wollte sie es nicht wissen. Anna wollte aufspringen, doch er packte ihre Handgelenke und versuchte sie rücklings ins Schilf zu zwingen. Erschrocken versuchte sie sich zu befreien. Der Schlamm durchnässte ihre Kleider. Steffens Gesicht glitt über ihres, und sie spürte seinen Atem, der nach Bier roch. »Jetzt zier dich nicht so! Du wirst deinen Spaß haben, und danach sage ich dir, was ich weiß.«
Keuchend tastete Anna nach ihrem Beutel. Ihre Hand klammerte sich um das Messer, das sie Raoul entwendet hatte, und sie hielt es ihm an die Kehle. »Verschwinde!«
Er grinste. »Heißt das, du bist einverstanden?«
»Ich meine es ernst.« Anna drückte das Messer fester in sein Fell. Entschlossen versetzte sie ihm einen leichten Schnitt.
»Verdammtes Dreckstück! Du bringst mich ja um!« Mit einem Sprung kam Steffen auf die Beine. Ein erstickter Schrei, und er fasste sich an den Rücken, an eine Stelle weiter unten. Mit unverhohlener Genugtuung bemerkte Anna, wie seine Beine nachgaben und er nach Luft schnappte. Sie brach in ein ungehemmtes Lachen aus.
»Zum Teufel mit dir! Du hast mich verhext!«, quetschte er hervor.
»Schon möglich«, prustete sie. »Also fass mich besser nicht mehr an.«
Steffens schmerzverzerrtes Gesicht verriet, dass er dazu auch kaum in der Lage gewesen wäre. Anna sprang auf und packte seinen Arm, um ihn aufzurichten. Er schrie auf bei der unsanften Berührung.
»Ein Hexenschuss. Wahrscheinlich ist die Kälte schuld«, bemerkte Eva, die vom Geschrei angelockt herüberkam. Ihr verstohlenes Grinsen verriet, dass sie begriffen hatte.
Fluchend raffte er sich auf und hielt sich den Rücken. »Eva hatte recht. Was sollen wir dich durchfüttern?«, schrie er sie an. »Wenn du kein Geld heranschaffst, musst du dich eben so nützlich machen!«
Anna bedauerte, dass sie ihn nicht auch noch in weit empfindlichere Teile getreten hatte. »Du siehst doch, was dabei herauskommt!«
Falconet ging über den Zwischenfall hinweg. Entweder er wollte Steffen nicht klarmachen, dass er sie in Ruhe lassen sollte, oder der Lotterpfaffe würde sich von ihm nichts sagen lassen. Keine der beiden Möglichkeiten beruhigte Anna besonders. Der Gaukler trieb sie weiter, um Andechs zu erreichen, ehe die Sonne sank. Mit dem ersten Schnee würden Wölfe um die Scheunen streichen, in denen sie sonst schliefen, und dort gab es eine gute Herberge. Es ging den steilen Höhenzug hinauf, der sich entlang des Ufers nach Süden zog. Immer wieder beobachtete Anna Steffen heimlich. Wusste er wirklich etwas über das Lied, das sie in Gefahr gebracht hatte? Oder versuchte er nur, sie auf den Rücken zu legen? Es dämmerte, und die Gespräche verstummten. Ein Heulen zerriss die Stille.
Die Gaukler sahen sich an. Über ihnen schwankten die Zweige. Der Wald schien zu atmen. Ein weiterer Wolf stimmte ein.
»So nah waren sie noch nie«, sagte Eva. Ihr hübsches rundes Gesicht wirkte beunruhigt. Falconet stützte Steffen, und so schnell es ging hasteten sie weiter die Straße entlang.
»Die Kirche muss längst geschlossen sein!«, flüsterte Evas Sohn Korbinian verängstigt. Immer mehr Wölfe mischten sich nun in den unheimlichen Chor. Und der steinige Pfad nahm kein Ende.
»Wir müssen es zur Herberge schaffen«, keuchte Eva. Sie griff Steffen auf der anderen Seite unter die Arme. Das Gewicht des Goliarden musste beträchtlich sein. Ein Schatten huschte hinter ihnen über den Weg.
»Ein Wolf!«, stöhnte Steffen. Humpelnd hopste er, auf Eva und Falconet gestützt, weiter. Sein Gesicht verzerrte sich bei jedem Schritt. »Sie greifen nicht an, solange sie allein sind. Wölfe jagen im Rudel«, flüsterte er beschwörend vor sich hin.
Seitlich von ihnen huschte ein weiterer Schatten heran.
»Zum Teufel, das ist ein Rudel«, zischte Anna. In Kaltenberg waren die Tiere immer wieder in die Ställe eingebrochen. Sie erinnerte sich gut an den Schäferjungen, den sie eines Morgens zerfleischt im Stall des Herrenhofs gefunden hatten. Den Anblick der zerfetzten Kehle und die starren, aufgerissenen Augen würde sie nie vergessen. Die Angst jagte ihr glühende Schauer über den Rücken, und den anderen schien es nicht besser zu gehen. Stumm hetzten die Kinder weiter. Sie sah über die Schulter zurück und erstarrte.
Ein riesiger grauer Wolf stand hinter ihnen auf dem Weg, der wilde Geruch wehte zu ihnen herüber. Das Tier kräuselte die Oberlippe und die Schnauze und entblößte messerscharfe Zähne.
Die Kinder drängten sich aneinander. Anna riss Steffen den Knotenstock aus der Hand, und der Wolf knurrte.
»Da vorn brennt Licht!«, rief Eva. Vor ihnen begann das freie Feld, das nach Andechs führte. Anna erkannte eine Kirche und mehrere Wirtschaftsgebäude. Ein Haus mit zwei Nebengebäuden erhob sich etwas abseits des Wegs am Waldrand. Im Dunkeln wäre es kaum zu erkennen gewesen, doch aus einem verrammelten Fenster fiel ein Lichtstreifen.
»Die Herberge«, stöhnte Falconet erleichtert. Er ging voraus, trommelte gegen die Tür und brüllte, so laut er konnte.
Licht fiel auf den gestampften Boden, die Pforte öffnete sich. Ein breiter Mann mit einer Fackel stand im Eingang. In der anderen Hand hatte er einen Dolch. Er rief etwas über die Schulter, und zwei kräftige Knechte brachten Steffen ins Haus. Die Fackel warf ihre zitternden Schatten an die Wand, erleichtert erreichten sie die festen Wände. Endlich schlug die Tür hinter ihnen zu.
Der Duft von warmem Apfelmus mit Zwiebeln ließ Anna das Wasser im Mund zusammenlaufen. Den ganzen Tag hatte sie nichts gegessen, sie war zu Tode erschöpft und entsetzlich hungrig. Sie löffelte das Essen so hastig, als fürchte sie, es wäre für lange Zeit das letzte.
Mit Eva und den Kindern wurde sie in einen fensterlosen Verschlag im Erdgeschoss gebracht, die Männer bekamen einen anderen Raum. »Und die Kleider ausziehen, bevor ihr schlafen geht!«, befahl der Wirt, als er schon in der Tür stand. »Nicht dass ich nachher die Betten voller Läuse habe! Wer stiehlt, den setze ich vor die Tür.«
Der Geruch getragener Kleider hing in der Luft, und nicht jeder der vorherigen Gäste hatte es offenbar nachts auf die Latrine geschafft. Anna hatte sich auf ein Bad gefreut, aber eine Badestube gab es nicht. Ihre Füße schmerzten, und ächzend zog sie die Schuhe aus, um ihre kalten Zehen zu reiben. Wehmütig dachte sie an ihren sauberen Strohsack auf der Burg. Wenn Falconet diese Spelunke eine gute Herberge nannte, wollte sie nicht wissen, was eine schlechte war. Aber dass sie überhaupt im Warmen schlafen durfte, verdankte sie nur ihm. Wieder musste sie an ihre Mutter denken. Sie hätte ihre Tochter lieber tot gewusst als in diesem Leben.
»Es war mutig, mit dem Stock auf das Vieh loszugehen«, sagte Eva unvermittelt, als sie nebeneinander im Dunkeln lagen. »Tut mir leid, dass ich so unfreundlich war. Aber vor ein paar Jahren ist mir ein Kind verhungert. Das will ich nicht noch einmal erleben.«
Anna richtete sich auf. Sie wollte etwas sagen, aber Eva winkte ab, als bereue sie, überhaupt davon gesprochen zu haben.
»Woher solltest du es wissen. Mach dir nichts aus Steffen, wollte ich dir sagen. Es gibt viel Schlimmere als ihn. Du musst nur eine Sprache benutzen, die sie verstehen. Eins aufs Maul, dann wissen sie Bescheid. Mach bloß nicht den Fehler, freundlich zu sein.«
Anna bejahte, und die Gauklerin richtete sich neugierig ein wenig auf. »Es geht mich ja nichts an, aber warum bist du vor dem schwarzen Ritter geflohen?«
Anna erwiderte nichts. »Auch eine Höllenotter ist schön!«, sagte sie endlich kurz.
Eva stutzte, dann lachte sie. »Habe ich nach seinem Aussehen gefragt?«
»Ich hasse ihn!«, entgegnete Anna lauter, als sie es gewollt hatte. »Er ist böse und gewissenlos wie ein Werwolf.«
»Das sind doch alle Männer«, winkte Eva ab. Sie rollte sich wieder in ihre Decke, und Anna spürte, wie sie sich mit dem Hinterteil Platz verschaffte. Raoul war gefährlich, dachte sie, wenn auch nicht in dem Sinne, wie Eva zu glauben schien. Einen Moment lang hatte er sie vergessen lassen, wer er war. Nie wieder durfte sie sich blenden lassen.
»Ich glaube«, lachte Eva neben ihr unterdrückt, »dass dich dein gutaussehender, gewissenloser Feind mehr durcheinanderbringt, als dir lieb ist. Und was ihn betrifft, wollte er dich jedenfalls unbedingt wiederhaben.«