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»Drecksvaganten! Dableiben, Kruzifixhalleluja!«

Die wütende Stimme hallte über die Weide bis zum Waldrand. Innerhalb weniger Augenblicke war der Bauernhof auf den Beinen. Anna, Falconet und Steffen kümmerten sich nicht darum. Die schnatternde, mit den Flügeln schlagende Gans unter den Arm geklemmt, sprangen sie über den aus Ästen gefügten Zaun und suchten das Weite. Hinter ihnen rannte der Bauer aus dem Haupthaus und schwang den Ochsenziemer. Doch schon hatte sie der Wald verschluckt. Keuchend und außer Atem erreichten sie die anderen. Anna hielt sich die Seite und lachte, bis sie kaum noch Luft bekam. »Er hätte uns hängen lassen!«, brachte sie hervor. »Aber er hat uns nicht erwischt!« Falconet hob triumphierend die Gans, und die Kinder brachen in begeistertes Geheul aus.

Anna ließ sich hinter einem umgestürzten Stamm zu Boden fallen. Ächzend streckte sie die Beine aus. Obwohl es kalt war, spürte sie den Duft der nassen Bäume stärker denn je. Das Leben vibrierte förmlich in ihrem Körper. Falconet schlug der Gans den Kopf ab und wies die Männer an, Holz zu sammeln. Er hatte den Wettstreit der Rivalen ausgenutzt, um sich selbst als Anführer zu empfehlen, inzwischen hörten alle auf ihn. Während die Kinder Eicheln rösteten und Eva die letzten Zwiebeln und Holzäpfel zusammensuchte, begann Anna das Festmahl zu rupfen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fuhr Steffen sie an, als sie die Federn in der Hast neben sich auf den Boden warf. »Wenn wir die verkaufen, können wir zweimal speisen wie die Könige!«

Sie schnitt ihm eine Grimasse. Falconet lachte und spielte ein Liedchen auf seiner Flöte. Die anderen hockten sich dazu und sangen mit. Es war mit Händen zu greifen, wie die Gaukler immer fröhlicher wurden, je näher sie München kamen – und damit der Aussicht auf einen warmen Platz für den Winter. Steffen warf Anna immer wieder herausfordernde Seitenblicke zu. Er wusste etwas über den Spielmann, den sie suchte. Aber er war nicht bereit, ihr zu helfen, es sei denn, sie fügte sich seinen Wünschen.

Wütend riss sie der Gans die Federn aus. Der Winter stand vor der Tür, und Raoul war hinter ihr her. Jeder Tag auf der Straße konnte ihr letzter sein, und dieser verfluchte Lotterpfaffe dachte nur daran, wie er unter ihren Rock kam. Aber sie würde es schon aus ihm herauskitzeln, wenn auch nicht so, wie er sich das vorstellte!

Eva kam zu ihr und sammelte die Federn ein. »Nimm es ihm nicht übel«, meinte sie und folgte ihrem Blick. »Besser, du gewöhnst dich daran, dass unsere Regeln nicht die der anderen Stände sind.«

»Wie stehst du das nur durch, allein mit zwei Kindern?« Schon nach wenigen Tagen hatte Anna bemerkt, dass Evas Schamlosigkeit nur eine Seite war. Wenn sie abends ihren Kindern vorsang, konnte sie sogar eine zärtliche Mutter sein. Anna fragte sich, wie lange sie schon beim fahrenden Volk lebte.

»Ich war mal ehrlich verheiratet«, antwortete Eva. »Mit einem Fleischer. Wenn er besoffen war, schlug er mich fast tot. Und er war ständig besoffen. Es ist mir lieber so, wie es jetzt ist, das kannst du mir glauben.« Sie grinste. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Die Weiber, die dir was von Anstand erzählen, können bloß nicht ertragen, dass es dir besser gehen soll als ihnen. Also, wenn dir Steffen nicht völlig zuwider ist, dann nimm ihn. Deinen Ulrich wirst du sowieso nicht mehr sehen. Einmal Gauklerin, immer Gauklerin.« Sie legte ihr die Hand auf die Schulter und ging, um das Fleisch aufs Feuer zu legen.

»Ich bin keine Gauklerin«, flüsterte Anna. »Und in München werde ich Ulrich wiedersehen!«

Nur wenige Tage später erreichten sie die Isar. Am gegenüberliegenden Isarufer zogen sich Krautäcker die Hügel hinauf, vereinzelte befestigte Bauernhöfe waren zu erkennen. »Endlich!«, seufzte Falconet, als sie an dem Palisadenzaun entlanggingen, hinter dem die Türme und spitzen Dächer der Stadt zu sehen waren. Das Tor war aus Holz, doch Arbeiter, die schwere Quader schleppten, verrieten, dass hier die Stadtmauer erweitert wurde. Körbeweise wurden Ziegel und Isarkiesel gebracht, offenbar wollte man die letzten schönen Tage nutzen. Die Vorarbeiter brüllten Befehle, Staub hing in der Luft, krachend fiel ein Steinquader vom Karren.

»Das neue Isartor«, erklärte Falconet, als sie an den grimmig dreinblickenden Waffenknechten vorbeigingen. Dahinter war eine freie Fläche, ehe die Vorstadt begann. »Hier darf nichts gebaut werden«, erklärte er, sichtlich stolz, dass er sich in dem beängstigenden Getümmel zurechtfand. »Falls die Stadt belagert wird, könnte ein Brand durch Wurfgeschosse ausbrechen. Das da ist eines der neuen Zeughäuser.«

Anna riss Mund und Augen auf, als sie sich durch die Straßen drängten. Noch nie war sie in einer Stadt gewesen. Es war eng und brechend voll. Unter den hölzernen Vordächern der niedrigen Häuser stapelten Männer Holz und Fässer. Dem Laugengeruch nach zu urteilen, lebten hier vor allem Gerber und Lederer. Aber auch die Düfte nach Qualm, Kraut und der offenen Gosse mischten sich hinein, und irgendwo musste eine Schlachtbank sein. Es fiel Anna schwer, sich inmitten der verwirrenden Gerüche zurechtzufinden. Eva zog sie plötzlich zu sich heran – über ihnen kippte eine Frau den Inhalt eines Nachttopfs auf die Straße.

Sie hatten schon vorher ausgemacht, dass die Frauen ein paar Kleinigkeiten verkaufen sollten. Eva hielt nach einem geeigneten Platz Ausschau und fand ihn nicht weit von einer niedrigen Brücke. Die tief herabgezogenen Dächer schützten sie ein wenig vor Blicken, vermutlich, damit die Büttel sie nicht gleich sehen würden. Am liebsten hätte sich Anna in Luft aufgelöst. Doch zu spät:

»Bärenhaar«, pries Eva die Ware in ihrer Bauchlade an. »Ein gutes Amulett, um ein Kind vor bösen Geistern zu schützen. Und hier …« Sie zauberte eine kleine Kassette heraus. »Ein Fingerknochen des heiligen Blasius, auch sehr gut gegen Halskatarrh.«

Eine Alte war stehen geblieben. »Der Knochen ist ein wenig klein.«

»Es ist ein Knochen von Blasius als Kind«, erklärte Eva beflissen. »Aber wenn es Euch zu teuer ist, habe ich hier auch noch Asche aus der Zunge eines Gehenkten. Gut gegen Dämonen aller Art.«

Die Alte entschied sich für die Reliquie. Während sie zahlte, warf Anna der Freundin einen misstrauischen Blick zu. Ihres Wissens war der heilige Blasius in biblischem Alter als Bischof gestorben. Unruhig trat sie von einem Bein aufs andere. Sie liebte die Musik und die Geschichten der Gaukler, aber mit diesen Betrügereien wollte sie nichts zu tun haben.

Eva wartete, bis die Frau hinter zwei teuer gekleideten Bürgern verschwunden war, dann grinste sie. »Also gut. Das Bärenhaar stammt von einem Gaul, die Asche ist aus dem Feuer, an dem wir uns gestern Abend gewärmt haben. Und die Reliquie … Du erinnerst dich an die Gans, die wir kürzlich … Hier«, sagte sie schnell, »versuch du dein Glück: Das ist eine Salbe, um verlorene Jungfernschaft wiederherzustellen. Schau dir die Mädchen an: Die da drüben, die läuft selbstsicher und grinst. Bei der kannst du nicht landen. Aber die da, die den Kopf einzieht.«

Erschrocken schüttelte Anna den Kopf.

»Komm schon«, flüsterte Eva. »Die Kirche jagt lieber Ketzerfürsten. Da ist mehr zu holen als bei zwei Straßenkatzen wie uns. Die Leute wollen es glauben, warum sollen wir nicht auch etwas davon haben?«

Anna steckte die Salbe ein, aber sie hatte nicht die geringste Lust, sie zu verkaufen. Ihr Blick flog die Straße entlang, die weiter vorn über einen Steg führte. Ein Holzwagen, von zwei riesigen Ochsen gezogen, schwankte darüber und auf ein zweites Tor zu, offenbar das alte Stadttor. Dort verschwand ein blonder Mann unter dem vorspringenden Dach einer Bude. Ulrich.

Ohne sich um Eva zu kümmern, rannte Anna ihm nach. Rücksichtslos drängte sie sich an keifenden Marktweibern vorbei und schob einen fliegenden Händler zur Seite. Sie rannte über den Steg, ohne sich um die Wachsoldaten zu kümmern. Im breiten, niedrigen Bogen des inneren Tors erreichte sie ihn endlich.

Enttäuscht blieb sie stehen. Der Mann war älter als Ulrich und trug einen Bart. Einige grell geschminkte Weiber hatten sich um ihn geschart. »Schau, dass du weiterkommst, du Flitscherl!«, kreischten sie, während sie ihn in ihre Bude zogen. »Das ist unser Platz!«

Erschrocken trat Anna zurück. Sie wollte hastig zu Eva zurücklaufen. Aber die Gaukler waren verschwunden.

Mit einem Schlag fühlte sie sich entsetzlich verlassen. Allein in dieser fremden Stadt, überfiel sie Verlorenheit. Krampfhaft bemühte sie sich, ihr Zittern zu bekämpfen. Sie musste jetzt ruhig bleiben. Anna überlegte, dann ging sie durch das innere Tor und stand auf dem Marktplatz.

Sie versuchte sich zu orientieren. Die vielen Menschen und kleinen Holzbuden, die überall auf dem Platz standen und von brüllenden Marktschreiern bevölkert waren, machten es fast unmöglich. Hinter einem Steingebäude, vermutlich dem Rathaus, und einigen Schenken und Brauereien erhoben sich die schmucklosen Zwillingstürme einer Kirche. Weiter rechts musste es zur Herzogsburg gehen: Die Schleppen der Frauen, die von dort kamen, waren lang und kostbar.

Eine unendliche Zeit lief Anna über den Platz und zurück zu dem Steg, wo sie Eva aus den Augen verloren hatte. Vergeblich. Sie ließ ihre Blicke über die Garküchen schweifen. Zumindest Steffen würde früher oder später in einer davon auftauchen. Und wenn nicht, würde sie dort wenigstens nachdenken können, was sie tun konnte.

Das Innere der Schenke, für die sie sich entschied, war alles andere als anheimelnd. Im Keller des Marktgebäudes liegend, hatte sie etwas von einer Höhle. Es war nicht besonders voll: ein paar fahrende Handwerker, ein Händler, ein Ritter. Hopfendolden hingen von den wurmstichigen Deckenbalken, der Geruch nach Mehlsuppe und Malz betäubte sie fast. In den Tischen gab es Vertiefungen, in die offenbar die Suppe einfach hineingekippt wurde. Aber Anna war nicht mehr wählerisch, und sie hatte Hunger. Vor der Stadt hatte sie ihren Gürtel verkauft, sie konnte sich eine warme Mahlzeit leisten.

»Wo bleibt der Wein?«, trompetete der Ritter. Beunruhigt fiel Anna sein blind vertrocknetes Auge auf. »Dieser Tölpel von Marschall sagt, ich sei zu alt zum Kämpfen. Aber wenn mich schon der Teufel holt, tut es mir leid um jeden Krug, den ich nicht gesoffen habe.«

Am Feuer hockten zwei fahrende Lotterpfaffen – auch nicht die beste Gesellschaft. Sie hatten die Gewänder gehoben, um die Wärme an die Haut zu lassen. Breitbeinig flegelten sie auf den Hockern, ohne ihre Männlichkeit dabei zu verbergen. Auf einmal sehnte sich Anna die Gaukler herbei. Sie entschied, sich zu dem Händler zu setzen.

»Dass du mir aber auch bezahlst!«, brummte der Wirt und kippte einen Löffel Suppe in die Vertiefung vor ihr. Fleisch kostete schon jetzt das Zehnfache wie früher, aber immerhin dafür reichte ihr Geld.

»Dich hat wohl auch der Krieg vom Land hergetrieben?«, brach der Händler das Schweigen. Anna bejahte zurückhaltend.

»Hast recht, Kind.« Vermutlich war er fremd und langweilte sich nur. »Stadtluft macht frei, in den Städten liegt die Zukunft. Der König hat recht, sie stark zu machen. Wenn es den Städten gutgeht, blüht der Handel. Ich zum Beispiel handle mit Salz.«

Anna lächelte ihm zu. Sollte er nur seine Heldentaten loswerden. Vielleicht konnte er ihr sogar helfen? Besorgt bemerkte sie, dass der Ritter schon zu ihr herüberschielte.

»Weißes Gold, Mädchen, weißes Gold! Aber ich muss sicher reisen können, deshalb bete ich, dass Ludwig sich durchsetzt und nicht Friedrich. Der Habsburger ist grausam, und er tut alles, was die Pfaffen wollen. Wenn er der Herr ist, werden hier wieder die Juden gejagt. Die Kollektoren, die Steuereintreiber des Papstes, nehmen den Leuten den letzten Pfennig. Und wenn es nichts mehr zu holen gibt: Als Ketzer ins Feuer und die Güter einstreichen, wie bei den Templern! Ich war in Frankreich, da lodern überall die Scheiterhaufen.«

»Ja, wenn man Schafe scheren will, darf man sie nicht den Fleischern der Inquisition geben«, mischte sich der Ritter ein. Er lachte dröhnend über seinen Witz und kam mit seinem Krug zu ihnen herüber. »Sieht aber aus, als würde das Schicksal jetzt Ludwig begünstigen. Die Österreicher haben in der Schweiz eine Schlacht verloren, und Ludwig hat die Unabhängigkeit der Eidgenossen sofort anerkannt. Ein schlauer Bursche, was?«, wandte er sich an Anna.

Sie wollte aufstehen, aber er hielt sie fest. Grob zog er sie wieder auf die Bank. »Hast du mich beklaut, oder warum willst du weg?«

Anna bekam Angst. Kriegsmänner machten nur allzu oft der alltäglichen Erniedrigung durch ihre Herren auf Kosten fahrender Frauen Luft. Der Wirt kam herüber. »Sie war mir gleich verdächtig. Ich rufe die Büttel«, erbot er sich.

Grob schüttelte der Ritter ihn ab und schleuderte ihn gegen einen Tisch, der krachend in sich zusammenfiel. Johlend sprangen die Leute auf die Tische. Verängstigt blickte sich Anna nach Hilfe um, aber der Händler zog nur den Kopf ein. Der Ritter packte sie und warf sie gegen die Bretterwand, dass ihr die Luft wegblieb. Während Anna zu Tode erschrocken nach Atem rang, war er heran. Seine schwielige Hand hielt sie fest, und er brachte sein bärtiges Gesicht dicht an ihres. Sein Atem stank nach Bier und Zwiebeln, aber sie zwang sich, ruhig stehen zu bleiben.

»Da ist sie!«, rief ein Kind.

»Das Mädchen gehört zu uns«, sagte jemand. Der Ritter ließ sie los, und Anna taumelte zurück. Sie schnappte nach Luft und erkannte Eva. Hinter ihr kamen die anderen herein.

Sie hatten sie gesucht! Anna war so erleichtert, dass sie die Gauklerin überschwänglich umarmte.

»Du hast noch meine Jungfernsalbe«, sagte Eva. Aber sie grinste.

Obwohl es hieß, der König hätte ein Herz für Gaukler, musste auch er den Gürtel enger schnallen. Der süße Leim des Hofes zog Vaganten aus aller Welt an wie die Fliegen: Vor den Toren der Herzogsburg unweit des Marktplatzes überbrüllten sich die hungrigen Possenreißer und bettelten in allen Sprachen um Einlass. Jeden Tag sah Anna einen neuen Gaukler mit Kusshänden über die Zugbrücke spazieren, während sein Vorgänger draußen vor dem Tor mit Gesten seiner hilflosen Wut Ausdruck verlieh. Sie selbst kamen nicht herein.

In der Nacht träumte Anna von Ulrich. Er stand hinter ihr und schob ihr Haar beiseite, um ihren Hals zu küssen, so zärtlich, wie er sie nie berührt hatte. Als er ihren Nacken streichelte, wollte sie ihn so heftig, dass es in ihrem ganzen Körper pochte. Seufzend wandte sie ihm den Kopf zu und genoss es, wie seine Lippen über ihre glitten, seinen warmen Atem auf ihrer Haut. Sie öffnete die Augen – und sah in Raouls Gesicht.

Mit einem Schrei fuhr sie hoch. Erschrocken sah sie sich um. Über ihrem Kopf erkannte sie die Treppe eines Bürgerhauses. Der verfluchte Föhn war an dem Alptraum schuld, dachte sie. Ein wenig plagte sie das Gewissen. Immerhin hatte Raoul ihr das Leben gerettet, und sie hatte ihn an Ulrich verraten. Aber Ulrich würde einen Feind gerecht behandeln. Wusste der Teufel, wieso Raoul durch ihre Träume spukte!

Während sie auf die Beine kam, verwünschte sie ihren Leichtsinn. Sie hatte sich von den Gauklern anstecken lassen und ihr gerade verdientes Geld für ein Bad und Kleider, für Fleisch und Bier verjubelt. Im Treppenhaus fror sie, und ständig juckte es irgendwo. Matthäus war bei einer Verwandten untergekommen. Eva hatte den Verlust ihres Bettgenossen mit einer Gelassenheit hingenommen, die verriet, dass es nicht das erste Mal war. Anna wünschte, sie hätte auch wieder ein Dach überm Kopf.

»Genug gefaulenzt!«, riss sie die Stimme der Hausmagd aus den Gedanken. »Ihr könnt noch mit dem Gesinde Haferbrei essen, aber dann verschwindet!«

Es traf sich gut, dass gerade die Zeit war, da Gaukler die Getreidekörner am Tor aufsammeln durften. Das ganze fahrende Volk Münchens traf sich hier. Anna hielt sich an Falconet, der wie eine Haselmaus zusammenscharrte, was er bekommen konnte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Der Kaufmann, bei dem sie übernachtet hatten, hätte sie aufgenommen. Doch er hatte keinen Zweifel gelassen, was er von den Frauen als Gegenleistung dafür erwartete.

»Wir hätten alle überwintern können!«, fuhr Steffen sie prompt an. »Aber nein – als der Kaufmann dich anfasst, fängst du an zu kreischen und ihn zu ohrfeigen! Wir sollten dich an ein Hurenhaus verkaufen!«

»Lass sie!«, mischte sich Falconet ein. Anna war ihm dankbar dafür. Die Hoffnung, Ulrich wiederzusehen, war stärker als der Hunger. Sie hielt sie aufrecht und gab ihr Kraft. Wenn sie sie aufgab, blieb ihr nichts mehr.

»Es ist nicht so schlimm, als Gaukler sein Geld zu verdienen«, tröstete Falconet sie, während sich Steffen schon mit dem nächsten Vaganten in die Haare geriet. »Denk daran, warum du früher gern zu unsereins gekommen bist. Ein Gaukler gibt den Menschen etwas, das sie in der Kirche nicht bekommen: Freude. Eine Gauklerin kann sie zum Lachen und Weinen bringen.«

Anna sah ihn an. Dasselbe hatte sie damals auch gespürt, als sie das erste Mal gesungen hatte. Musik gab den Menschen etwas, das stark war, sogar stärker als der Glaube. Vielleicht hasste die Kirche sie deshalb so. Wenn das Hexerei war, dann hatte der Kaplan von Haltenberg recht gehabt – dann war sie eine Hexe. Aber sie konnte es nicht bereuen. Es kostete sie viel: alle Sicherheit, die sie je gehabt hatte. Trotzdem, hätte sie noch einmal die Wahl gehabt, sie hätte Ulrich wieder gegen alle Gesetze geliebt.

»Du darfst nur eines nie vergessen«, sagte Falconet auf einmal ungewohnt ernst, »wir sind dazu da, die Leute zu unterhalten. Es ist wie eine Maske, die du nie wieder ablegen kannst. Wenn du dich deinen Gefühlen, deiner Trauer oder deinem Schmerz überlässt, bist du verloren.«

Anna nickte. »Ich muss diesen Spielmann finden, der das Lied geschrieben hat. Steffen weiß etwas«, sagte sie widerwillig.

»Dann finde heraus, was.« Falconet grinste. »Versprechen kannst du ihm alles. Was du ihm gibst, steht auf einem anderen Blatt. – Oder hast du Angst vor ihm?«

Anna sah nach Steffen, der seine eindruckgebietende Gestalt vor seinem Gegner aufgebaut hatte. Dieser riesige Kerl konnte sie zwingen, zu was er wollte. Trotzig sah sie Falconet an. Steffen war vielleicht kräftiger als sie, aber sie war klüger. Sie warf den Kopf zurück, ging hinüber und zog ihn unter die Palisaden am Tor.

»He, was ist denn in dich gefahren?«, grinste er.

Anna spielte mit seinem fettigen Haar. »Du wolltest doch wissen, warum ich es nicht mit dem Kaufmann treiben wollte.«

Er stutzte. Sie griff nach seiner Hand und führte sie auf ihre Hüfte. »Ich habe es mir überlegt. Die Nächte sind kalt, und Ulrich muss es ja nicht erfahren. Du hast gesagt, ich würde meinen Spaß haben. Aber nur, wenn du mir sagst, was ich wissen will.«

Er lachte. »Hältst du mich für blöd?«

Anna zuckte die Schultern. »Dann eben nicht.«

Sie tat, als wollte sie sich befreien, und spürte, wie er ihren Hintern knetete. Sein Widerstand brach zusammen. »Wir haben das Lied in Steyr gesungen«, sagte er. »Wenn der Novizenmeister nicht hinsah. Die Burschen sagten, es war einer von uns. Ein Goliarde, ein fahrender Scholar, ein Lotterpfaffe eben. Mehr weiß ich nicht. Aber …«, er zog sie an sich, »… jetzt haben wir genug geredet.«

Obwohl Anna es befürchtet hatte, war sie doch enttäuscht. Er hatte wirklich nur versucht, an ihren Rock zu kommen. Und davon, dachte sie erschrocken, musste sie ihn jetzt schleunigst fernhalten. Sie bemerkte eine Rennsau, die grunzend im Abwasserkanal nach Fressbarem gewühlt hatte und auf sie zulief. Das Schwein wog wahrscheinlich mehr als sie selbst. In geheuchelter Leidenschaft zog sie Steffen herum. Er packte ihre Arme und wollte sie küssen. In diesem Augenblick rannte die Sau in ihn hinein.

Der Goliarde taumelte und flog klatschend in den Abwassergraben. Anna sprang kreischend zurück.

Fluchend rappelte er sich auf. Kot und Küchenabfälle liefen an ihm herab und fielen langsam zu Boden. Er streifte Kohl und Rübenschalen ab und betrachtete seine verschmierten Hände. »Verdammtes Miststück, der Teufel soll dich holen! Von jetzt an wirst du dir dein Essen in der Gosse zusammenhuren, dafür werde ich sorgen!«

Anna lachte ihn aus. »Es sieht aber so aus, als wäre in der Gosse kein Platz mehr für mich.«