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»Nein.« Beatrix von Schlesien-Glogau, die Gemahlin Ludwigs von Baiern, schnitt ihrer Hofdame das Wort ab. »Nein, wir hätten den König nicht um Erlaubnis bitten müssen. Ich lasse Gaukler holen, wann ich will.«

Die junge Hofdame murmelte etwas von leichtfertigem Gesindel in ihre Kinnbinde, doch ihre Herrin brachte sie lachend zum Schweigen. Beatrix war mit Mitte zwanzig jung genug, um einen Ehemann nicht ernst zu nehmen, selbst wenn er König des Heiligen Römischen Reichs war. Sie starb fast vor Langeweile. Sechs Wochen lang war sie nach der Geburt des ersehnten Stammhalters eingesperrt gewesen. Den kleinen Ludwig hatte sie in der Zeit kaum gesehen. Man hatte ihn wie üblich in ein abgedunkeltes Zimmer gelegt, wo er von einer Amme versorgt wurde. Nicht einmal zur Kirche hatte Beatrix gehen dürfen, denn eine Wöchnerin galt als unrein, leichte Beute für den Teufel. Ihre Gemächer im gerade erneuerten Kemenatentrakt der Herzogsburg waren von Weihrauch und magischen Salben durchwölkt, dass man kaum atmen konnte. Heute hatte sie mit dem ersten Kirchgang endlich die Aussegnung hinter sich gebracht. Danach hatte sie die Fenster weit öffnen und die Amulette und geweihten Kerzen ihrer Hebammen erleichtert in der Truhe verschwinden lassen. Mit Ende des Kindbetts erwartete sie auch der erste nächtliche Besuch ihres Gemahls, der einzige Wermutstropfen.

»Ihr habt zu schnell abgenommen. Ihr solltet Euch schonen«, versuchte es die Dame noch, aber Beatrix winkte sie hinaus.

Die junge Königin strich über den Surcot aus teurem Brokat und die engen geknöpften Ärmel ihrer Seidencotte. Sie war froh, endlich wieder in etwas anderes als das Gewand einer Schwangeren zu passen. Als sie nach dem metallenen Handspiegel griff, musste sie zugeben, dass sie noch sehr blass war. Ihr blondes Haar war mit einem eleganten Schleier bedeckt, aber die Augen matt. Dabei hatte das zweite lebende Kind beinahe sechs Jahre auf sich warten lassen, und sie musste zugeben, dass es nicht an Ludwig lag.

Bei ihrer Hochzeit war sie alles andere als glücklich gewesen. Ihr Vater war ein Verbündeter von Ludwigs Familie, aber das war auch schon alles, was sie verband. Nur einmal war sie stolz gewesen, seine Frau zu sein: als er seinen hochfahrenden Vetter Friedrich bei einem Flecken namens Gammelsdorf besiegt hatte. Aber dann hatte Ludwig die Gefangenen viel zu billig freigegeben. Bald wurde überall gespottet. Wenngleich ihr Mann ihr jeden Wunsch von den Augen ablas, hatte sie ihm doch zu verstehen gegeben, dass sie sich seiner schämte. Die letzten Monate hatte sie ihn nicht einmal gesehen, ständig war er unterwegs gewesen. Der Mann, dem sie ein Kind geboren hatte, war ihr letztlich immer fremd geblieben. Sie wollte jetzt nicht mit ihm allein sein. Also hatte sie auf ihre Magd gehört. Die hatte in der Isarvorstadt eine Truppe Gaukler gesehen und ihrer Herrin begeistert davon berichtet.

Die alte Bertha brachte sie herein. Das rothaarige Mädchen war sehr jung und mager, doch ihr herzförmiges Gesicht einprägsam und hübsch. Sie hatte etwas Wildes, wie eine Elfe aus dem Wald. Vorsichtig berührte sie die kostbare Täfelung und die bunten Wandteppiche mit Jagdszenen bei dem großen Kamin. Beatrix musste daran denken, wie sie selbst zum ersten Mal in der Herzogsburg gewesen war. Die Backsteinmauern, die Bäche und Graben, die das riesige Geviert von Stadt und Umgebung abschirmten, hatten sie überwältigt. München war nicht das unbedeutende Dorf, für das sie es gehalten hatte, und das Haus Wittelsbach wahrhaft königswürdig. Obwohl Ludwigs Schatzkammern alles andere als voll waren, war die Festung allerdings eine einzige Baustelle. Überall wurde gehämmert und gemauert. Zum Leidwesen seiner Gemahlin, die nach der Geburt einfach nur schlafen wollte.

Angelockt von der Aussicht auf Unterhaltung, hatte sich das halbe Hofgesinde eingefunden – Damen, kichernde Mägde und Pagen, und ihre Tochter, die kleine Mathilde, die sich über die albernen Scherze der Gaukler ausschüttete vor Lachen.

Das Mädchen konnte noch nicht lange dabei sein, dachte Beatrix mitleidig, als die Rothaarige mehr oder weniger auf die Bühne gestoßen werden musste. Die junge Gauklerin machte eine wütende Geste nach den anderen und stolperte prompt über die Laute.

Das Gesinde brach in schallendes Gelächter aus. Grinsend hielt der kräftige Blonde sie fest, allerdings nur, um sich eine Ohrfeige einzufangen. Das zarte junge Ding musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen, was die Zuschauer umso mehr belustigte. Eine Dienstmagd klatschte Beifall, und selbst Beatrix ertappte sich bei einem verstohlenen Lachen. Der Bursche sah eher wie ein Krieger aus, dachte sie. Immer wieder strich er sich übers Kinn, vermutlich hatte er sich für den Besuch in dem hohen Haus um einen Bart verjüngt. Das, was übrig war, reichte allerdings immer noch, um tugendhafte Nonnen das Fürchten zu lehren.

»Und da stand sie nun, die schöne Jungfer«, deklamierte der Fuchsgesichtige, der seinen Lohn in Gefahr sah. »Zweifelnd zwischen Ehrbarkeit und den verführerischen Worten des fremden Ritters …«

Jemand zischte dem Mädchen etwas zu, offenbar war das ihr Einsatz. »In trutina mentis dubia fluctuant contraria«, begann sie zu singen, »lascivus amor, et pudicitia

Sie hatte tatsächlich eine schöne Stimme – hell, aber klangvoll und warm. Beatrix hörte jemanden flüsternd übersetzen: »Auf der Waage meines Herzens streiten laszive Begierde und Scham …«

»Was ist laszive Begierde?«, wollte der Page wissen. »Ist es das, was die Hunde …« Zischend unterbrach ihn jemand. Die Obermagd gab ihm einen Klaps, und ihr langes Jagdhundgesicht zuckte beunruhigt. Schützend stellte sich die Kindsmagd vor die kleine Prinzessin.

Die Stimme klang bewegt, dachte die Königin. Das Mädchen war schmutzig und roch, doch ihre Augen glänzten. Sie wusste, wovon sie sang. Beatrix konnte nicht sagen, dass sie selbst es mit Ludwig schlecht getroffen hatte. Aber sie fragte sich, ob sie selbst je erfahren würde, was es bedeutete, sich nach einem Mann zu sehnen, um sein Leben zu fürchten, wenn er auf Reisen oder im Krieg war, und atemlos vor Erregung auf seine Heimkehr zu warten.

Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als der Blonde die Sängerin schamlos vor aller Augen in den Hintern zwickte. Abrupt hörte das Mädchen auf. Sie verpasste ihm eine zweite Ohrfeige und lief hinter die aus gespannten Tüchern gebildete Barriere. Der Gaukler folgte ihr.

Verblüfft richteten sich die Damen in ihren Stühlen auf. Hinter den Tüchern schrie jemand wütend. Eine Bundhaube flog, etwas stieß gegen den Vorhang, dann stolperte der Blonde heraus. Schnaubend wie ein Racheengel kam das Mädchen hinterher und schlug auf ihn ein.

»Du Pfaffenbankert, du dreckiger!«, schrie sie ihn an und versetzte ihm eine Ohrfeige. Jemand packte sie und hielt sie fest, sie befreite sich und schlug auf den Vaganten ein, der sich unter dem unerwarteten Hagel duckte. Wütend warf sie die wilden Locken zurück, trat ihn in den Hintern und wollte ihn an den Haaren wieder hochziehen.

Das Gesinde brüllte vor Lachen. Die Königin verbarg ihr Gesicht hinter ihrem Fächer, aber sie konnte das Lachen nicht zurückhalten. Von Kindheit an hatte man sie zu höfischem Benehmen erzogen. Die einfachen Leute seien nicht viel besser als Tiere, hatte man ihr eingeschärft. Aber vielleicht, dachte sie und musste noch mehr lachen, wäre alles besser, wenn sie auf ihren Mann manchmal genauso einschlagen dürfte wie dieses Mädchen auf den blonden Riesen. Nach den Wochen der Einsamkeit fühlte sie sich befreit.

Der Anführer begriff schnell. Er sprang in die Mitte und deklamierte: »Und so endet die Geschichte von der tugendsamen Schäferin und dem Ritter! Lasst es euch eine Lehre sein: Wenn rohe Gewalt und Tugend eine Lanze brechen, könnt ihr getrost auf die Tugend wetten!«

Ein schwarzweißer Racheengel fegte plötzlich herein. Pater Felix, Beatrix’ Beichtvater, hatte offenbar seine knochige Nase wieder einmal ungefragt in die Kemenate gesteckt. »Das ist Unzucht!«, keifte er.

Zur gleichen Zeit redete der Deutschherr im Rittersaal auf König Ludwig ein: »Einigt Euch mit dem Bischof von Freising, auch wenn er sich seine Unterstützung etwas kosten lässt. Euer Bruder Rudolf ist nach Worms gegangen, er hat Euch verlassen. Ihr braucht Verbündete.«

»Ich bringe ihn um!«, knirschte Ludwig. Im selben Moment musste er sich eingestehen, dass Rudolf kaum ernstlich in Gefahr war. Ebenso wie er seinen älteren Bruder hasste, liebte er ihn auch.

Erschöpft von der stundenlangen Beratung ließ er sich in seinen Scherenstuhl fallen. Als Kind hatte er Rudolf bewundert. Groß, schlank und blond war er gewesen, und besonnen, eine Eigenschaft, die ihm selbst gänzlich fehlte. Vor Jahren hatte der Ältere auch die Hand nach der Krone ausgestreckt. Vermutlich war er Ludwig deshalb bei der Königswahl in den Rücken gefallen: Als Pfalzgraf bei Rhein und Kurfürst hatte er seinem Bruder die Stimme verweigert. Ludwig konnte verstehen, dass es einem Ritter wie ihm schwerfiel, einem Jüngeren zu huldigen. Trotzdem brachte es ihn zur Weißglut. Er dachte an Rudolfs verletzende Worte im vergangenen Sommer. Ich hätte nicht so die Beherrschung verlieren dürfen, dachte er. Mit dem Schwert war er auf den Älteren losgegangen, die Münchner Bürger hatten ihn gewaltsam zurückhalten müssen. Danach war Rudolf geflohen, zuerst nach Wolfratshausen und jetzt nach Worms. Ludwig hatte nicht die geringste Lust, sich mit ihm zu schlagen. Aber wenn er Sicherheit und Frieden wiederherstellen und die Angreifer von außen bekämpfen sollte, musste er sich auf seinen Bruder verlassen können.

Müde schweifte sein Blick durch den leeren Rittersaal der Herzogsburg. Die noch rohen Mauern waren schmucklos, nur wenige Stühle standen darin. Außer dem Deutschherrn war nur der Truchsess anwesend. Ludwig wollte endlich zu Beatrix in die warme Kemenate.

»Also meinetwegen. Bietet dem Bischof ein Bündnis an«, entschied der König. Entschlossen erhob er sich, zum Zeichen, dass die Unterhaltung beendet war. »Noch hat er keine Partei im Thronstreit ergriffen, es ist an der Zeit, dass er es tut.«

Die Gaukler hatten sich längst verzogen, ohne um ihren Lohn zu betteln, als der Priester in Beatrix’ Gemächern noch immer wetterte. Gottergeben wartete sie das Ende ab. Oft genug hatte ihr diese Stimme im Beichtstuhl eingeschärft, endlich einen Thronfolger zu gebären. Vermutlich wusste er genauso gut wie sie, dass Thronfolger nicht vom Heiligen Geist empfangen wurden, zumindest, wenn man nicht gerade die Jungfrau Maria war. Aber über diese Dinge durfte nur das einfache Volk lachen. Es kostete Beatrix keine Überwindung mehr, einem Mann Anweisungen zu geben, doch sie hatte nicht gelernt, einem Priester zu widersprechen.

Plötzlich wich das Gesinde zur Seite und machte einem Ankömmling Platz. Sogar der Mönch verstummte.

Sie biss sich auf die Lippen. Das rötlich blonde Haar des Königs glänzte im Licht der Lampen. Verwundert über die vielen Menschen im Gemach seiner Gattin sah er sich um. Ludwigs Blick wanderte von ihr zu Pater Felix. Seine Stimme klang ungewohnt scharf. »Manche Stimmen sagen, ich dulde zu viel in meinem Haus.«

Beatrix wusste, wo eine Frau nachzugeben hatte. Sie wollte zu einer Entschuldigung ansetzen, doch er befahl ihr zu schweigen. »Aber Ihr werdet meine Gemahlin nicht vor ihrem Gesinde in weltlichen Dingen maßregeln!«, herrschte er den Mönch an.

Die schiefe Fratze des Priesters verzog sich verblüfft. In diesem Ton hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen. Beatrix verschlug es den Atem. Von Ludwigs sonst so umgänglichem Wesen war nichts zu spüren. In einem plötzlichen Ausbruch packte erFelix am Kragen und stieß ihn zur Tür. Er war größer als der Dominikaner und viel kräftiger. Ohne ein Wort schob er den zeternden Mönch hinaus und drehte sich um. Das unbedeckte Haar glänzte, und unter den zornig aufeinandergepressten Lippen bemerkte sie zum ersten Mal, dass er ein stark gezeichnetes Kinn hatte. Mit einer zornigen Kopfbewegung gab er den Anwesenden zu verstehen, dass sie ihn mit seiner Frau allein lassen sollten. Er stellte einen Kirchenmann vor aller Augen bloß – ihretwegen!

»Wenn Ihr es wünscht, lasse ich Euch einen anderen Beichtvater geben.« Ludwig blickte den Leuten nach. Als die Tür sich schloss, war der Zorn noch immer nicht aus seinem Gesicht verschwunden. Er blickte ihr direkt in die Augen – zum ersten Mal, seit er hereingekommen war. Als würde ihn verunsichern, was er sah, wies er wieder zur Tür. »Ich möchte, dass du ihm dies das nächste Mal selbst sagen kannst.«

Auf einmal wurde Beatrix klar, wie verlassen sie sich die letzten Jahre gefühlt hatte. Den ganzen Tag hatte sie vor dem Augenblick zurückgescheut, wenn sie mit Ludwig allein bleiben würde. Aber jetzt war sie dankbar, dass er hier war. Sie musste an das Lied der Gauklerin denken: Auf der Waage meines Herzens streiten laszive Begierde und Scham …

»Ich lasse dich schlafen«, sagte er leise. Auf einmal klang seine Stimme anders als sonst, beinahe zärtlich. »Es ist spät, und du musst müde sein.« Er wollte gehen, aber seine Schritte waren zögerlich und wurden langsamer. Unschlüssig glitten seine schlanken Hände am Türrahmen herab. Beatrix fielen seine breiten Schultern auf, seine schmalen Hüften in der hochgeschlitzten Cotte. Sie rief ihn beim Namen.

Ludwig hielt inne, dann drehte er sich langsam um. Beatrix nahm den Schleier ab, und ihre Finger schlossen sich um den Seidenstoff. Dann warf sie das lange blonde Haar zurück. »Geh nicht«, sagte sie. »Bleib heute Nacht bei mir.«