»Einen Pfennig, Herr, für eine arme Wittfrau!«
Der Ordensritter warf der Bettlerin am Münchner Färbergraben eine Münze zu. Aufmerksam sah er sich um. Längst war das Holz vor den Häusern aufgestapelt, und selbst hier in den Vorstädten war etwas Stille eingekehrt. Nur ein paar Salzknechte kamen noch aus einer Schenke in einer Seitengasse, aber sie kümmerten sich nicht um ihn. Der Graben war einer der zahl losen Stadtbäche Münchens, die von der Isar gespeist wurden. Unrat schwamm im brackigen Wasser, und selbst jetzt lag der süßliche Geruch von Fleisch und der Eichenlohe in der Luft. Hier hatten Gerber ihre stinkenden Laugenfässer untergebracht, und die Gerberbäume, über die sie die Häute stülpten, um sie mit ihren breiten Schabmessern abzufleischen. Wer nicht musste, vermied es herzukommen – schon aus Angst, sich mit Milzbrand oder anderen heimtückischen Krankheiten anzustecken.
Als er sich überzeugt hatte, dass niemand ihn beobachtete, stieg der Deutschherr vom Pferd und betrat eine der Hütten. Fröstelnd schlug er den Mantel um den Leib, hier drinnen war es kaum wärmer als draußen. Maimun, der an dem Lager aus Fellen gesessen hatte, war aufgesprungen. Der Deutschherr bückte sich unter einem niedrigen Deckenbalken und beugte sich über den Kranken.
Raouls schmale schwarze Brauen stachen aus dem totenbleichen Gesicht. Auf seiner nackten Haut perlte trotz der Kälte Schweiß. Maimun hatte ihn entkleidet, heiße Ziegelsteine um ihn gelegt und die dicksten Felle über ihn gebreitet. In den letzten drei Tagen war er nur kurz zu sich gekommen. Obwohl Maimun ihm von seinem Weidenaufguss eingeflößt hatte, war das Fieber noch nicht überwunden.
»Es ist so weit!« Der Ritter richtete sich auf, als müsse er sich gewaltsam von dem Anblick lösen. »Wird er es schaffen?«
Maimun wechselte noch einmal die mit Essig getränkten Tücher auf Raouls Stirn und sah nach den Verletzungen. Die an der Schulter war noch geschwollen und blutig, doch die verfaulten Stellen und der Eiter waren verschwunden. Dennoch kämpfte der Deutschherr sichtlich mit der Übelkeit, als er die Maden im offenen Fleisch bemerkte. »War das nötig?«
»Er hatte noch Glück«, erwiderte Maimun. »Ich habe die Wunde ausgeschabt, nun fressen die Maden das verseuchte Fleisch ab. Dass Ihr ihn den ganzen weiten Weg nach München gebracht habt, hätte ihn fast umgebracht.«
Der Ritter presste die vollen Lippen aufeinander. »Ich bin erst vor zwei Jahren in den Orden eingetreten – überschätzt meine Bedeutung nicht. Im Konvent in Hegnenberg ist nicht jedermann vertrauenswürdig. Der Gerber hier kennt mich. Es war der sicherste Ort.«
»König Ludwig hat Raouls Freilassung also nicht befohlen?«, fragte Maimun, während er sich die Hände bedachtsam an einem Tuch abwischte.
Das noch immer schöne Gesicht des Ritters blieb unbewegt. Er wies auf sein Ordensgewand. »König Ludwig vertraut unserem Habit.«
Und das erwartete er auch von ihm. Maimun verstand. Er sah nach den stinkenden Häuten. »Wenn wir ihn in die Decken wickeln, wird es gehen. Es muss.«
Gemeinsam brachten sie den Kranken ins Freie. An der alten Mauer entlang erreichten sie die Wiesen, die zur Isar hin leicht abfielen. Der Fluss war hier breit und von mehreren Inseln geteilt. Stämme und Flöße an den Schotterbänken verrieten, dass sich dort die Untere Lände befand. Der Flößer erwartete sie. Es hatte zu schneien begonnen, aber der aufkommende Sturm schien ihn nicht zu beunruhigen. Stumm schafften sie Raoul in die Mitte des Floßes, wo er vor dem eiskalten Wasser am besten geschützt war, und zogen ein Wachstuch über ihn. Die schwarzen Locken klebten an seinem fieberheißen Gesicht. Er war noch immer ohne Bewusstsein.
»Ich danke Euch«, wandte sich Maimun an den Ritter. Er bemerkte den zweifelnden Blick des Deutschherrn auf die Armbrust und erinnerte sich, dass sie als unehrenhaft galt. »Er hat den Glauben verloren und ist voller Hass«, sagte er leise. »Aber er war nicht immer so.«
»Ich kann nur hoffen, dass ich es nicht bereuen werde.« Ernst raffte der Deutschherr den Mantel und warf die Falten so, dass das schwarze Kreuz verdeckt wurde. »König Ludwig wird alles erfahren. Aber in diesem Zustand müssen wir ihn zuerst vor seinen Feinden schützen. Im Kloster Weihenstephan wird Euch niemand suchen.«
»Ihr wagt viel für einen Mann, den Ihr kaum kennt«, sagte Maimun ruhig.
Der Deutschherr zögerte. Seine Stimme klang rau, als er erwiderte: »Der König würde auch nicht tatenlos zusehen, wie seine Männer sich gegenseitig umbringen. Lassen wir es dabei – für den Augenblick.« Er wandte sich zum Gehen. Doch er war nicht so schnell, dass Maimun nicht gesehen hätte, dass etwas in seinen Augen glänzte. Dann stieg er in den Sattel und setzte die in die Böschung gehauenen Stufen hinauf.
Der Mautner, der von der Brücke herabkam, hatte den Mantel über den Kopf gezogen und konnte die Ladung so kaum erkennen. Er hatte es sichtlich eilig, wieder in sein Zollhäuschen zurückkehren zu können.
»Eine letzte Holzladung fürs Kloster Weihenstephan bei Freising«, hörte Maimun den Flößer sagen. »Immer dasselbe. Zuerst spart der Abt, und dann, wenn der Winter hart wird, sollen wir das Holz durch dieses Wetter die Isar herunterschaffen. Drei Pfennige, wie immer?«
Das Wasser schäumte, als der Fährmann das Floß ins Wasser schob und in die Mitte des Flusses lenkte. Das Gefährt knarrte bedenklich, und das Gurgeln des Wassers war alles andere als vertrauenerweckend. Ein gewaltiger Stoß schleuderte Maimun fast zu Boden.
»Bleibt in der Mitte!«, wies ihn der Flößer an. Besorgt sah er zum Himmel, wo von Westen her schwarze Wolkenfetzen heranzogen. »Um diese Jahreszeit kann sich der Flusslauf ständig ändern. Nach jedem Hochwasser gibt es neue Untiefen.«
Wie um diese Worte zu bestätigen, fegte eine stürmische Bö heran. Es war beängstigend dunkel geworden. Mit geradezu unheimlicher Geschwindigkeit rasten die schwarzen Fetzen am Himmel heran und tauchten den Strom von einem Moment auf den anderen in Nacht.
Eine Welle schlug über ihnen zusammen. Maimun klammerte sich an die Seile, die das Floß zusammenhielten. Keuchend kam er auf die Beine. Raoul atmete flach, das schwarze Haar lag tropfnass auf den Stämmen. Maimun hörte den Flößer etwas rufen.
Der Aufprall war so heftig, dass der Maure auf die Stämme flog. Schmerzhaft schürfte die Borke seine Wange auf, die durchweichten Kleider gefroren förmlich auf seiner Haut. Eine neue Welle schoss über sie hinweg. Mit einem Aufschrei kam er auf die Beine. Der Flößer warf ihm ein Seil zu, er fing es mit der Linken auf. Hastig begann er, Raoul an den Stämmen festzubinden. Mit den klammen, kältesteifen Fingern dauerte es eine halbe Ewigkeit. Immer wieder schlugen Wellen und Gischt über ihnen zusammen. Er hielt den Atem an und zog den letzten Knoten fest. Auf allen vieren kam er nach hinten zu dem Fährmann. »Da!«, brüllte dieser.
Maimun folgte dem ausgestreckten Finger. Ein Baum, der ins Wasser gestürzt und von der Strömung mitgerissen worden war, war von einer Untiefe aufgehalten worden. Armdicke Wurzeln ragten in den Fluss hinaus und hielten das Floß unerbittlich.
Maimun nickte und tastete sich vorsichtig zu der Stelle vor. Der schlammverschmierte Wurzelballen war glitschig, und immer wieder überspülte das Wasser seine starren Hände. Jetzt sah er die Stelle, wo das Floß festhing. Er zog Raouls Schwert, das er neben seinen Patienten gelegt hatte, aus der Scheide. Mit gewaltigen Schlägen drosch er auf die Wurzeln ein. Das vollgesogene Holz knirschte. Eine neue Welle durchnässte ihn von oben bis unten. Messerscharf peitschte der Schnee ihm ins Gesicht. Wütend schlug er noch einmal zu.
Die Wucht im plötzlichen Losschießen des Floßes war so gewaltig, dass er beinahe noch einmal auf die Stämme geschleudert wurde. Blitze zuckten um sie. Der Sturm trieb den Regen wie eine undurchdringliche Mauer vor sich her, kaum sah man noch die Hand vor Augen. Maimun hatte das Gefühl, tausend kleine Nadeln stächen in seine Hand und auf seinen Rücken, doch er hielt Raouls Schwert fest.
Es hörte so schnell auf, wie es begonnen hatte. Der Regen strömte noch, aber das Gewitter zog weiter. Allmählich wurden die Abstände zwischen Blitz und Donner länger. Unter dem sich aufhellenden Himmel hatte die Isar eine schmutzig braune Farbe angenommen. Noch immer wurden Büsche und kleine Sträucher an ihnen vorbei mitgerissen, doch das Schlimmste war überstanden.
Maimun widerstand der Versuchung, sich zum Gebet niederzuwerfen. Raoul war aufgewacht und hatte das Wachstuch zurückgeschoben. Obwohl sein nackter Oberkörper dem eisigen Regen ausgesetzt war, schien er es nicht zu spüren. Orientierungslos sah er ins schmutzig graue Wasser. Er wollte sich aufrichten, hielt aber mit schmerzverzerrtem Gesicht inne. »Wo zum Teufel sind wir?«, stöhnte er, als Maimun herankam. »Du bist ja verrückt!«
»Ich wusste, du würdest wie ein Ritter sprechen, wenn du aufwachst«, erwiderte dieser trocken. »Wir bringen dich ins Kloster Weihenstephan. Frag mich nicht, warum der Deutschherr dir geholfen hat. Ich hätte dich im Kerker faulen lassen, bis du dir dieses Kaltenberg aus dem Kopf geschlagen hättest.« Mit einer Fürsorglichkeit, die im Widerspruch zu seinen Worten stand, betastete er Raouls verletzte Schulter. Obwohl das Wasser aus dessen Haar rann und die Kälte ihn schüttelte, bewegten sich die harten Muskeln normal. Brust und Bauch, wo ihn die Knechte getreten hatten, reagierten nicht mehr übermäßig auf Druck. Die blauen Flecken würden ihm zwar noch bleiben, aber er blutete nicht von innen.
Mit bleichem Gesicht sank Raoul zurück. Seit Tagen unrasiert, ließ ihn der dunkle Bart noch düsterer wirken, als er ohnehin in den letzten Monaten geworden war. Er würde sich Kaltenberg nicht aus dem Kopf schlagen, dachte Maimun beunruhigt.
»Ulrich wird bereuen, was er getan hat«, flüsterte Raoul. »Ich werde den Namen meines Vaters aus ihm herausbekommen.«
Maimun kannte ihn lange genug, um ihn ernst zu nehmen. »Geht es dir noch um deinen Vater?«, fragte er ernst. »Oder um Rache?«
Nur das Rauschen des Regens und das saugende Gurgeln des Wassers durchbrach die Stille zwischen ihnen. Raouls Lippen hatten die Farbe verloren. Mit dem wirren Haar und den durchscheinenden geschlossenen Lidern wirkte er verletzlich, aber in einer Weise, die bedrohlich war. Maimun glaubte schon, er hätte wieder das Bewusstsein verloren, da flüsterte er gepresst: »Und um Anna werde ich mich auch kümmern!«