Bisher hatte der Narr des Bischofs nichts gegen Anna unternommen. Aber sie wusste, dass er auf eine günstige Gelegenheit wartete. Winterstürme trieben Schnee über Freising. Die breiten, von flachen Inseln durchzogenen Nebenarme der Isar froren zu. In den Flussauen waren die Pfade kaum begehbar. Allzu leicht konnten Lasttiere auf dem vereisten Boden ausgleiten. Wochenlang waren keine Nachrichten mehr gekommen, doch es schien, als sei der Krieg für den Augenblick vorübergezogen.
»Ludolf ist ein göttlicher Liebhaber«, flüsterte Eva. Wie jeden Abend saßen die Gaukler mit dem Gesinde eine Stunde am Kamin. Anna saß in Schaffelle eingehüllt da, und Knacken des Feuers erinnerte sie an ihre Kindheit. Über ihnen trocknete Wäsche, und hin und wieder schleppte jemand neues Reisig herüber und brachte einen eisigen Hauch mit herein. Der Hungerwinter hatte die beiden Frauen zusammengeschweißt, sie hatten keine Geheimnisse mehr voreinander.
»Frauen, die im Bett eines Priesters erwischt werden, werden ausgepeitscht oder verkauft«, tuschelte Eva weiter. Sie wirkte allerdings nicht, als würde ihr das Sorgen machen. Anna hatte den Verdacht, dass sie sogar noch stolz darauf war. Aber sie kannte Eva inzwischen gut genug. Irgendwo in dieser Straßenkatze war eine liebevolle Mutter und Freundin verborgen.
»Heulst du dir noch immer wegen Ulrich die Augen aus dem Kopf?«, fragte Eva. »Wenn du heiraten willst, lass dir doch vom Bischof einen Mann geben.«
Anna wollte antworten, dass sie das nicht konnte, als die Tür aufflog. Mit von der Kälte geröteten Wangen stürzte Falconet herein. Hinter ihm her kam der Schreiber des Bischofs mit geraffter Kutte. »Diebe!«, japste er.
Sofort drehten sich alle Köpfe herum. Die Leute sprangen vom Feuer auf und feuerten den Schreiber an. Wie wild begannen die Hunde im Eingang zu kläffen. Knurrend verbiss sich einer in Falconets Cotte und riss einen Fetzen heraus.
»Der Bursche hat ein gestohlenes Pergament!« Der Schreiber hatte den Gaukler am Kragen gepackt und griff nach dessen Spielmannsbuch. Er förderte das Blatt mit dem Schicksalsrad zutage und hielt es hoch. »Das hast du doch nicht selbst gemalt! Hängen sollte man dich!«
»Ich habe es nicht gestohlen«, verteidigte sich Falconet. Anna bezweifelte das. Sie wechselte einen besorgten Blick mit Eva.
Der Aufseher über das bischöfliche Gesinde schob die Gaffer zur Seite und kam herüber. »Habt Ihr einen Grund für diese schwere Anklage?«, wandte er sich an den Schreiber.
»Fahrendes Gesindel«, fauchte der. »Wie soll er sonst an so etwas kommen?«
Falconet grinste, und seine Erleichterung war mit Händen zu greifen. »Die Leute mögen eben meine Musik.«
Der Aufseher versuchte den Schreiber zu besänftigen. Als er ihn höflich, aber bestimmt hinausschob, schimpfte dieser wie ein Rohrspatz über das diebische Gauklerpack.
»Woher hast du das Buch wirklich?«, fragte Anna, als Falconet sich erleichtert den Angstschweiß abwischte und ans Feuer kam.
»Ich habe die Abschrift selbst gemacht«, beteuerte er. Verlegen räusperte er sich. »Also gut: heimlich. Das Bild stammt aus demselben Buch. Und wenn ich mich bei dem Besitzer blicken lasse, zieht er mir das Fell über die Ohren.«
Darum also hatte er ihr nichts über das Lied sagen können, das sie in Gefahr gebracht hatte!
»Das hättest du gleich zugeben können«, meinte Eva. »Du weißt doch, was es für sie bedeutet!«
Anna verpasste ihm einen Rippenstoß. »Wem hast du es gestohlen?«, fragte sie erwartungsvoll. »Glaubst du, er kann mir helfen?«
Falconet warf ein Scheit ins Feuer, stocherte mit dem Eisenstab in der Glut und hielt seine knochigen Hände darüber. Die Flammen warfen einen rötlichen Schein auf sein Gesicht, das auf einmal ernst war. »Ich wollte nicht, aber dann habe ich es doch genommen. Ich weiß nicht einmal genau, warum. Es gibt nur eine einzige Abschrift davon. Ich glaube, ich hatte Angst, dass das Buch zerstört wird oder verschwindet – und dass alles dann unwiederbringlich verloren wäre. Vielleicht wirst du es verstehen … irgendwann.«
Anna sah ihn zweifelnd an wie einen Irren im Siechenhaus.
Er steckte das Buch ein, und sein Fuchsgesicht verschwand fast völlig in dem Schaffell. »Ehrlich«, sagte er unvermittelt. »Was verstehen wir einfachen Leute schon vom Glauben, Demut und Keuschheit und so? Das hier ist einfach: Das Schicksalsrad trägt dich hinauf und begräbt dich unter sich. Irgendwann trifft es jeden. Also genieße den Augenblick, ob er gut ist oder schlecht. Denn du bist da. Und du weißt nicht, wie lange noch.«
Er tätschelte sie und grinste. »Frag ruhig den Bischof nach dem Lied. Musst ihm ja nicht sagen, dass sie dich deswegen als Hexe ersäufen wollten.«
Und so wurde die friedliche Ruhe des bischöflichen Skriptoriums bald empfindlich gestört:
»Meine Tochter, das ist kein Ort für dich! Noch nie war eine Frau hier drinnen.« Der Diakon, dem die Bibliothek des Bischofs unterstand, hatte sich in seiner ganzen beeindruckenden Größe zwischen Anna und die Regale voll dicker verstaubter Folianten gestellt.
»Was Ihr nicht sagt«, erwiderte sie unbeeindruckt und wand sich an ihm vorbei. Während der Bibliothekar krampfhaft überlegte, wie er sie aus dem Raum entfernen sollte, sah sie sich um.
Das Skriptorium nahm fast das gesamte erste Geschoss dieses Flügels ein. Durch die hohen Fenster drang der Wind ungehindert ein, ohne dass es allzu hell gewesen wäre. Hin und wieder hielten Schreiber und Buchmaler ein großformatiges Pergament fest, damit es nicht weggeweht wurde. Sie lasen halblaut, so dass ein ständiges Murmeln den Raum erfüllte. Nach mehreren Stunden in dem ungeheizten Raum mussten einem die Finger vor Kälte taub werden und das Wachs der Schreibtafeln erstarren – besonders an den Bänken in den Fensternischen. Von ihren wurmstichigen Pulten aus beäugten die Männer Anna neugierig. Die meisten waren Kleriker des Bischofs, erkannte Anna, aber es waren auch Mönche darunter. Auf der Kutte und im Bart des einen klebten noch Suppenreste, vermutlich aus Zeiten der Schlacht von Göllheim vor fast zwanzig Jahren.
Sie hatte Falconet das Blatt mit dem Schicksalsrad entwendet und den Anfang des Liedes aufgeschrieben. Jetzt reichte sie beides dem Bibliothekar und sagte: »Gelehrte Mönche können doch an der Schrift und der Malerei erkennen, wo etwas geschrieben worden ist. Ihr seid mich los, wenn Ihr mir sagt, wer das hier gemacht hat. Und wo ich ihn finde.«
Die Schreiber schielten neugierig über ihre Pulte, aber niemand wagte sich näher. Der Bibliothekar besah das Blatt und zuckte die Achseln. Vermutlich in der Hoffnung, Anna schnell loszuwerden, erklärte er: »Das war ein geübter Schreiber, aber es ist nicht vergoldet, also kein Prachtkodex. Eher für den täglichen Gebrauch. Deshalb auch das kleine Format, man kann es leicht transportieren.« Er kniff die Augen zusammen und rief einen Novizen. Der Junge brachte einen Smaragd, und schnüffelnd hielt er sich den Edelstein vors Auge. Anna hatte schon gehört, dass man damit die Dinge größer sah, aber beobachtet hatte sie es noch nie. Smaragde waren nicht gerade das, was eine Gauklerin scheffelweise besaß. »Niemand schreibt heute mehr so. Lass es gut sein, Mädchen, ich kann dir nicht helfen.«
»Das ist ein Spielmannslied, nicht wahr?«, fragte Anna hartnäckig. Inzwischen hatte sie begriffen, dass sie als Gauklerin eine gewisse Narrenfreiheit genoss. Wenn sie die Leute nur lange genug quälte, würden sie schon reden. »Wer schreibt so etwas auf, wie die Bibel und die Traktate der Gelehrten?«
»Welcher Schreibkundige interessiert sich für die Possen der einfachen Leute?«, gackerte der Mönch mit der besudelten Kutte. »Komm her, Mädchen, lass dir was sagen! Hast sicher was gegen mein Rheuma in deinem Beutel da. Gaukler verkaufen immer Salben.«
Anna hatte nur die Jungfräulichkeitssalbe mit, doch sie bejahte und hockte sich mit ihren Blättern zu ihm in die eiskalte Fensternische. Sie musste sich beeilen, ehe man sie hinauswarf. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Bibliothekar schon einen Novizen schickte, um Verstärkung zu holen. Die andern beäugten sie verstohlen. Der eine oder andere würde heute Nacht lebhafte Träume haben, dachte sie belustigt. Aber auf der Straße hatte sie es sich abgewöhnt, mit Männern Mitleid zu haben.
»Als Novize kannte ich einen Burschen, der so geschrieben hat«, meinte der Alte, als er sich grunzend über das Blatt beugte und einen Schleimtropfen aus seiner Nase darauffallen ließ. »Hatte einen Heidenhass auf alles Neuartige, nannte es des Teufels. Deshalb schrieb er wohl auch diese altertümliche Minuskeln. Hatte er als junger Subdiakon gelernt, prahlte er. Damals hatte er Lieder von fahrenden Klerikern und Vaganten gesammelt, für einen erlauchten Auftraggeber. Weiß aber nicht mehr, für wen.«
»Lebt er noch?«, fragte Anna atemlos. »Wie lange ist das her?«
Er zuckte die Achseln. »Zwanzig Jahre. Oder vierzig. Geboren war er irgendwo in Südtirol, sprach Bairisch mit einem Akzent.«
Zwei kräftige Laienbrüder erschienen in der Tür, und Anna begriff, dass sie verschwinden musste. Sie bedankte sich und wollte aufstehen.
»He, meine Salbe!«
»Oh, ja.« Sie nestelte an ihrem Gürtel und gab ihm einen Tiegel von der Jungfräulichkeitssalbe. Mit etwas Glück würde sie auch gegen das Rheuma wirken. Widerwillig schob sie die Laienbrüder weg, die sie packen wollten, und ging selbst zur Tür.
»Neugierde ist der Grund für den allerersten Sündenfall«, schimpfte ihr der Bibliothekar hinterher. »Hätte Gott gewollt, dass Frauen das große Wort führen, hätte er sie nicht aus Adams Rippe geschaffen. Das, wonach du fragst, hat sicher kein Mann von Ehre aufschreiben lassen.«
»He«, kicherte der mit der besudelten Kutte und schnüffelte an der Salbe, »dann vielleicht ja eine Frau!«
Anna hatte nicht so viel erfahren, wie sie gehofft hatte, aber jetzt im Winter konnte sie nicht viel unternehmen. Sie musste auf den Frühling warten. Sobald die ersten Krokusse ihre Blüten aus dem Schnee steckten, hörte sie sich in der Stadt und den Gästehäusern der Klöster nach Reisenden um, die vielleicht den Spielmann mit dem Ketzerlied kannten. Aber überall bekam sie dieselbe Antwort zu hören wie im Stift St. Veit:
»Wir haben nur wenige Gäste«, seufzte der Laiendiener, den sie fragte. »Ich kann dir nicht einmal sagen, ob wir schon einen neuen Papst haben. Die wohlhabenden Salzhändler reisen schon lange nicht mehr über Freising, sondern nehmen die Zollbrücke von München. Aber komm in ein paar Tagen wieder«, riet er, als er ihre Enttäuschung bemerkte. »Der König reist nach Nürnberg, wenn du Glück hast, rastet er hier eine Nacht. In seinem Gefolge gibt es vielleicht Leute, die so etwas wissen.«
Müde und enttäuscht ging sie den kurzen Weg zurück zum Domberg. Es wurde schon dunkel, und sie machte Platz, um einen gutgekleideten Reiter vorbeizulassen. Auf einmal zügelte er sein Pferd. Anna sah zu ihm auf.
Sie war so überrascht, dass sie ihn einfach nur anstarrte. Ihre Lippen begannen zu zittern, aber sie brachte keinen Ton heraus. Auch der Reiter schien seinen Augen nicht zu trauen – diesen undurchschaubaren Augen, die sie so liebte. Es war Ulrich.