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Ein Schrei hallte durch das fensterlose Gewölbe auf Burg Wolfsberg. Neu in die Wand eingelassene Ringe bewiesen, dass es als Verlies genutzt wurde, um von wohlhabenden Bewohnern des Lechrains Lösegeld zu erpressen. Nicht einmal das Krähen der Hähne drang hier herein, nur ein fahler Schimmer von der Treppe her verriet, dass es Morgen war. Das schimmelnde Stroh am Boden verbreitete einen betäubenden Gestank.

Der Knecht hockte auf dem Boden. Das graue Gesicht war von Schweißspuren und Blut überzogen. Keuchend versuchte er seine Hand zurückzuziehen, die der Schinder mit einem Lederband umwickelt hatte und unerbittlich auf dem Baumstumpf festhielt. Alle Augen waren nach der heutigen Plünderung vor Müdigkeit gerötet. Doch der Fraß ließ niemanden schlafen, ehe nicht alles erledigt war.

»Erbarmen, Herr!«, schrie der Knecht. Aber Entsetzen erregte schon lange kein Gefühl mehr in Heinrich von Wolfsberg. In den Jahren hatte er mehr Dinge gesehen, als sich der grausamste Verstand auszumalen vermochte. Hastig stürzte er den Met aus seinem Trinkhorn herunter, und seine eiskalten Glieder durchströmte wieder Wärme. »Erbarmen«, spottete er. »Dafür sind die Pfaffen zuständig.«

Er nickte dem Schinder zu. Die Fackeln warfen Schatten und ließen die Gegenwehr des Gefangenen lebhafter wirken.

»Ich habe nichts von der Beute gestohlen!«, brüllte der Knecht. Heinrich von Wolfsberg hinkte näher und betrachtete ihn verächtlich. Dann hat wohl der Heilige Geist das Brustkreuz des Pfaffen in dein Säckel gelegt, dachte er. Er machte sich nicht das Geringste aus Verrat. Aber von den Männern, die ihn bei seinen Plünderungen begleiteten, verlangte er absoluten Gehorsam. Diebe konnte er nicht brauchen.

Schwere Stiefel kamen die Stufen herab, und mit einer Handbewegung gebot er dem Schinder Einhalt.

Raouls Schritte verlangsamten sich, als er die Treppe herabkam. Er war zu Tode erschöpft, hatte ohne Rücksicht auf das Wetter sein Pferd fast zuschanden geritten. Seit letztem Herbst hatte er den Fraß gemieden. Heinrich war ein Trinker und ein Straßenräuber, er verachtete ihn. Aber vielleicht war er gerade deshalb nun die richtige Gesellschaft. Es gab keinen anderen Ort mehr, wohin Raoul noch gehen konnte. Frierend schlug er den dunklen Reisemantel um den Leib. Seine Augen waren trotz der Müdigkeit weit geöffnet. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen, und das raue Kratzen machte ihm bewusst, dass er zum ersten Mal seit Wochen unrasiert war.

»Was immer Ihr wollt, macht es kurz!«, begrüßte ihn der Fraß. Seine anfängliche Scheu vor dem Fremden hatte sich verloren. »Ich habe zu tun, wie Ihr seht!«

Raouls fiebrige Augen bemerkten, dass seine Knechte sich an die Wand zurückzogen. Mit dumpfer Stimme erzählte er, was er von Gernot erfahren hatte. Immer wieder bebten seine Lippen dabei, und er kämpfte gegen das Schwanken seiner Stimme. Er konnte das gefährliche Feuer, das ihn hergetrieben hatte, nicht zurückhalten, es glomm in seinen Augen auf.

»Euer Vater – ein hingerichteter Mörder?« Der Fraß lachte dröhnend. »So gefallt Ihr mir, Raoul! Das ist der Mann, den ich schätze – der, von dem die Leute sagen, dass er mit dem Teufel im Bund ist! Das höfische Gehabe stand Euch nie zu Gesichte.«

Er wollte ihm auf die Schulter schlagen, doch Raoul fegte seine Hand weg. Dann schlug er die Fäuste in den Lederhandschuhen gegen die Mauer und presste die Stirn dagegen.

»Alles, wofür ich gekämpft habe … wertlos!« Ein Geächteter stand nicht schlechter da als er. Er hatte keine Rechte, keine Familie, nicht einmal einen Namen. Ein Hund, der einen Herrn besaß, war vor dem Gesetz mehr wert. Raoul blickte auf, und das Fackellicht tauchte alles vor seinen Augen in rotes Licht.

Der Fraß frischte seine Erinnerung mit etwas Met auf. »Ich kann Euch nicht viel dazu sagen«, meinte er und wischte sich die Lippen. »Kaltenberg gehörte den Herren von Haldenberg, das stimmt. Sie waren Dienstmannen der Wittelsbacher. Ich bin ihnen einmal begegnet, als sich Ludwig von Baiern das Land mit seinem Bruder aufteilte. Mag sein, dass einer einem Rohrbacher die Kehle durchgeschnitten hat. Aber fragt mich nicht, wer. Damals saß ich im Turm meines Nachbarn. Der Narr behauptete, ich hätte ihn um dreißig Rinder erleichtert.«

Raoul versetzte der Fackel einen Schlag, dass sie aus der Halterung flog. Das Stroh glomm auf und qualmte, dann erstickte die Flamme. In seinem Kopf pochte verführerisch der Gedanke, der ihn den ganzen Ritt hierher beherrscht hatte, während der Wind den Regen in sein Gesicht peitschte: sich zu rächen an der Welt, in der nur die Herkunft eines Mannes zählte.

Der Fraß schien seine Gedanken zu erraten. Anerkennend pfiff er durch die Zähne. »Ich frage nicht nach den Ahnen meiner Männer.«

Raoul lachte hart. »Sollen wir es darauf ankommen lassen, Heinrich? Wir beide würden keine Woche warten, endlich zu klären, wem von uns beiden der Vorrang gebührt.«

»Wärt Ihr hier, wenn Ihr nicht genau daran gedacht hättet?« Die Schatten an den glänzenden Wänden bewegten sich. Heinrich nahm einen tiefen Zug, dann reichte er ihm das Horn. In seinem Bart glänzte ein Tropfen, und der Geruch des Mets wehte mit dem kalten Kerkerhauch herüber. »Ein Drittel der Beute für Euch. Das ist ein großzügiges Angebot.«

Raoul nahm das Horn, ohne es zum Mund zu führen.

»Ich kann Euch brauchen, denn …« Heinrich ging hinüber zu dem Knecht, der noch immer am Boden hockte. Er hob das Schwert und trennte die Hand mit einem gewaltigen Streich ab.

Der Knecht brüllte wie ein Tier. Rhythmisch strömte das Blut auf die Kleider des Wolfsbergers. Ohne mit der Wimper zu zucken, drehte der Fraß die Waffe und hieb ihm das Genick durch.

Mit stummem Entsetzen wichen die anderen Knechte zurück, als der blutüberströmte Körper ihres Gefährten vornüber in eine stinkende Pfütze kippte. Heinrich von Wolfsberg warf das Schwert weg. Seine behaarten Arme waren mit dunklen Tropfen gesprenkelt. Kalt vollendete er: »… mir fehlt ein guter Mann.«

Raouls Hand krampfte sich um das Trinkhorn. Vorhin, als der kalte Wind an seinem regennassen Haar gezerrt und ihm ins Gesicht geschnitten hatte, war er sich seiner Sache sicher gewesen. Aber jetzt dachte er an Kaltenberg. Menschen, die schreiend vor ihm flohen, der Geruch von Qualm und Blut. Und das Mädchen mit dem roten Haar, auf dem die Flammen glänzten. Lebhaft erinnerte er sich, wie sie ihm zitternd vor Hass den Fluch entgegengeschleudert hatte. Er hatte gehofft, der Schmerz würde aufhören, wenn er solche Bilder nur oft genug gesehen hätte. Doch in diesem Moment begriff er, dass er sie schon viel zu oft gesehen hatte. Er würde niemals sein wie Heinrich von Wolfsberg.

Die Stille wurde bedrückend. Ruhig erwiderte Raoul: »Ich bin nicht gekommen, um den Platz eines Eurer Knechte einzunehmen.«

Wortlos senkte er den Kopf zum Gruß und stellte das Trinkhorn ab. Dann warf er den Mantel über die Schulter und stieg mit sicheren Schritten die Stufen hinauf. Jede unebene Stufe brachte ihn dem Tageslicht näher.

Hinter sich hörte er den Fraß am Treppenabsatz keuchen. Mit überschnappender Stimme brüllte er ihm nach: »Das werdet Ihr bereuen, Raoul! Habt Ihr gehört! Diese Beleidigung werdet Ihr mir bezahlen!«