Vom nahen Ampermoor stieg Nebel auf und verhüllte die Schindeldächer des Marktfleckens Bruck. Nicht weit davon hoben sich die wuchtigen Türme des Klosters Fürstenfeld aus dem verlassenen Auwald. Weiden und Gestrüpp machten es an den meisten Stellen unmöglich, zum Wasser vorzudringen. Dennoch waren dort Stimmen zu hören.
»Freilich bin ich beim Herzog g’wesen«, beteuerte die Ida. Ihr Gesicht mit den ausladenden Kiefern hatte einen wichtigen Ausdruck, und die Muskeln, die unter den hochgekrempelten Ärmeln zu sehen waren, hätten einem Waffenknecht Ehre gemacht. Die Waschweiber hockten unter dem niedrigen, aber stabilen Holzgewölbe der Amperbrücke. Ein ausgetretener Pfad führte durch Holunderbüsche und wild austreibende Erlen herab. »Aber ich sag’s euch, der hohe Herr hat nichts Gutes vor!«
Das Jahr 1319 neigte sich schon in den Herbst, und noch immer saß die Krone weder auf dem Haupt Ludwigs noch Friedrichs. Die Sommer waren regnerisch und kalt geblieben. Vergeblich hatten die Menschen gebetet, dass sich die Mächtigen endlich einigen und dem Hunger gemeinsam die Stirn bieten würden. Die Gaukler spot teten, die Könige würden eher den Papst erschlagen, als voneinander abzulassen. Doch jetzt hatte sich das Blatt gewendet: Friedrich von Österreich und sein Bruder Leopold waren wieder nach Baiern eingefallen.
Während Friedrich in der Nähe von Mühldorf am Inn lag, war Leopold von seinen schwäbischen Besitzungen hergekommen und hatte sein Lager beim Kloster Fürstenfeld aufgeschlagen – dort, wo der lukrative Salzhandel über die Zollbrücke von Bruck ging. Die Fürstenfelder Mönche hatten sich in ihre Zellen verkrochen und dankten dem Herrn, dass sie keinem Herrscher die Treue geschworen hatten. Eingekesselt zwischen seinen Feinden saß Ludwig der Baier in München fest.
Unberührt von den Sorgen des Königs besprachen die Waschfrauen den üblichen Tratsch: wer hatte geheiratet, eine Fehde begonnen oder war zur Schadenfreude der andern rückwärts auf dem Esel reitend durch die Stadt geführt worden. Klatschend schlugen die Stoffe ins Wasser und auf die Steinstufen, und Ida erzählte weiter von ihren Heldentaten: »Ich hab ihm gesagt: Guter Herzog, hab ich gesagt, der Mantel ist nicht mehr zu retten. Und, hab ich gesagt, wenn ich schon einmal da bin: Mein Großer, der Crippin, will heiraten. Ein Weib, so was wünscht man seinem Todfeind nicht. Zuchtlos, und faul auch noch. Ob er da was tun kann, frag ich.« Sie beugte sich über das Wasser zu den andern, die neugierig die Münder aufrissen. »Da schaut er mich an mit seinen eisigen Augen und fährt mich an, ich soll zum Teufel gehen. Sagt man so was zu einer anständigen Frau? Der ist mir nicht geheuer.«
»Der hat andere Sorgen«, meinte die Lies und strich sich mit dem aufgequollenen Handrücken eine blonde Strähne zurück. »Nach München will er. Den König vertreiben.«
Die Gespräche verstummten, als ein Mann im dunklen Kapuzenmantel am Zollhaus vorbei auf die Brücke ritt. Neugierig reckten die Waschfrauen die Köpfe.
»Sag ich’s nicht?«, flüsterte die Ida. »Der Herzog plant etwas Böses. Betet für den König, der Mann ist der Teufel.«
Beklommen blickte der Mann im Kapuzenmantel zurück. Jahrelang hatte der Bruderkrieg getobt, aber jetzt würde er endgültig ein Ende finden. Alles hing davon ab, dass er seine Nachricht rechtzeitig an König Friedrich überbrachte.
Von den Waschweibern an der Brücke war kaum noch etwas zu sehen. Die Luft roch faulig. Weidenruten streiften ihn, und knorrige Stümpfe schälten sich gespenstisch aus dem Nebel. Unter den Hufen seines Pferdes gurgelte der Schlamm.
Er passierte eine verlassene Schafhürde. Über dem Tor hing noch ein Kräuterbüschel, um die Hexensprüche böser Weiber zu bekämpfen. Wenn Gebete vergeblich waren, suchten immer mehr Menschen Zuflucht bei den uralten Ritualen ihrer Vorfahren. Die morschen Dachschindeln waren geborsten, schattenhaft erkannte er die Weide über dem schwarzen Tümpel. Hier zweigte der Weg ab, dem er folgen musste.
Wie Phantome drehten sich die Moordünste. Schatten schälten sich aus dem Nebel, und ein Stoßgebet kam über seine Lippen. Dann erkannte er die Mönchskutten und atmete auf. »Der Herr beschütze Euch, Brüder«, grüßte er. »Seid Ihr aus Fürstenfeld?«
Ein blankes Schwert unter der einen Kutte belehrte ihn, dass er sich täuschte. Doch er hatte keine Zeit, es zu bereuen. Die Waffe blitzte auf. Dann stürzte sein Körper schwer aus dem Sattel.
Der andere steckte das Schwert in die Scheide und schlug die Kapuze zurück. Er war ein Mann von etwas über fünfzig Jahren. Graue Locken umrahmten ein scharf geschnittenes Gesicht, das irgendwie gezeichnet wirkte. Als er die Kutte abwarf, kam ein weißer Mantel darunter zum Vorschein, der im Fackellicht leuchtete. Deutlich sichtbar war das schwarze Kreuz auf der Schulter – die Tracht der Deutschherren. Er nahm den Brief, den seine Männer aus der ledernen Tasche des Kuriers gezogen hatten, und überflog ihn. Sein ernstes Gesicht wurde bleich. Mit einem scharfen Befehl rief er nach seinem Pferd. Der schwere Graue stampfte unruhig im sumpfigen Boden und warf die lange Mähne zurück. Sein Knappe, der ebenfalls die falsche Mönchskutte abgeworfen hatte, hatte Mühe, das feurige Tier zu halten. Wortlos schwang der Ritter sich in den Sattel.
»Ich hätte nicht gedacht, Euch so bald wiederzusehen«, bemerkte Bischof Konrad »der Sendlinger« etwas hochtrabend, als der Deutschherr am nächsten Morgen in sein Sprechzimmer trat. Hinter den dicken Mauern war es dunkel, denn die pergamentbespannten Fenster hielten zwar den Wind ab, aber auch das Licht. »Erst vor wenigen Tagen wart Ihr für König Ludwig hier, um den Verkauf des Fleckens Ismaning siegeln zu lassen.«
Er ließ seinen Gast in der Nische am Fenster Platz nehmen. Das Kohlenbecken war dicht an die gepolsterten Bänke gerückt und spendete Wärme.
»Der Krieg verschlingt nicht nur unzählige Leben, sondern auch die weltlichen Güter«, seufzte der Sendlinger weihevoll. Er überging die Tatsache, dass er die Silbermark für Ismaning und die anderen Dörfer gern bezahlt hatte: Es ermöglichte ihm, eine eigene Grafschaft im Isarrain zu bilden. »Ludwigs Versuche, über seine Freunde in Niederbaiern das mächtige Tirol auf seine Seite zu ziehen, waren vergeblich. Immer mehr Orte muss er verpfänden oder verkaufen. Und wie man hört, ist Österreich wieder eingefallen.« Er legte einiges Gewicht in seine Worte, denn Anna hatte die Neuigkeiten erst kürzlich mitgebracht.
Das Mädchen war Gold wert, sie wusste ihre hübschen Ohren im richtigen Moment aufzusperren. Vor dreieinhalb Jahren hatte sie ein Ritter zuschanden gemacht. Nach Monaten war sie zurückgekehrt – abgemagert und krank wie eine streunende Katze. Aber ihr Gesicht trug einen entschlossenen Ausdruck, der nicht zu ihrem verächtlichen Stand passte. Seither verschwand sie oft für Wochen, aber so war das fahrende Volk eben. Wenn sie zurückkam, hörte er sich ihre Neuigkeiten und ihre Beichte an und ließ sie seinen Prälaten wieder schlaflose Nächte bereiten. Es war schwer, dachte der Sendlinger verständnisvoll, keuschen Sinnes zu bleiben in einer Welt, in der ein Mann kein Mann war, wenn er nicht jedem Weiberrock nachlief.
»Vor fünf Jahren hätte ich geschworen, der Streit würde bald entschieden sein«, stimmte ihm sein Gast zu. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Unterhaltung ruhig zu führen, denn sein Anliegen war eilig. Aber der Sendlinger schätzte es nicht, wenn er zur Eile gedrängt wurde. »Wir haben alles darangesetzt, die Brüder Ludwig und Rudolf zu versöhnen. Aber jetzt ist Rudolf seiner Krankheit erlegen. Das Schicksal ist eine Gauklerin, und wie alle Gauklerinnen ist es treulos.«
»Wenigstens hat Ludwig das Bierbrauen dieses Jahr nicht verboten«, grollte der Sendlinger und vermied es so, seine Ansicht über Gauklerinnen kundzutun. »Das nahm man ihm übler als die Hungersnot und den ewigen Krieg.«
Der Ordensritter lächelte nicht. »Der Krieg könnte längst entschieden sein. Aber Getreide kostet überall das Zwölffache. Nicht einmal ein König kann sein Heer noch ernähren, und die Bauern verhungern zu Zehntausenden.«
Er unterbrach sich. In den letzten Jahren hatte er Dinge gesehen, die sein Verstand sich aufzunehmen sträubte. Mütter, die leblose Kinder im Arm wiegten und sich verzweifelt weigerten, sie niederzulegen. Vom Hunger aufgeblähte Bäuche, junge Frauen, die ihm ihre ausgemergelten Körper für einen Bissen Brot feilboten. Sein weißer Mantelsaum war schmutzig von bettelnden Händen, und viel zu oft war er über die lockere Erde eines frischen Grabes geschleift.
»Ich brauche einen vertrauenswürdigen Boten. Ludwig liegt vor Mühldorf am Inn«, kam er auf sein Anliegen zu sprechen. »Ihm gegenüber nähern sich die Ritter Friedrichs. Mühldorf gehört einem Verbündeten der Österreicher, dem Bischof von Salzburg, Friedrich wird sich also dort niederlassen. Die Mauern sind fest, und die Stadt ist nur schwer anzugreifen, wegen der sumpfigen Auwälder in der Umgebung. Herzog Leopold von Österreich ist von Schwaben her eingefallen. Er steht nicht weit vom Kloster Fürstenfeld – und damit beinahe vor Euren eigenen Toren. Die Nachricht ist wichtig.«
»Ihr habt sie abgefangen?« Die kräftige Gestalt des Sendlingers fuhr mit einiger Beweglichkeit auf. »A Hund is’ er scho!«, entwischte es ihm anerkennend. Der Wittelsbacher verstand es wirklich, immer wieder zu überraschen!
Der Deutschherr reichte ihm den abgefangenen Brief, und der Bischof überflog ihn. Überrascht sah er auf.
»Das ist ja der Teufel!«, stieß er hervor. »Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?« Er winkte seinem Sekretär, einem blässli chen, gutaussehenden jungen Prälaten. Der Ring an seiner Hand blitzte auf, und seine Augen funkelten, als das Diplomatenblut seiner Familie in ihm aufwallte. »Hol mir die Gauklerin Anna«, wies er ihn barsch an. Seine Stimme hatte jeden salbungsvollen Ton verloren. »Und mach schnell! Es eilt.«
Anna ahnte nicht, dass die Ränke der Mächtigen wieder die Finger nach ihr ausstreckten. Gemeinsam mit Eva hockte sie in der gewölbeartigen Vorhalle des Freisinger Doms und verkaufte Liebeszauber. Das Rezept aus Eisenkraut und Mistelbeeren hatte sie irgendwann von einem Quacksalber aufgeschnappt.
»Eine gute Wahl, Herr! Ihr müsst es in viel Wein mischen, den Ihr Eurer Dame gebt. Das macht vier Pfennige.« Sie reichte dem Kunden die Kräutermischung, und der Geruch übertönte einen Moment den von Weihrauch, Wachs und Urin. Der flachsblonde Mann griff so hastig danach, dass er ihr fast leidtat.
»Vier Pfennige!« Eva, die ein paar Schritte weiter hockte, sah ihm verblüfft nach. Milde blickten die Steinskulpturen Kaiser Barbarossas, seiner Gemahlin und des Bischofs Otto von Freising über sie hinweg. »Du wirst immer frecher.«
Mit kälteklammen Fingern steckte Anna das Geld ein. »Seit wann nimmst du es so genau? Wenn er es mit genug Wein versetzt, wird sie schon allein davon schwach.«
»Mistelbeeren sind ziemlich giftig«, bemerkte Eva.
»Liebe oder Tod – das gefällt mir!« In der halbdunklen Vorhalle herrschte ein Kommen und Gehen, so dass ihnen die kleine bucklige Gestalt nicht aufgefallen war. Anna blickte auf und sah in die wimpernlosen Augen des Narren.
Misstrauisch zögerte sie. Der junge Mann, den der Hofnarr des Bischofs mitgebracht hatte, begaffte sie derart ungeniert, dass sie nicht die geringste Lust hatte, ihnen irgendetwas zu verkaufen.
»Nur nicht so schüchtern. Sie ist keine Heilige«, ermunterte der Narr seinen Begleiter. Der helle Bart war feucht, als hätte er getrunken. »Wir haben herausgefunden, dass sie eine verurteilte Hexe ist. Darauf hat der Bischof sie nach Augsburg geschickt. Und das Erste, was sie tat, war, es auf der Straße mit einem Raubritter zu treiben, bis sie fast hinüber war.«
Anna fuhr zusammen und starrte ihn an. Sie hatte gewusst, dass er nicht gerade ihr Freund war. Aber sie hatte nicht geahnt, wie sehr er sie hasste. Hatte er Nachforschungen über ihre Vergangenheit angestellt? Anna wurde kalt. Hatte er am Ende den Bischof beschwatzt, sie nach Augsburg zu schicken, wo sie dem Fraß in die Hände fiel? Sie schloss die Augen und versuchte die Erinnerung weit wegzuschieben.
Der andere Bursche griff nach ihrem Arm. In Panik sprang Anna auf. Blindlings schlug sie zu, dass er erschrocken aufschrie, und lief in den mächtigen Innenraum des Doms. Bettler und Scharlatane hockten am Eingang. Vor dem Lettner, der den Bereich des einfachen Volks vom Chorgestühl trennte, hörten Bauern eine Messe. Bei jedem Geräusch aus den Seitenkapellen zuckte sie zusammen. Aber nur ein paar Frauen murmelten Gebete oder trafen ihre Liebhaber. Sie lief daran vorbei und stieg die Stufen zur Krypta hinunter. Im Gewölbe der Unterkirche fühlte sie sich sicherer. Schwer atmend lehnte sie sich gegen die Bestiensäule, wo Ritter gegen Drachen kämpften.
Jemand kam hinter ihr herab, und keuchend fuhr sie herum.
»Steffen hat mir erzählt, was dir passiert ist«, sagte Eva ruhig.
Anna drehte den Kopf zur Säule. Nachdem der Fraß sie geschändet hatte, hatte sie sich furchtbar beschmutzt gefühlt. Mit niemandem hatte sie darüber gesprochen. Steffen hatte sie halbtot nach Freising zurückgebracht, wochenlang war sie krank gewesen. Obwohl sie sich geschworen hatte, Falconets letzten Wunsch zu erfüllen, hatte sie es nicht fertiggebracht. Das Spielmannsbuch wegzugeben war, als würde sie Falconet endgültig sterben lassen.
»Vielleicht bin ich wirklich eine Hexe«, sagte sie bitter. »Etwas an mir reizt die Männer, mich anzufassen.«
»Die Männer fassen dich an, weil du jung und hübsch bist. Wenn das Hexerei ist, sind wir alle Hexen.« Eva neigte nicht zu theologischen Feinheiten.
»Meine Eltern hatten recht«, sagte Anna tonlos. »Als ich auf die Straße ging, habe ich mich selbst zur Hure gemacht. Und Ulrich«, ihre Stimme brach ab. Erstickt flüsterte sie: »… Ich kann ihm doch nicht mehr in die Augen sehen!«
So sehnsüchtig sie an ihre letzte, leidenschaftliche Begegnung dachte, so unerträglich war ihr jetzt der Gedanke an die Berührung eines Mannes. Selbst an seine, obwohl sie sich wie verrückt nach ihm sehnte. Ein Salzhändler hatte ihr von einer Belagerung in der Hohenlohe erzählt. Am Ende lebte Ulrich nicht mehr, sonst hätte er sie längst geholt. Oft hatte sie sich aufgeben wollen, aber immer hatte eine Stimme in ihrem Inneren gesagt, dass es noch nicht so weit war.
»Glaub nicht, dass es deine Schuld war«, sagte Eva ernst. »Es passiert allen fahrenden Frauen irgendwann. Das erste Mal habe ich mich auch gehasst. Aber es bedeutet gar nichts. Sie haben einen Körper gehabt, das ist alles.«
Über Annas Gesicht liefen Tränen. Zum ersten Mal seit damals konnte sie wieder weinen. Der Schmerz brach aus ihr heraus, aber zugleich erleichterte es sie unglaublich. Sie umarmte Eva und hielt sich an ihr fest. »Du alte Vettel«, flüsterte sie, aber in ihr Weinen mischte sich ein unterdrücktes Lachen. »Es gibt wohl gar nichts, was du noch nicht erlebt hast!«
Eva schob sie sanft von sich weg. Anna wischte sich die Tränen aus den Augen. Der Sekretär des Bischofs kam die Treppe herab, sichtlich überrascht, sie ausgerechnet hier, in dem heiligen Bau zu finden. »Komm in den Palast«, befahl er gewohnt einsilbig. »Der Bischof bittet dich, einen Botengang zu übernehmen.«