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Steffen, der dem schwarzen Ritter wütend nachstarrte, drehte sich langsam um. Er schluckte hart, und ein Zucken lief über seine Wange. Der Kaufmann hatte sich vor ihm aufgebaut. In der löchrigen Bruche war er zwar nicht eben eindruckgebietend, verfügte aber doch über eine gewisse Masse.

»Peitscht ihn aus!«, kreischte er mit überschnappender Stimme. »Oder du gibst mir mein Geld zurück!«

Im Nu sammelten sich Badeknechte und Gäste um den Goliarden. Auch die Bademägde, die dem schwarzen Ritter mit sichtlichem Wohlgefallen nachgesehen hatten, wandten sich nun ihm zu. Steffen kaute auf den Lippen. Er war zwar alles andere als schmächtig, aber die Leibkneter, die ihm den Ausweg versperrten, auch nicht. Ihr Grinsen machte unmissverständlich deutlich, dass sie es als willkommene Abwechslung begrüßen würden, ihn zu verprügeln. Steffen wusste, wann er den Rückzug anzutreten hatte. Er hatte keine Angst vor gewalttätigen Freiwirten, aber alleine gegen eine Horde Leibkneter und gelangweilter Stadtväter, das war seine Sache nicht. Mit einem Satz war er an dem Kaufmann vorbei.

»Haltet ihn!«, brüllte der.

Steffen sprang auf das Podest mit den Zubern und setzte mit ungeahnter Gelenkigkeit über den ersten hinweg. Mit einem schrillen Schrei fuhr das Mädchen im Wasser zurück. Unsanft kam der Goliarde auf und hielt sich den Rücken. Trotz seiner Beeinträchtigung sprang er auf den Rand des nächsten Zubers und lief über das Holzbrett, das quer über mehrere Wannen hintereinander gelegt war. Teller flogen ins Wasser, im Vorbeihasten nahm er einen Becher auf und leerte ihn.

Schläge hagelten nun von allen Seiten auf ihn ein. Die anderen Gäste waren auf die Zuber gesprungen und feuerten ihn an. Selbst im winzigen Hinterzimmer wurde der Vorhang zur Seite geschoben.

Er bückte sich nach einem Hühnerschlegel. Mit dem Fleisch hetzte er über die Bretter und sprang auf der anderen Seite herab.

Er prallte gegen einen muskulösen Körper, der selbst ihn überragte. Der zweite Leibkneter packte ihn am Kragen. »So Bürschchen«, grinste er, während sich der Goliarde wand und zappelte wie ein Fisch am Haken. »Nun bezahl deine Schulden!«

Einige Zeit später hinkte Steffen durch die verwinkelten Straßen von Innsbruck zurück. Der Holzturm der nahen Kapelle verriet, dass er die richtige Straße genommen hatte. Er erkannte den Bauernhof mit der angebauten Scheune. Dann öffnete er ächzend das Tor.

»Endlich!«, begrüßte ihn Eva ungeduldig. »Wo ist Anna?«

Ohne ein Wort ließ sich der Goliarde auf einen Strohballen fallen und begutachtete seine Leiden. Sein Auge war zugeschwollen, aber obwohl er fast nichts mehr sah, schmerzte das Licht, das durch die Bretterritzen fiel, höllisch. Jemand hatte ihn in den Hintern getreten, dass ihn sein Hexenschuss noch böser plagte als vorher. Überall an Armen und Beinen hatte er Prellungen, und er schmeckte Blut. Hoffentlich waren die Zähne heil.

»Wo ist sie?« Eva begann mit einem feuchten Stofffetzen an seiner Lippe herumzutupfen. Ihr Sohn Korbinian stieß ihn ungewohnt ruppig in die Rippen, und er japste nach Luft.

»Weg«, erwiderte er widerwillig.

»Du solltest sie beschützen!« Eva ließ das Tuch sinken und kramte in ihrem Säckel. Die Kinder sahen ihn unter ihren strähnigen Blondköpfen an wie einen Verräter.

Wehleidig betastete Steffen seine Verletzungen. »Ein Ritter hat sie mitgenommen. Sie kannte ihn.« Irgendwoher war ihm der Mann auch bekannt vorgekommen, aber er erinnerte sich nicht.

»Du Tölpel!« Eva warf das Säckel ins Stroh und ging auf ihn los wie eine Furie. Am Haar zerrte sie ihn zu sich herauf und wollte zuschlagen, doch ihre Tochter Resi fiel ihr in den Arm. »Und wohin?«, fragte sie.

»Woher soll ich das wissen?«, fauchte Steffen. Erschöpft sank er wieder auf den Strohballen. Er war gekränkt und sein Stolz fast ebenso zerschunden wie sein Körper. Selbst nach der Schlacht in der Schweiz hatte er sich nicht übler gefühlt. Einen Hund konnte man so prügeln, aber doch nicht ihn: Steffen, der beinahe ein gelehrter Doctor in utroque geworden wäre!

»Ohne Anna haben wir in dieser Abtei bei Brixen nichts verloren«, sagte Korbinian nachdenklich.

Eva stieß einen wütenden Laut aus. Auf der Straße konnte man es sich nicht leisten, lange über andere nachzugrübeln. Sie hatte gelernt, Freunde und Liebhaber zu vergessen, sobald sie sie aus den Augen verlor. Aber seit dem Hungerwinter war Anna ihr ans Herz gewachsen. Sie machte sich Sorgen. Steffen zog den Kopf ein, aber er wechselte einen verständnisvollen Blick mit Korbinian.

»Der Mann hatte ein Schwert«, verteidigte er sich. »Keiner wagte sich an ihn heran, es umgab ihn die Macht eines Dämons«, flüsterte er heiser und rollte die zugeschwollenen Augen. »Er war ganz in Schwarz gekleidet. Schwarzes Haar und Bart, und Augen … Herrgott, Augen wie ein Fürst der Hölle!«

Eva sprang auf wie von einer Ratte gebissen. »Du Narr, erinnerst du dich nicht? Das war der Mann, vor dem sie damals zu uns geflohen ist!«

Stadtluft macht frei, sagte das fahrende Volk, und Innsbruck war eine Stadt wie jede andere. Zähneknirschend ließ sich Eva darauf ein zu bleiben. Schließlich wussten sie nicht, wohin Raoul Anna verschleppt hatte. Und obwohl der Föhn noch warmes Wetter brachte, stand der Winter vor der Tür.

Ohne Anna fühlte sich Eva ungewohnt verlassen. Die Leute gaben nichts mehr aus für Liebeszauber oder Jungfräulichkeitssalben. Im Gegenteil, manche schickten ihren Nachwuchs betteln, um ihm noch das Erbettelte aus dem Mund zu holen. Steffen hatte sich mit einer geheimnisvollen Andeutung aus dem Staub gemacht: Er sei Mönch gewesen, und die Kirche würde für seinen Lebensunterhalt aufkommen – so oder so.

Einen Hungerwinter wie den vor vier Jahren wollte Eva nicht noch einmal erleben. Vor nichts hatte sie so viel Angst, wie noch einmal einem Kind hilflos beim Sterben zusehen zu müssen. Sie erinnerte sich, am Stadtrand ein Büßerinnenkloster gesehen zu haben, und entschloss sich, um Aufnahme zu bitten.

Der Weg führte über den Rathausplatz. Die Leute drängten sich um jemanden, der seiner Amtsrobe nach ein Stadtrichter oder etwas der Art sein musste. Er stand bei einem befestigten Torturm, vielleicht auf einem Podest. Dumpfe Hammerschläge verrieten, dass ein Urteil vollstreckt wurde. Eva hatte selbst zu viele Strafen am eigenen Leib erfahren, um noch allzu zartfühlend zu sein. Neugierig drängte sie sich durch die buntgekleidete Menge an den mit Leintüchern überspannten Marktständen vorbei.

Ein schwarzgekleideter Stadtbüttel befestigte soeben das Schild. Eva konnte nicht lesen, aber sie hörte, wie die Leute zischten: Wegen Meineid.

Abfälle und sogar kleine Steine flogen in Richtung des Verurteilten, die Leute riefen Schimpfwörter. Jetzt konnte Eva ihn erkennen. Mit einem kleinen Laut der Bewunderung blieb sie stehen.

Man hatte ihn in den Schandkäfig gesperrt. In diesen schlechten Zeiten war das Gefängnis nur grob aus Holzstäben gezimmert und auf dem Platz aufgestellt worden. Der Mann darin war allerdings kaum zu übersehen.

Ein schwarzbärtiger Riese mit eindruckgebietenden Muskeln schlug in wütender Verzweiflung an die Stäbe. Trotz der morgendlichen Kühle trug er nur einen kurzen Lendenschurz, so dass Evas geübter Blick seinen muskelbepackten Körper bewundern konnte.

»Der Teufel soll ihn holen!«

»Er soll sich hier nicht mehr blicken lassen!«

»Der meineidige Hund, der meineidige!«

»Reiß dein Maul nicht so weit auf, wenn es Gerechtigkeit geben würde, stündest du dort oben!«

»Was hat er angestellt?«, fragte Eva neugierig.

Die angesprochene Frau wandte ihr Eselsgesicht herum. »Weiß nicht«, erwiderte sie. »Die Leute reden, er hat seinen Meister im Stall des Burggrafen belogen. Ging wohl um einen Leibeigenen, der seinem Herrn weggelaufen ist und den er beschützen wollte.«

Evas Herz flog dem Riesen zu. Ihr fiel das Büßerinnenkloster ein. Eigentlich hätte sie sich nicht aufhalten sollen, aber angesichts dieses Körpers kam ihr Entschluss ins Wanken.

In diesem Moment flog die Kirchentür auf, wo Steffen auf Raubzug war. Mit beachtlicher Gelenkigkeit setzte der Goliarde ins Freie, hinterher ein dürres Mönchlein, das Zeter und Mordio schrie. Ein paar Brustkreuze und glänzende Ketten unter den Arm geklemmt, suchte Steffen das Weite.

Eva verschluckte einen Fluch. Also so sollte die Kirche für Steffens Auskommen sorgen! Hastig drückte sie sich hinter die muffige Cotte eines Bürgers. Hoffentlich hatte sie noch niemand mit ihm gesehen.

Johlend rannten die Leute dem Räuber hinterher. Selbst die Büttel am Schandkäfig verließen ihren Posten, um besser zu sehen. Niemand kümmerte sich mehr um den Mann darin.

Eva schürzte die vollen Lippen. Sie beschloss, das Büßerinnenkloster in unbestimmte Zukunft zu verschieben. Mit Gottes Hilfe und diesem Mann an ihrer Seite würden sie schon irgendwie durchkommen. Rasch überzeugte sie sich, dass die Aufmerksamkeit aller auf den flüchtenden Lotterpfaffen gerichtet war, und drückte sich näher heran. Mit einer schnellen Handbewegung löste sie den Riegel.

Der bärtige Riese starrte ebenfalls dem Kirchenräuber hinterher. Eva musste erst zischend auf sich aufmerksam machen, ehe er sich umdrehte. Sein verlegenes Grinsen ließ ihr das Herz in die Knie rutschen. Dann stieß sie die Tür auf und zog ihn ins Freie.