Annas Puls raste, als sie durch die gewundene Gasse ritten. Vor zwei Tagen hatte Regen die Straßen aufgeweicht, und Raouls Pferd sank bis zu den Fesseln in Schlamm und Unrat ein. Wütend wehrte sie sich und schrie um Hilfe. Aber Raoul hielt sie fest an sich gedrückt, und niemand kümmerte sich um sie. Nur durch die Ritzen der Fensterläden spürte sie Augen auf sich gerichtet. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Nicht einmal eine Rennsau lief herum, die Tiere waren vermutlich in den Bratreinen der hungernden Bewohner gelandet. Sie hatte keine Vorstellung, wie sich Raoul an ihr rächen würde. Aber er entführte sie kaum wegen ihrer schönen Augen.
Sie näherten sich einem gemauerten Torhaus mit rotweißen Fensterläden, hinter dem sich eine mit Holz überdachte Steinbrücke erhob. Anders als die Stadtbewohner wirkten die Soldaten wohlgenährt – und kräftig. Sie begann wieder um Hilfe zu schreien.
Raoul wechselte einen belustigten Blick mit dem Zollherrn. »Manche Leibeigenen laufen immer wieder davon«, bemerkte er, während er in aller Ruhe seine Börse vom Gürtel holte. Natürlich würde man ihm glauben, dem Ritter – und nicht ihr. Seine Mundwinkel zuckten, und er setzte nach: »Dieses Mal musste ich sie durch die halbe Grafschaft jagen.«
»Vielleicht gefällt es ihr nicht, was Ihr des Nachts mit ihr tut, Herr.« Der eine Reisiger lachte und entblößte einige verfaulte Zahnstümpfe unter den fettigen blonden Strähnen.
Raoul packte sie fester. Der Duft des Bades stieg ihr in die Nase und erinnerte sie, dass sie vor weniger als einer Stunde halbnackt in einem Zuber gesessen hatten. »Du bist undankbar, Mädchen«, bemerkte er. Es klang wie eine versteckte Drohung. »Ich könnte dich viel härter anfassen.«
Genauso gut konnte es allerdings sein, dass er wieder nur mit ihr spielte. Annas Angst machte einem ohnmächtigen Hass Platz, der sie fast erstickte. »Krepiert am Aussatz!«, zischte sie.
Hinter Innsbruck ging es einen steilen Weg durch Nadelwald bergauf. Herbstlich bunte Bergeichen und Ahornbäume mischten sich hinein, am Wegrand lagen Felsbrocken. Maimun, Raouls Diener, hatte offenbar hier gewartet. Wenigstens war sie nun nicht mehr mit Raoul allein, dachte Anna erleichtert. Unter anderen Umständen hätte sie den Ritt genossen. Die Römerstraße war gut befestigt, so dass selbst Wagen sie befahren konnten. Hier konnte man sich nicht verirren, vermutlich hatte Raoul deshalb keinen Bergführer gesucht. Aber sie wusste zu gut, was es bedeutete, wenn eine Frau allein mit zwei Männern reiste. Raoul konnte sie irgendwo in den wilden Thymian werfen und gewaltsam nehmen, nur weil ihm gerade danach war.
Als sie abends vor einer Scheune rasteten, sah sie sich unbehaglich um. Die bucklige Wiese fiel zum Bauernhof hin ab. Obwohl einzelne knotige Bergfichten darauf standen, war es zu weit, um hinabzulaufen, die Männer hätten sie eingeholt.
Während Maimun Feuer machte, befahl Raoul ihr, die Satteltaschen mit Dörrfleisch in die Scheune zu bringen, um keine Bären anzulocken. Anna gehorchte so hastig, dass sie auf eine Silberdistel trat. Mit einem Schmerzensschrei rieb sie sich den nackten Knöchel. Dabei waren die handtellergroßen weißen Blüten kaum zu übersehen. Zögernd kam sie wieder aus der Hütte und beobachtete ihn misstrauisch. Es gab Männer, die ihr eigenes Geschlecht den Frauen vorzogen, auch wenn sie sich das bei ihm nicht recht vorstellen konnte. Oder hatte er ein Sühnegelöbnis getan? Büßer sahen anders aus.
Anna dachte daran, wie unverschämt er sie schon einmal geküsst hatte. Beunruhigt presste sie die Lippen aufeinander. Wenn sie nur diesen Fluch nicht ausgesprochen hätte! Er schien fest daran zu glauben, dass es dadurch eine Art von Verbindung zwischen ihnen gab.
»Abergläubiges Geschwätz!« Raoul warf Zweige in die Glut. Mittlerweile erhellte nur noch ein violetter Streifen am Horizont den Abend. Das Feuer beleuchtete ihn, aber auf sein Gesicht fiel ein Schatten. »Ich glaube nicht an Flüche.«
Überrascht ließ Anna den Zopf sinken, den sie gerade neu hatte flechten wollen. Konnte er ihre Gedanken lesen?
»Wiege dich deshalb aber nicht in Sicherheit.« Seine Stimme hatte einen gefährlich metallischen Klang. »Es hätte nichts geändert.«
Er hätte sie trotzdem getötet, nur um nicht im Ruf eines Verfluchten zu stehen! Sie flocht ihr Haar weiter, aber vorsichtig kam sie näher. »Und was werdet Ihr jetzt tun?«
Raoul blickte auf, und das Feuer warf einen roten Schein auf sein Gesicht. Endlich schüttelte er kaum wahrnehmbar den Kopf.
Anna verschlug es die Sprache.
»Ich habe mehr als einmal daran gedacht, dich umzubringen«, sagte er gereizt. »Aber das heißt nicht, dass ich es gern getan hätte. Für was hältst du mich, für ein wildes Tier?«
»Für was sonst?«, schleuderte sie ihm ins Gesicht. Sie warf den Zopf auf den Rücken und kam heran. All die Jahre hatte sie keine Antwort auf die Frage nach dem Warum bekommen, es zerriss sie. »Ihr habt die Plünderung meines Dorfes angeführt!«
»Du weißt, wie der Krieg ist!« Vielleicht sagte er die Wahrheit. Vielleicht hatte er es wirklich nicht aus Gier getan. Aber es blieb Unrecht. Raouls Lippen bewegten sich stumm, als wolle er noch mehr sagen. Stattdessen erwiderte er abfällig: »Du kannst mir glauben, dass ich es oft bereut habe, dich nicht einfach niedergeschossen zu haben. Ich habe dich aus dem Wasser gezogen, und zum Dank verrätst du mich.«
»Was hättet Ihr an meiner Stelle getan?«, schrie sie zurück. »Hätte ich Euch mit Ulrich um Kaltenberg kämpfen lassen sollen?«
Raouls schneller Atem bewegte eine Locke, die ihm in die Stirn gefallen war. Das Feuer beleuchtete seine vor Wut oder Anspannung verzerrten Züge. »Das wäre besser gewesen, als mich im Kerker verfaulen zu lassen!«, zischte er.
Anna starrte ihn an. »Das wusste ich nicht«, brachte sie hervor.
»Nein?« Er stieß abfällig den Atem aus. Wütend entfernte er sich einige Schritte, blieb stehen und schrie sie an: »Dein edler Ritter Ulrich hat mich fast umgebracht. Du kannst mir glauben«, zischte er, »sollten er und ich uns noch einmal begegnen, wird es einer nicht überleben!«
Wider Willen verstand Anna seine Wut. Dann machte sie sich erschrocken klar, wer er war. Es war ihm zuzutrauen, dass er ihr Vertrauen gewinnen wollte, um Ulrich zu schaden. Zu gut erinnerte sie sich an seine Worte, als er sie geküsst hatte: Ich könnte ihm noch viel mehr nehmen. »Ich habe Euch verraten, aber für den Mann, den ich liebe«, stieß sie verächtlich hervor. »Ihr kämpft für Eure Gier!«
Wütend kam Raoul heran und packte ihren Arm.
Mit einem Schrei fuhr sie zusammen. Zitternd starrte sie ihn an, ohne ihn zu sehen. Wie bei allen Männern hing vom Reiten ein leichter Geruch nach Leder in seinen Kleidern. Und auf einmal waren die Erinnerungen wieder da. Das entsetzliche Gefühl, machtlos zu sein. Die schwitzenden Männer, der Schmerz und der Ekel vor dem eigenen Körper. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie sein Schwert, das er achtlos neben sich gelegt hatte. Sie befreite sich mit einer gelenkigen Drehung, raffte es auf und riss es aus der Scheide. Lieber würde sie sterben, als das noch einmal zu erleben.
Raoul schien überrascht. Dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte laut. Maimun war herangekommen, mit einem Wink gab er ihm zu verstehen, dass er ihn nicht brauchte. »Gib das her«, befahl er. »Du könntest dich verletzen.«
Anna hob die schwere Waffe. Auf den Märkten früher hatte sie schon ein Schwert in der Hand gehabt. Sie erinnerte sich, wie Steffen ihr gezeigt hatte, es weit genug vor sich zu halten und die Kraft aus der linken Hand zu holen. Unwillkürlich nahm sie einen Fuß zurück, wie sie es gelernt hatte. Das Gefühl der rauen Lederbänder, mit denen der Griff umwickelt war, gab ihr Sicherheit. Auch ein Ritter war ohne seine Waffen nur ein Mann. Er machte einen Schritt auf sie zu, und sie riss den Anderthalbhänder hoch.
Verblüfft sah er an sich herab. Die messerscharfe Schneide hatte ihm die Cotte über der linken Schulter aufgerissen. Anna sah das Spiel der Muskeln, kleine Blutstropfen perlten auf seiner Haut. Er wies darauf. »Ich hoffe, du kannst das flicken.«
Wieder schlug Anna zu. Mit einem überraschten Schrei wich er zurück, und sie verfehlte ihn nur knapp. Keuchend hob sie das Schwert vor dem Gesicht, so dass sie ihn zwischen ihren Armen hindurch sah. Die ungewohnte Haltung zog in den Muskeln. Blitzschnell tauchte Raoul unter der Klinge hinweg und stand neben ihr. Er hebelte ihr das Schwert aus der Hand, warf es Maimun zu und packte sie an den Schultern.
Ihr Herz raste so, dass ihr übel wurde. Es war ein Wunder, dass er sie bisher nicht getötet hatte, aber jetzt würde er es tun. Sie schlug nach ihm, um sich zu befreien. Er schrie etwas und packte sie fester. Anna verlor die Fassung. Panisch schlug sie um sich und kreischte wie von Sinnen.
»Lass sie los, du Narr! Siehst du nicht, was mit ihr ist?«, hörte sie Maimun rufen.
Der Griff lockerte sich. Keuchend taumelte sie zurück und rang nach Luft. Mit zitternden Lippen starrte sie in Raouls Gesicht.
»Sieh mich nicht so an!«, herrschte er sie an. »Wenn ich dich schänden wollte, hätte ich es getan, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
Er nahm Maimun das Schwert ab und warf es vor der Scheune auf den Boden. Anna spürte die unterdrückte Wut in der Bewegung. Es fiel Raoul sichtlich schwer, aber er beherrschte sich. Langsam richtete er sich auf. »Ist das wahr?«, fragte er ruhiger. »Hat dir jemand Gewalt angetan?«
Anna kämpfte mit den Tränen. Sie erinnerte sich, wie der Narr des Bischofs darüber gespottet und ihr die Schuld zugeschoben hatte. Niemand, schon gar nicht ihr Feind, durfte je erfahren, wie man sie gedemütigt hatte. Es war kaum besser, als sich ihm selbst geschändet und misshandelt zu zeigen. Sie ertrug weder seinen Spott noch sein Mitleid. Mit abgewandtem Kopf sagte sie endlich: »Heinrich von Wolfsberg … Euer Verbündeter. Mit seinen beiden Söhnen …« Ihre Stimme versagte. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.
Raoul stockte. Dann kam er zu ihr herüber. Anna zuckte zusammen, aber er reichte ihr nur den Becher. Zögernd und in kleinen Schlucken trank sie, und Wärme lief durch ihren Körper.
»Ich habe Ritter gesehen«, sagte Raoul ernst, »die weit weniger hätten ertragen können.«
Anna ließ den Becher sinken und sah auf. Ausgerechnet er sagte ihr das! Es war beinahe ganz dunkel geworden. Nur schemenhaft war sein regelmäßiges Gesicht mit dem ausrasierten Bart noch zu erkennen. »Warum habt Ihr mich nicht getötet?«, flüsterte sie.
Er zögerte. »Ich weiß es nicht.« Mit einer Handbewegung schnitt er jedes weitere Wort ab und verschwand in der Nacht. Nur die schwankenden Zweige einer Bergfichte verrieten seinen Weg.