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»Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes …«

Anna ließ Falconets Buch sinken und sah dem Pilgertrupp aufmerksam entgegen. Schon von fern hatten sie ihre monotonen Gebete und Lieder gehört. Raoul hatte ihr den Platz im Sattel überlassen, ließ aber die Hand nicht vom Zügel. Immer wieder sah sie ihn über die Seiten hinweg forschend an. Damals in Kaltenberg war alles so einfach gewesen. Doch vor ein paar Tagen hatte sie zum ersten Mal einen Blick unter dem unsichtbaren Visier aufgefangen, hinter dem er sich verbarg. Und das, was sie gesehen hatte, war nicht, was sie erwartet hatte.

»Vor den Wilden Männern müsst Ihr euch hüten, die treiben hier ihr Unwesen.« Raoul hatte die Pilger angesprochen, und jetzt war deren Redefluss kaum noch zu bremsen. Anna bemerkte ihre nackten Füße, voll rissiger Schwielen. »Uns hat Gott beschützt, aber einem Kaufmann, der uns begegnet ist, haben sie schlimm zugesetzt. Sie sind am ganzen Körper behaart wie Tiere.«

In Raouls Augen waren sie sicher weit irdischeren Ursprungs. Trotzdem dankte er höflich und fragte nach Neuigkeiten. Seit Tagen hatten sie nicht gehört, was in der Welt vor sich ging.

»Am Hof von Konrad Brenner, oben am Pass, hat es schon geschneit. Aber in Italien friert kein Fluss im Winter zu«, berichtete ein junger Bursche, der sicher nicht nur um seines Seelenheils willen nach Rom gepilgert war. »Da können die Treidelkähne sogar zu Weihnachten noch fahren. Und wenn Ihr Neuigkeiten wissen wollt«, raunte er verschwörerisch, »in Italien war das Meer rot wie Blut. Jedes Kind weiß, dass dies eine der sieben Plagen ist, die das Jüngste Gericht ankündigen. Die Apokalypse steht unmittelbar bevor.«

»Ich bin zuversichtlich, dass ich vorher noch über den Pass komme«, meinte Raoul trocken. »Wo waren die Wilden Männer?«

Die Pilger zogen weiter entlang dem Wildbach, dem sie die ganze Zeit gefolgt waren, und Anna überließ Raoul wieder das Pferd. Sie hätte sich gern in einem der Becken gewaschen, die das Wasser in den Fels grub. Aber sie fühlte sich noch immer unwohl, wenn sie allein waren. Maimun war vorhin auf einer Bergwiese zurückgeblieben, um Enzian und Kräuter für seine Tinkturen zu sammeln. Und der Bocksgeruch war nicht das schlechteste Mittel, einen Mann auf Abstand zu halten.

Wie so oft begann sie vor sich hin zu singen. Falconets Lieder gaben ihr das Gefühl, noch etwas von dem Gaukler bei sich zu haben. »In trutina mentis dubia fluctuant contraria: lascivus amor, et pudicitia.« Siedend heiß fiel ihr ein, was das bedeutete: Auf der Waage meines Herzens streiten widerstrebende Zweifel: laszive Begierde und Keuschheit. Die wenigsten Ritter sprachen zwar Latein, aber vorsichtshalber sang sie in unbeteiligterem Ton weiter.

»Das nennst du singen?« Raoul drehte sich im Sattel zu ihr um. Der Föhn wehte, aber er hatte die Cotte nicht abgelegt. »Du bist eine Possenreißerin.«

Der Weg war steil, und vom Singen war sie noch mehr außer Atem. Ihr war heiß, sie war schmutzig und hungrig. Aber sie war ihm beinahe dankbar. Es erschreckte sie, wie schwer es ihr fiel, in ihm den brutalen Plünderer zu sehen. »Seid Ihr auch ein Troubadour?«, fragte sie schroff.

Ein abfälliges Lächeln spielte um seine schönen Lippen. »Wohl kaum. Liebeslieder sind meine Sache nicht.«

»Wer hätte das gedacht?«, erwiderte sie trocken. »Ulrich gefiel es jedenfalls.«

»Ulrich ist ein Narr. Und du bist eine viel größere Närrin, wenn du glaubst, er würde noch an dich denken.«

»Er war auf einem Kriegszug«, fuhr sie ihn an. »Aber wenn er erfährt, wo ich bin, wird er mich holen!«

»Das wusste er doch die ganze Zeit«, lächelte Raoul kalt. »Sagtest du nicht, dass du die letzten Jahre in Freising warst?«

Anna blieb stehen. Sie spürte einen Stich. Sie war selbst maßlos enttäuscht gewesen, dass Ulrich nicht wiedergekommen war. Sie hatte so gehofft, wieder bei ihm in Kaltenberg leben zu können. Ihn an dem vertrauten Platz unter der Galerie des Palas zu küssen und ihn wieder im Rittersaal zu lieben. Ihre letzte Begegnung in Freising war so erfüllt gewesen, leidenschaftlicher denn je. Aber da war auch dieser falsche Ton gewesen, das Gefühl, nicht mehr in sein Inneres sehen zu können. Wütend erwiderte sie: »Kümmert Euch um Eure Armbrust, von Liebe versteht Ihr nichts!«

»Weil ich mehr darin sehe, als ein Mädchen hinter einen Rosenstrauch zu locken und ihr das Hemd vom Leib zu reißen? Du hast keine Ahnung, wovon du singst«, sagte er bitter. »Mit einem Lied kann eine Frau einen Mann so verführen, dass er alles für sie aufs Spiel setzen würde. Ihr habt auch solche Lieder. Es wundert mich, dass du sie nicht kennst: Wäre die ganze Welt mein, ich gäbe sie weg, um die Königin von England in den Armen zu halten

Überrascht blieb Anna stehen. Sie konnte sich Raoul gut vorstellen, wie er eine Frau nahm, aber als Liebenden? Wusste er, wie es war, jemanden zu lieben und zu verlieren?

»Wenn das so ist, warum haltet Ihr dann nicht Euer Mädchen in den Armen und lasst Kaltenberg in Ruhe?«, überspielte sie ihre Verwunderung.

Er antwortete nicht. »O fortuna, velut luna statu variabilis«, erwiderte er dann in reinstem Latein. Es klang hart. »Das Schicksal ist launisch.«

Verblüfft starrte Anna ihn an. Das fehlte gerade noch, er hatte jedes Wort verstanden!

»Ich habe das Bild in deinem Buch gesehen«, erklärte er. Er hatte das Gefühl überwunden und lächelte kurz. »Du hast geschlafen.«

Anna wurde klar, was er sonst noch an ihr ansehen konnte, während sie schlief. Schnippisch erwiderte sie: »Dann wisst Ihr ja, dass es auch Ritter unter sich begräbt.«

»Uns alle«, entgegnete er, und sie war sich nicht sicher, ob er es ernst meinte oder sie verspottete. »Jeder Augenblick ist ein Geschenk, das wir genießen sollten.«

Dieselben Worte hatte Falconet verwendet. »So wie damals, als Ihr Kaltenberg niedergebrannt habt?« Im selben Moment, als sie es sagte, biss sie sich auf die Lippen.

Raoul erwiderte nichts. »Du glaubst noch immer, ich hätte es aus Gier getan«, stellte er endlich fest.

Ein Ritter musste sich nicht vor einer Gauklerin rechtfertigen. Sie konnte ihn nicht ansehen und blickte auf den steinigen Boden. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, erwiderte sie leise.

Sie wünschte, Maimun würde endlich zurückkommen. Was immer Raoul mit ihr vorhatte, warum auch immer er sie wie eine Gleichgestellte behandelte, sie würde sein Spiel nicht länger mitspielen. Etwas unterhalb hatte sie ein Dorf gesehen. Vielleicht konnte sie dorthin fliehen.

Die Gelegenheit kam, als der Weg auf eine Brücke führte. Das morsche geflochtene Geländer sah alles andere als vertrauenerweckend aus, und die Bohlen waren brüchig. Der Bach stürzte über eine Felsnase in ein natürliches Becken. Jenseits der Brücke war die Straße nur noch ein Streifen lockerer Steine. Annas Augen funkelten verstohlen.

»Mir tun die Füße weh«, beschwerte sie sich. »Wenn wir nicht bald rasten, wird mich selbst Eure schwarze Magie keinen Schritt weiterbringen!«

Raoul lag offensichtlich ein zorniger Befehl auf den Lippen. Dann aber zuckte er die Schultern. »An deiner Sturheit würde sich selbst der Teufel die Zähne ausbeißen! Also gut, dort drüben kannst du dich ausruhen.«

Er sprang vom Pferd und führte es hinter ihr auf die schwankenden Bretter. Selbst sie musste sich vorsichtig vortasten, er konnte nicht auf sie achten.

Raoul schien ihre Bewegung erahnt zu haben. Mit der Schnelligkeit einer Höllenotter bekam er sie zu fassen. Das Pferd scheute und setzte ans Ufer. Zornig kämpfte Anna gegen seine kräftigen Hände an. Sie biss zu, bekam die Rechte frei und versetzte Raoul eine Ohrfeige. Unter ihnen knirschten die morschen Bohlen. Er packte sie und schleuderte sie gegen das Geländer. Dann warf er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie. Holz splitterte, die Äste gaben nach. Eng umschlungen in ihrer wütenden Umarmung stürzten beide durch das Geländer. Das eiskalte Wasser schlug über ihnen zusammen.

Nach Luft schnappend kam Anna an die Oberfläche. Sie stand bis zur Brust im Wasser. Das bewaldete Ufer fiel steil ab, doch weiter unten verbreiterte sich der Bach zu einem flachen Strom. Keuchend warf sie die nassen Locken zurück und versuchte den Rand zu erreichen. Unter dem triefenden Haar blitzte Zorn in Raouls Augen. Das Wasser hatte mehr Kraft, als Anna erwartet hatte. Sie verlor den Boden unter den Füßen. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an, doch es riss sie einfach mit durch den engen Felskanal. Panisch schlug sie um sich, versuchte im schäumenden Wasser auf die Beine zu kommen. Für einen Moment sah sie sich wieder wie im Lech um ihr Leben kämpfen. Da hatte Raoul sie erreicht. Unsanft schob er sie auf den steinigen Rand. Die Strömung zerrte an ihrem Haar, aber das Wasser war seicht. Dann kam auch er ans Ufer.

Blindlings trat sie nach ihm. Raoul stieß einen gepressten Laut aus und krümmte sich. Sie raffte sich auf, um davonzulaufen. Erschrocken blieb sie stehen.

Drei oder vier zerlumpte Landstreicher standen mit gespannten Bogen am Ufer. Einer war ein wahrer Riese mit einem weißblonden Oberlippenbart, der von einer Narbe geteilt wurde. Die andern waren jünger, und alle waren gleich ausgemergelt. Der Ausdruck in ihren Augen konnte ebenso gut Hunger oder Wahnsinn sein. Siedend heiß begriff Anna, dass die morsche Brücke eine Falle gewesen war.

Angesichts ihres roten Kleides, der Tracht der Gauklerinnen, wechselten die Wegelagerer einen Blick. Dann meinte der mit dem hellen Bart: »Die Schwarzseherin in Innsbruck zahlt gut für Haar und Zunge einer Ehebrecherin. Vielleicht kann ich ihr heute auch noch das frische Herzblut für ihre Zauber bringen.«

Unwillkürlich sah sie sich nach Raoul um. Seine zornfunkelnden Augen verrieten, dass er sich ernsthaft fragte, ob er den Mann daran hindern sollte. Wasser triefte aus seinem Haar, und die nasse Cotte meißelte die Muskeln an Brust und Oberarmen heraus. In seinem Gürtel steckte nur der Dolch, das Schwert hing wie immer am Sattel. Mit einem Blick überflog er die Örtlichkeit.

Der Bach war hier breit, erst in der Mitte der Strömung wurde das Bett tiefer. Der flache Boden stieg durch den Nadelwald steil an. Auf halber Höhe lag eine verfallene Hütte mit einer Außentreppe. Anna legte die Hand auf Raouls Arm. Unter dem nassen Stoff spürte sie die Spannung in seinem warmen Körper. »Lasst das!«, flüsterte sie. »Sie haben Bogen.«

Raoul gab offenbar ebenso wenig auf ihre Ratschläge wie sie auf seine. Mit einem gleitenden Seitenschritt war er bei den Wilden Männern. Ehe sie begriffen, schlug er dem ersten den Ellbogen ins Gesicht. Er nutzte den Moment der Überraschung, riss den Dolch aus dem Gürtel und durchtrennte mit einem Schnitt die Bogensehnen. Brüllend zuckten die Männer zurück – die messerscharfen Sehnen hatten blutige Striemen in ihren Gesichtern hinterlassen. Verblüfft schnappte Anna nach Luft.

Raoul hatte die Atempause genutzt. Einer der Landstreicher hatte seinen Griff ums Schwert gelockert, es flog durch die Luft und landete in Raouls Hand.

Wütend brüllten sie und versuchten ihn einzukreisen. Raoul steckte den Dolch in den Gürtel und hielt das Schwert an die Schulter gelehnt. Die Klinge schnellte schräg nach oben und fegte den ersten von den Beinen. Mit einer unglaublichen Wendung war Raoul zum nächsten herumgefahren und ließ noch in der Drehung die Waffe auf ihn niederstürzen. Der Mann konnte dem Schlag, der ihm den Schädel gespalten hätte, ausweichen. Aber schon war Raoul ihm nachgekommen. Brutal schlug er ihm den Griff ins Gesicht. Anna hörte das Knirschen, als die Nase brach. Mit einem Schrei taumelte der Landstreicher zurück, die Hände auf das Gesicht gepresst. Zwischen den schmutzigen Fingern rann Blut herab.

Raoul stieß hinter sich nach dem dritten, um sich Luft zu verschaffen. Mit sicheren Hieben trieb er den Landstreicher ins aufspritzende Wasser. Ein Schlag mit der messerscharfen Klinge schleuderte den Mann in den Bach.

Fassungslos verfolgte Anna den ungleichen Kampf. Sie hatte schon gesehen, was ein in Waffen geübter Ritter gegen Bauern ausrichten konnte – und die meisten Straßenräuber waren nichts als Bauern, die Hunger und brutale Herren in die Wälder getrieben hatten. Aber die beherrschte Wut, die Art, wie Raoul seine Kraft auf einen Punkt hinlenkte, war furchteinflößend. Sie begriff, warum selbst kriegserfahrene Männer vor ihm zurückwichen. Für einen Augenblick glaubte sie fast, dass er wirklich mit dem Teufel im Bund war.

Der Riese mit der Narbe packte sie um die Hüften, und erschrocken schrie sie auf. Sie schlug zu, nutzte den Moment der Überraschung, um einen Ast aufzuraffen. Die Rinde schürfte ihre Hände auf. Doch schon war Raoul zurück und trat ihn von hinten in die Kniekehlen. Der Narbige fuhr herum, keuchend umklammerte sie den Ast.

Der Narbige trieb Raoul auf die Hütte am Hang zu. Klirrend schlugen die Klingen aufeinander, der Waldmensch legte enorme Wucht in seine Hiebe. Atemlos beobachtete Anna, wie Raoul Stufe um Stufe rückwärts die Holztreppe hinauf zurückwich. Die wurmstichigen Stufen knirschten unter den schweren Lederstiefeln. Unter den schwarzen Locken bemerkte sie das tückische Aufblitzen seiner Augen.

In dem Augenblick, als er die Galerie erreichte, nutzte er den Vorteil. Eisen knirschte – mit einer blitzartigen Drehung hatte er seinem Gegner die Waffe aus der Hand gehebelt. Die Klinge fuhr in dessen Schulter und prallte knirschend auf den Knochen. Anna schrie auf, als das Blut auf Raouls Brust spritzte. Ehe der Riese reagieren konnte, hatte er ihn mit einer kraftvollen Ohrfeige über das Geländer geschleudert. Dumpf schlug er auf und blieb stöhnend liegen. Raoul war, von der Wucht des eigenen Schlags herumgerissen, in die Knie gegangen. Jetzt sprang er hinterher. Herausfordernd ließ er die Klinge kreisen. Seine Cotte hing auf der Brust in Fetzen herab, auf der nackten Haut bewegten sich Blutstropfen hin und her, doch er schien nicht ernsthaft verletzt zu sein. Seine Sicherheit war unheimlich.

Jemand griff nach ihrem Arm. Anna stieß einen Schrei aus und befreite sich mit einer geschmeidigen Drehung. Es war der Mann mit der gebrochenen Nase. Sie umklammerte den Ast und drosch unbarmherzig auf die Verletzung ein. Brüllend taumelte er zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Raoul überrascht zu ihr herübersah. Sie rief ihm eine Warnung zu.

Der Riese mit der Narbe hatte sich aufgerafft und nutzte die Unaufmerksamkeit. Raoul fuhr im knöcheltiefen Bach herum, doch zu spät. Mit voller Wucht traf ihn das Schwert in den Oberschenkel.

Anna schrie vor Wut auf. Ohne nachzudenken, wie absurd es war, ihrem Todfeind beizuspringen, raffte sie ihren Stock auf. Raoul war keuchend in die Knie gesunken. Der Riese holte zum zweiten Mal aus. Mit aller Kraft schlug sie ihm den Ast ins Gesicht.

Das Holz brach splitternd, er brüllte und hielt die Hände vor die Augen. Im reißenden Bach glitt er aus, die Strömung ergriff ihn und riss ihn mit. Seine Schreie wurden lauter. Sie sah, wie sein Kopf gegen einen Felsen schlug, und das Brüllen verstummte.

Mit einer wilden Bewegung wandte sie sich um, dass ihr die Locken eiskalt und nass ins Gesicht klatschten. Der letzte Mann war in den Wäldern verschwunden. Raoul presste die Linke auf den Oberschenkel, unter seinem Handschuh quoll Blut hervor. Mit der freien Linken versuchte er, ein Stück Stoff von seiner zerfetzten Cotte zu reißen, doch das Blut strömte unaufhaltsam durch seine Finger. Schwer atmend wollte Anna ans Ufer. In diesem Moment sah er auf, und ihre Blicke trafen sich.

Mit einem verzweifelten Laut blieb sie stehen. Konnte sie etwas dafür, wenn sich der Fluch erfüllte? All die Jahre hatte sie ihm den Tod gewünscht, die ganze Zeit auf einen Augenblick gewartet, da er sie nicht verfolgen konnte.

Raoul sagte nichts. Er sah sie nur an.

Zornig wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann war sie mit wenigen Schritten bei ihm.

Auf sie gestützt erreichte er das Ufer. Anna riss einen Fetzen aus seiner Kleidung und legte ihre Hand auf seine Brust. Stöhnend sank er ins Gras. Die nassen Haare kräuselten sich leicht um sein bleiches Gesicht. Sie schnitt seine Bruche mit dem Dolch auf. Das Schwert hatte ihn unterhalb der Leiste getroffen, vermutlich war das Ziel die Schlagader gewesen. Erleichtert bemerkte sie, dass die Blutung nicht hellrot pulsierend aus der Wunde spritzte wie damals bei Falconet. Sie strömte gleichmäßig, und auch das Blut war dunkler. Dennoch, ohne Hilfe würde er in weniger als einer Stunde tot sein.

Anna wickelte den Stoff zu einem Knäuel und drückte es fest auf die Wunde. Sie spürte die warme Feuchtigkeit an ihren Fingern, aber sie kümmerte sich nicht darum. Mit den Zähnen riss sie einen weiteren Streifen aus Raouls Cotte und wickelte ihn darüber. Ihre Hände bewegten sich wie von selbst. Endlich wischte sie sich schwer atmend die Stirn. Ihre Haut klebte, sie war bis über die Handgelenke blutbeschmiert.

Raoul lag mit zusammengepressten Lidern im Gras. Er atmete flach, und sie war nicht sicher, ob er bei Bewusstsein war. Erst jetzt bemerkte sie, wie groß die Blutlache unter ihm war. Es erinnerte sie an Falconets Tod, und das nie verwundene Gefühl des Verlusts überfiel sie wieder. Auf einmal hatte sie entsetzliche Angst, Raoul würde sie auch verlassen.

Ihr Haar fiel auf ihn, die Brust unter der zerschnittenen Cotte hob und senkte sich kaum spürbar. Annas Lippen wurden weicher, als sie die Schnitte und trocknenden Perlen Blut bemerkte. Sie wusste selbst nicht, warum sie so fieberhaft mit dem feuchten Saum ihres Kleides über seine Stirn strich und ihm das nasse Haar aus dem Gesicht schob. »Raoul!«, flüsterte sie. »Bitte, bleibt!«