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Raoul schlug die Augen auf. Er richtete sich auf die Ellbogen auf und sah an sich herab. »Zum Teufel! Was hast du mit mir gemacht?«, stieß er mühsam hervor.

Anna war so erleichtert, dass ihre Stimmung von einem Augenblick auf den anderen umschlug. Ungehemmt begann sie zu lachen, dass es sie schüttelte. Gerade erst hatte er einen Haufen bis an die Zähne bewaffneter Straßenräuber verprügelt. Es trieb ihr die Lachtränen in die Augen, dass dieser Mann nun mit aufgeschnittener Bruche vor ihr lag. Der gefürchtete Ritter hilflos wie ein Kind in den Händen einer Gauklerin! Allein dafür hatte es sich gelohnt, ihm das Leben zu retten.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank er zurück. »Wende gefälligst die Augen ab!«

Dieses Schamgefühl hatte sie ihm gar nicht zugetraut. Anna wischte sich mit dem Ärmel die Lachtränen ab. Sie dachte gar nicht daran zu gehorchen.

»Zum Teufel mit dir!«, keuchte Raoul. »Wo ist mein Schwert?«

Anna hob die schwere Waffe auf, die wenige Schritte entfernt im flachen Wasser lag. »In Eurem Zustand solltet Ihr Euch nicht einmal mit einer Possenreißerin anlegen.« Sie beugte sich über ihn. Mit einem boshaften Lächeln wiederholte sie, was er einmal zu ihr gesagt hatte: »Findet Euch damit ab, dass Ihr keinen Beschützer habt. Abgesehen von mir.«

»Ich bringe dich um!«, stöhnte Raoul – und wurde ohnmächtig.

Anna legte das Schwert neben ihn. Sie kletterte den Hang hinauf, wo der Rappe wartete, und holte die Pferdedecke. Sorgsam breitete sie sie über Raoul. Sie strich ihm das schwarze Haar zurück und ließ ihre Hand einen Herzschlag lang auf seiner Stirn liegen. »Ich warte darauf«, sagte sie lächelnd.

Als Maimun nachkam, hatte Anna das Pferd schon sorgsam an den Beinen gefesselt. Beim Sprung über die morsche Brücke hatte es sich einen Riss am Bein zugezogen, doch ansonsten war es unversehrt. Raoul wachte erst auf, als sie ihn mit vereinten Kräften auf die Decke hoben und durch das raschelnde Laub den Hang hin aufschleiften. Maimun ließ Anna Wasser holen und gab ihm Weidenrinde zu kauen, um den Schmerz zu betäuben. Dann begutachtete er den Verband und sah überrascht auf.

»Ich hätte es nicht besser machen können. Du hast ihm das Leben gerettet.« Er wandte sich an Raoul: »Ein paar Meilen weiter hat ein Köhler seine Hütte. Glaubst du, du schaffst es bis dorthin?«

Raouls dunkle Brauen zogen sich zusammen, er nickte. Mühsam kam er aufs Pferd, um sofort mit schmerzverzerrtem Gesicht nach vorn zu sinken. Anna nahm die Zügel in die Hand.

Wenige Meilen oberhalb machte der Wald einer Bergwiese Platz. Der Weg war dem Bach gefolgt, der hier oben flach und von Viehfurten durchzogen war. So würden sie frisches Wasser haben, dachte Anna. Heu war über kreuzweise genagelte Pfosten zu Männchen aufgehängt und verriet die Anwesenheit von Menschen. Durch eine Ziegenherde näherten sie sich etwas, das allerdings kaum den Namen Hütte verdiente. Waghalsig wie ein Adlerhorst klebte der Unterstand auf einer Felsnase.

Die Frau des Köhlers, welche die Ziegen zum Melken hineintrieb, schrie entsetzt auf, als sie die Pferde und das Schwert bemerkte. Sie ließ ihren Stock fallen, rannte ins Haus und kam mit der Mistgabel wieder heraus. Die Augen in ihrem wettergegerbten Gesicht rollten und immer wieder schlug sie das Kreuz, als hätte sie noch nie Fremde gesehen. Hinter der Hütte kam der Köhler hervor. Er zog noch den Kittel über den schmutzigen Hintern, offenbar hatten sie ihn bei seinem Geschäft gestört. Aus seinem Mundwinkel lief bräunlicher Saft, er kaute irgendein Kraut. Die Frau drückte ihrem Mann die Mistgabel in die Hand und versteckte sich hinter ihm. In ihrem Dialekt warf sie ihm mehr geschriene als gesprochene Worte zu.

»Habt keine Angst!«, rief Anna den beiden zu. »Mein Herr will nur ein wenig bei euch ausruhen.«

Der Köhler umklammerte die Mistgabel fester. »Natürlich werden wir eure Gastfreundschaft bezahlen«, fügte sie hinzu.

Der Mann und die Frau wechselten einige geflüsterte Worte. Die Alte stieß ihn in den Rücken. »Also gut«, nickte er.

Sie überließen Anna und den Männern die Hütte und verkrochen sich mit den Ziegen in die umfriedete Weide dahinter. Anna fand einen Besen und kehrte den Unrat hinaus, während Maimun Raoul hinter der Hütte in trockene Kleider half. Ihr eigenes Kleid war feucht und klamm, aber beim Arbeiten würde es bald trocknen. Als die Männer kamen, hatte sie hinter der Tür schon ein frisches Strohlager aufgeschüttet. Im Dach gab es einen Rauchabzug, sie würden ein Feuer machen können. Sogar die Pferde fanden Platz.

Raoul wollte sich nicht hinlegen, ehe er sich nicht überzeugt hatte, dass das Bein seines Rappen nicht ernsthaft verletzt war. Liebevoll, wie sie es ihm nicht zugetraut hatte, strich er über die zuckende Flanke. Als Anna ihm endlich auf das Lager half, verrieten die durchscheinenden Lider über der scharf geschwungenen Nase Anstrengung und Erschöpfung. Der Ausdruck seiner halbgeöffneten Lippen berührte sie. Es lag Schmerz darin, aber er kam nicht von der Wunde. Anna wusste, wie es war, sich nach einem Ort zu sehnen, wo man keine rechtlose, verachtete Fremde war. Auf einmal verstand sie, was Raoul trieb, weshalb er sich in dieses Netz aus Hass und Rache verstrickt hatte.

»Ich gehe und sammle Feuerholz«, sagte Maimun leise.

Anna richtete sich auf. Sie raffte den von der Nässe dunklen Saum ihres Kleides und wollte hinter ihm hinaus, um Wasser zu holen.

»Warum bist du nicht geflohen?«, hörte sie Raouls dunkle Stimme.

Sie blieb in der verwitterten Tür stehen. Die Düfte nach Heu und Kräutern schienen schwerer als vorhin. Die Sonne verschwand hinter den Bergen, und der Himmel färbte sich langsam gelb, rot und violett. Sie musste sich beeilen. Bald würde es dunkel sein.

»Du hättest mich zurücklassen können«, sagte er ruhig. »Du hättest dir sagen können, dass der Fluch mich getötet hat.«

Warum konnte er keine andere Stimme haben! Ohne sich zu ihm umzudrehen, erwiderte Anna: »Ich hole Wasser. Ihr müsst trinken, um den Blutverlust auszugleichen.«

»Warum?«, wiederholte er.

Annas Blick folgte dem Arzt, der über die steinige Wiese zu den knorrigen Bergfichten ging. Sie wusste selbst nicht, warum sie Raoul geholfen hatte. Aber es war greifbar, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hatte. In den letzten Tagen hatten sie zu eng aufeinander gelebt, um noch Geheimnisse voreinander zu haben. Sie wusste mehr über Raouls und Maimuns alltägliche An gewohnheiten, als sie es von Ulrich je erfahren hatte. Nicht einmal ihr Geliebter war je so über die Unterschiede ihres Standes hinweggegangen. Sie fühlte sich Raoul nicht mehr schutzlos aus geliefert. Auf einmal hätte sie gern mehr über ihn gewusst.

»Die Leute sagten, Ihr kommt aus dem Heiligen Land«, sagte sie. Sie hatte keine Antwort erwartet, doch Raoul bejahte.

»Meine Mutter war eine Christin aus Akkon in Palästina.«

Überrascht drehte sie sich um. Es war das erste Mal, dass er etwas über seine Vergangenheit preisgab. Obwohl seine Kiefer vor Schmerzen zusammengepresst waren, waren die dunklen Augen klar. »Unser Haus lag an der Stadtmauer. Eine gewundene Gasse führte hinauf zur früheren Ordensburg der Deutschherren. Ich war oft dort …« Er unterbrach sich.

»Hat sie dort gelebt?«, fragte Anna leise. »Die Frau, die Ihr geliebt habt?«

Raoul erwiderte nichts, nur seine Nasenflügel bebten leicht. »Sie ist tot«, bestätigte er endlich, was sie schon vermutet hatte. »Sie war eine Sklavin.«

»Und eine Sängerin«, sagte Anna.

Er blickte überrascht auf und bejahte dann. »Es wurde nie wirklich kalt«, fuhr er fort, als würde es ihn erleichtern, endlich darüber sprechen zu können. »Die Märkte waren überdacht, weil die Sonne brannte. Es roch nach Salz und Fisch und nach den Garküchen. Nachts waren die Straßen hell beleuchtet, und der Wind trug den Duft von Parfüm und Gewürzen mit sich. Überall in den Höfen wurde getrunken und gelacht, die Musik hörte man in der ganzen Stadt.«

Bisher hatte Anna gedacht, dass es so ein Land nur im Paradies gab. »Und Ihr habt es aufgegeben?«, fragte sie leise. Kaltenberg musste ihm sehr viel bedeuten, weit mehr, als sie geglaubt hatte.

Er bejahte. »Von meinem Vater kannte ich nur den Namen seiner Burg. Aber als meine Mutter starb, konnte ich nicht bleiben. Ich musste wissen, wer ich bin.«

Anna wusste zu gut, wovon er sprach. Jedes Mal, wenn die Dorfmädchen tuschelten, sie sei das Kind eines unehrlichen Gauklers, hatte sie sich dieselbe Frage gestellt. Sie versuchte sich Raoul im Waffenhemd eines Herrschers vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Aber sie begriff, dass Kaltenberg alles war, was er von seinem Vater wusste – und vielleicht das Einzige, was er von ihm je bekommen konnte.

»Warum willst du zu Ulrich zurück?«, fragte er plötzlich.

»Er war der erste Mann …« Sie unterbrach sich. Mit ihm über das zu sprechen, was sie mit Ulrich verband, kam ihr wie Verrat vor. Sie schloss die Augen und dachte an seine Lippen auf ihren, sein Lächeln im Halbdunkel. Und dann an die Männer, die ihre Frauen schlugen und die schweren Arbeiten verrichten ließen, die Gesichter, ausgelaugt von den jährlichen Wochenbetten und der Trauer um zu viele verstorbene Kinder. »Er war der erste Mann, der mich nicht besitzen wollte.« Warum erzählte sie ihm das alles? Zornig über sich selbst, stellte sie ihm die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf den Lippen brannte: »Die Carmina in meinem Buch – es klang vorhin, als würdet Ihr sie kennen.«

Er richtete sich sichtlich unter Schmerzen auf. »Kennen wäre zu viel gesagt. Der Spielmann des Grafen von Tirol sang sie manchmal. Aber so oft saß ich nicht am Tisch des Grafen.«

»Der Spielmann …« Annas Stimme versagte, als ihr Herz von einem Schlag auf den anderen zu pochen begann. Ärgerlich schluckte sie und wiederholte: »… des Grafen von Tirol?«

Ihre Gedanken begannen sich zu jagen. Vielleicht konnte dieser Spielmann ihr helfen. In ihrer Erwartung steigerte sie sich in immer wildere Vermutungen hinein. Am Ende hatte er die Lieder sogar selbst geschrieben? Lebhaft sah sie auf.

»Damals, als Ulrichs Vater mich als Hexe verurteilen ließ, warf er mir Ketzerei vor. Es ging um das Lied, das ich gesungen habe: beim Essen, als Ihr …« Sie unterbrach sich.

Raoul sah sie schweigend an. Das schwarze Haar umrahmte sein Gesicht und ließ den Blick intensiver wirken. Seine nachtdunklen Augen hatten einen fremden, hellen Glanz. Anna hatte das Gefühl, ihn zum ersten Mal zu sehen. Es war, als hätte er auf einmal das unsichtbare Visier geöffnet, hinter dem er sich verborgen hatte. Sie hatte einen Feind dahinter erwartet. Und sah einen Mann mit Gefühlen.

»Dein Haar ist nass«, sagte er endlich. Er nahm seine Decke und kam zu ihr in den Eingang, um es zu trocknen. Anna zuckte zusammen und wollte zum Bach gehen.

Raoul schüttelte wortlos den Kopf und wies hinaus.

Atemlos blieb sie stehen. Der föhnzerrissene Himmel glühte in der Abenddämmerung und tauchte die Hütte und den schiefen Zaun in goldenes Licht. Auf der waghalsig vorspringenden Felsnase, hoch über dem Tal und eingeschlossen von gewaltigen Felsgipfeln, wirkte sie winzig und verloren. Trotzdem fühlte sich Anna geborgen. Hinter ihnen zog sich das rot glänzende Band des Bachs durch die Wiese. Gelb leuchtender Nebel stieg aus dem Tal auf, legte einen Feenschleier um die Zollburg am Horizont und gab Anna das Gefühl, in den Wolken zu schweben. Verzaubert sah sie auf das Farbenspiel.

Raoul begann ihr Haar zu trocknen. Im ersten Moment zuckte sie zusammen und versteifte sich. Aber sie tat auch nichts, um ihn zu hindern.

Dann legte sie langsam den Kopf zurück. Seine schlanken Hände waren kräftig, und sie überließ sich dem sanften Druck. Ihre Lippen öffneten sich leicht, und die frische Bergluft prickelte darauf. Sie spürte den leichten Ledergeruch, doch zum ersten Mal seit Jahren genoss sie wieder die Berührung eines Mannes. Und zum ersten Mal genoss sie es wieder, ihren Körper zu spüren. Sie dachte nicht mehr daran, wie gefährlich Raoul war. Von seinen Händen ging eine Wärme aus, die sie seit Jahren verloren geglaubt hatte. Lächelnd gab sie sich dem überwältigenden Gefühl hin, grenzenlos glücklich zu sein.