img_004 10 img_003

»Nein, ich habe Hunger«, beschwerte sich Anna. Endlich hatte ihr Raoul eine Rast zugestanden und Maimun die Haferkuchen auspacken lassen. Aber statt sie endlich essen zu lassen, nahm er die Armbrust und zog sie beiseite. Sie hatten sich unterhalb eines vernagelten Stollens bei einer Hütte auf einer Wiese niedergelassen. Vermutlich hatte man hier früher Kupfer geschürft. Jetzt war das Flechtwerk der Wände löchrig und alles wirkte verlassen. »Wollt Ihr mit diesem Ding auf die Jagd gehen?«

»Du willst mich wohl unbedingt wegen Wilderei hängen sehen«, spottete er. »Außerdem ist Freitag.«

»Fastenzeiten sind etwas für reiche Leute«, hielt Anna dagegen. Hinter den schnippischen Worten konnte sie ihre Gefühle verbergen. Nie hätte geschehen dürfen, was in der Köhlerhütte passiert war. Es war gar nichts passiert, sagte sie sich wütend. Irgendwann war Maimun zurückgekommen, und sie war mit rotem Kopf zur Quelle gelaufen. Dass sie trotzdem ein schlechtes Gewissen hatte, bewies, dass ihr Raoul viel nähergekommen war, als sie es hätte zulassen dürfen.

Verstohlen beobachtete sie, wie er über die Armbrust gebeugt die Sehne spannte. Das lange Haar verdeckte sein Gesicht, aber sie konnte die Bewegungen seiner Schultern sehen. Eigentlich war er sehr schlank, dachte sie, als er sich erhob und die silbernen Gürtelbeschläge das Licht einfingen. Es war weniger seine Körpergröße als sein selbstsicheres Auftreten, das den Leuten Furcht einflößte.

»Die Leute sagten, Ihr hättet das Stadttor von Landsberg mit schwarzer Magie geöffnet. Ist das wahr?«, fragte sie.

Sein dunkles Lachen bestätigte, was sie schon vermutet hatte. »Tölpel!«, erwiderte er abfällig. »Es war ein schwarzes Pulver, die Rezeptur eines Freundes aus Damaskus. Wenn es mit Feuer in Berührung kommt, gibt es einen Blitz und Flammen. Mit Hexerei hat es nichts zu tun. Es hat seine Vorteile, dass ihr nicht einmal eure eigenen Gelehrten kennt. Schon Marcus Graecus beschreibt es in seinem Buch über das Feuer

»Ein schwarzes Pulver?«, wiederholte sie überrascht. »Falconet hat so etwas manchmal für seine Tricks benutzt. Es donnerte, und der Qualm hatte einen beißenden Geruch.«

»Roger Bacon erwähnt es als Kinderspielzeug«, bestätigte er. »Ich habe weniger kindische Erfahrungen damit. Die Mongolen verwendeten es bei ihren Belagerungen.«

Anna stieß einen halb zornigen, halb belustigten Laut aus. »Ich fange an, mich zu fragen, wer von uns der größere Gaukler ist.«

Raoul hatte den Bolzen eingelegt und reichte ihr die Waffe. Verblüfft schüttelte sie den Kopf. »Es ist Frauen verboten, Waffen zu tragen.«

Er lachte trocken. »Immerhin kennst du die Regeln, die du brichst. Aber wenn es darauf ankommt, lässt sich niemand freiwillig abschlachten, nicht einmal eine Frau.«

Natürlich spielte er darauf an, wie sie mit dem Stock auf die Wilden Männer losgegangen war. Seit der Nacht in der Köhlerhütte hatte sie das Gefühl, er betrachte sie mit anderen Augen. Obwohl er nicht mehr darauf zu sprechen kam, bemerkte sie, wie er sie ansah, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Doch von der unverschämten Annäherung war nichts mehr zu spüren, er berührte sie nicht mehr als nötig. Wäre es nicht so absurd gewesen, hätte sie gesagt, dass er davor zurückscheute.

»Ich bin verletzt, und Maimun ist kein Krieger. Es wäre besser, du könntest dir selbst helfen.« Tatsächlich war er noch bleich. Nach seinem Blutverlust war er sicher nicht kräftig genug zum Kämpfen. Aber Ulrich hätte sie selbst in dieser Lage ausgelacht, wenn sie eine Waffe berührt hätte.

»Ich zwinge dich nicht. Es ist dein Leben. Aber damit kann auch eine Gauklerin einen Ritter töten. Man braucht kaum Kraft und Übung, nur ein gutes Auge. Selbst gegen einen Mann«, sagte er bedeutungsvoll, »wie Heinrich von Wolfsberg.«

Anna sah ruckartig auf. Dann griff sie nach der Armbrust. Sie war nicht so schwer, wie sie gedacht hatte. Obwohl sie groß war, lag sie bequem auf der Schulter.

Raoul trat hinter sie, um ihre Haltung zu prüfen. Die eine Hand schloss sich um ihren Arm, die andere lag leicht auf ihrer Schulter. Sie spürte seine Wange dicht an ihrer, sein Haar. Ein Prickeln überlief sie.

Hastig legte sie die Armbrust ab und trat zurück. »Glaubt Ihr, eine Frau kann sich nur mit einer unehrenhaften Waffe verteidigen? Im Augenblick bin ich sicher nicht schwächer als Ihr.« Sie zog sein Schwert aus der Scheide und schwang es.

»Nimm die Linke, um den Griff zu ziehen oder zu schieben«, meinte Raoul unbeeindruckt. »Die rechte Hand gibt nur die Richtung vor. Allerdings scheint sie mir ein wenig klein.«

Anna stieß die Klinge in den Boden. Es knirschte, als sie auf Stein traf, und der straff mit Lederbändern umwickelte Griff schwankte zwischen ihnen hin und her. »Ich zwinge Euch nicht«, spottete sie. »Es ist Eure Haut.«

Nach vier Tagesreisen und zwei Zollburgen hatten sie den Pass mit dem Brennerhof überwunden und waren in das Tal von Brixen abgestiegen. Anna dachte an ihre Freundin Sibylle, die mit einem fahrenden Goldschmied weggelaufen war. Es hatte geheißen, sie würde jetzt in Brixen leben, und Anna nahm sich vor, dort nach ihr zu fragen. Es wäre schön, sie wiederzusehen.

Sie hatten nur noch wenige Meilen vor sich, als sich mitten in der Bergwildnis eine gerodete Fläche mit rotgoldenen Weinbergen öffnete. Unterhalb erhob sich ein Turm, um den sich mehrere Gebäude aus Stein gruppierten. Tore, Mauern und Brücken über den Wildbach gaben der Anlage etwas von der Wehrhaftigkeit einer Burg. Staunend bewunderte Anna das fast kreisrunde Bauwerk etwas außerhalb mit seinen hölzernen Nebengebäuden. Sie hatte keine Vorstellung, was es war.

»Hier werden wir überwintern«, sagte Raoul. Heute war er noch nicht rasiert, und die vorstehenden Wangenknochen betonten die Schatten auf seinen Wangen. Wieder prickelte es in ihrem Nacken. Ein kurzer Blick unter seinen dichten Wimpern streifte sie, und schnell sah Anna weg. Der Gedanke, hier monatelang mit ihm eingepfercht zu sein, machte ihr Angst. Was immer er in ihr auslöste, sie wollte es nicht.

»Der Graf von Tirol wird zu Weihnachten herkommen«, fuhr er fort. »Wir werden auf ihn warten. Die Abtei heißt Neustift.«

Neustift in Tirol. Anna brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. Das war der Ort, an den sie Falconets Buch bringen sollte, der Ort, an dem es entstanden war? Warum hatte sie nur nie gefragt, wo dieses Neustift lag! Wenn der Propst des Stifts ihr half, wenn sie jemanden fand, der für sie bürgte, konnte sie nach Kaltenberg zurück. Und dann wäre sie auch weg aus Raouls Nähe. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie sich fragte, ob er nichts bemerkte.

Der Wildbach hieß Eisack, sie überquerten ihn auf einer befestigten hölzernen Zollbrücke. Jemand stieß sie zur Seite, ein paar Winzer mit ihren Flechtkörben kamen, um ihre Weinfuder als Abgaben abzuliefern. Schafe strömten blökend auf die Stallungen zu. An der Außenseite der Mauer, an einem Nebenarm des Eisack, gab es sogar eine Mühle. Verblüfft sah sich Anna um. Hier mitten in der Wildnis war dies eines der größten und reichsten Klöster, die sie je gesehen hatte.

Raoul war offenbar schon hier gewesen. Zielstrebig steuerte er über eine Wiese voller Gänse auf den Rundbau zu. Er gehörte zum Hospiz und beherbergte die Kapelle. Steinhäuser mit Außentreppen und regenverwitterten Dachschindeln schlossen über eines der Torhäuser daran an und bildeten einen Hof. Die anderen Gebäude, die sich darum gruppierten, waren in den Boden eingelassen, die Türen verwittert und schief. Doch steinerne Arkaden zeugten vom Reichtum des Stifts. Die Anlage schien nur aus Toren zu bestehen – von hier führte eins weiter zur Kirche und den Gebäuden der Chorherren, zwei weitere offenbar nach draußen. Das reinste Labyrinth, dachte Anna verwirrt.

Die Gelegenheit kam schneller als erwartet. Raoul überließ es ihr und Maimun, die Pferde zu versorgen. Offenbar sorgte er sich nicht, dass sie fliehen könnte – seit der Köhlerhütte hatte sie keinen Versuch mehr gemacht, und er konnte nicht wissen, was Neustift für sie bedeutete. Anna half, die Tiere in den Stall zu bringen, und sagte dann, sie wolle nach Heu fragen. Mit wild schlagendem Herzen drückte sie sich durch die schmale Pforte hinaus und hämmerte gegen die Klosterpforte.

Hinter der Tür rumpelte etwas, und jemand brummte. Endlich ging das Fenster auf, und das rote Gesicht eines Laiendieners sah hindurch. Anna konnte nur ein paar kleine helle Augen und ein Stück blonden Haars erkennen.

»Es ist nicht die Stunde für Besuche«, kam er ihr zuvor. »Die Kirche hat einen eigenen Eingang, dort herum.«

»Ich muss den Herrn Propst sprechen.« Anna schob die Hand in das Fenster.

»Ein geringeres Anliegen hast du nicht?« Er musterte ihr rotes Kleid. »Wenn du beichten willst, komm morgen vor dem Hochamt.« Er wollte das Fenster schließen.

»Asyl!«, stieß Anna hervor.

Das Fenster, das schon halb geschlossen gewesen war, öffnete sich wieder einen Spalt. Anna schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

»Asyl, so kurz vor dem Essen! Also gut, ich frage nach. Wenn ich nicht wiederkomme, dann guten Appetit!«

»Wer um Asyl bittet, muss sofort eingelassen werden«, widersprach sie. Der Diener rümpfte die Nase – und das Fenster schlug zu. Verzweifelt sank Anna zu Boden und presste die Stirn gegen das Holz.

Der Riegel knirschte, die Tür bewegte sich. Erleichtert sprang Anna auf und drückte sich durch den Spalt ins Innere.

Dankbar folgte sie dem dicken Subdiakon durch die weitläu figen Gärten der Enklave. Er führte sie zu einem langgestreckten Steinhaus mit Holzaufsatz, dem Kelterhaus. Offenbar sah der Propst selbst nach den Abgaben seiner Weinbauern. Schon im breiten Tor hörte sie Lachen, Musik und laute Rufe.

Ein betäubender Duft nach Trauben schlug ihr entgegen. Licht fiel durch die Fensterschächte und beleuchtete die großen Bottiche. Mit nackten Füßen stampften gutgelaunte Männer die Trauben, und der Saft floss durch eine Öffnung von den größeren Behältern in die kleineren. Die Arbeiter trugen nur ihre kurzen Cotten, es war eine schweißtreibende Arbeit. Aber sie waren nicht so außer Atem, um sich nicht gegenseitig aufzuziehen.

»Mit den mageren Haxen willst du Wein stampfen? Da hättest du besser deine Frau geschickt, das wäre wenigstens hübsch.«

»Pass auf, du! Deine eigenen Füße kannst du vor lauter Fett ja kaum bewegen!«

Das Trampeln der Füße erinnerte Anna an etwas. Eines von Falconets Liedern hatte denselben stampfenden Rhythmus: In Taberna quando sumus … Wenn wir zur Taverne gehen, fürchten wir nicht Tod und Teufel

»Das wird der Klosterwein für den Propst und die Chorherren«, sagte der Subdiakon. Er zeigte auf die große hölzerne Kelter, die von zwei kräftigen Männern bedient wurde. »Das zerstampfte Mark wird hier noch einmal gepresst, das gibt den Kelter- und schließlich den Tresterwein für die Diener.«

Der Propst hatte sie bemerkt, ein drahtiger großer Mann von vielleicht vierzig Jahren im schwarzen Leibrock und weißen Chorhemd. Allerdings trug er statt des bescheidenen Käppchens der Chorherren einen modebewussten Wollhut. Er unterbrach das Gespräch mit seinem Sekretär.

»Das Mädchen behauptet, sie hätte etwas für Euch, hochwürdigster Herr Propst«, rief der Diakon. Er gab Anna einen Stoß in den Rücken. »Los! Und benimm dich gefälligst zurückhaltend!«

Annas Finger schlossen sich fest um Falconets Spielmannsbuch, das an ihrem Gürtel hing, und streichelten den Einband. Es fiel ihr schwer, es wegzugeben, als würde sie den Gaukler dadurch endgültig gehen lassen. Aber sie musste weg aus Raouls Nähe.

»Das Buch gehörte dem Gaukler Falconet.« Sie reichte es dem Propst, und ihre Stimme zitterte. »Es war sein letzter Wunsch, dass ich es Euch bringe, Herr. Er meinte, es gehöre hierher.«

»Falconet … ich erinnere mich an einen Gaukler, der hier einmal überwinterte. Er ist tot?« Der Propst begann zu blättern, hielt inne und sah sie wieder an. Er faltete das Pergament auf und betrachtete nachdenklich die Darstellung mit dem Schicksalsrad. »Das lag darin?« Er sah auf. »Ja, das kenne ich. Es gehört uns.«

Der Sekretär hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, um auch einen Blick auf das Blatt zu werfen. Er war ein junger, eine Spur zu kräftiger Mann, dessen Augen ständig überall waren. Anna war sicher, dass ihm kaum etwas von Belang entging.

»Das ist doch von dem Kärntner Buchmaler«, stieß er überrascht hervor. »Erinnert Ihr Euch, der Mann, von dem …«

»Ich habe Euch nicht gefragt, Herr Barnabas«, fiel ihm der Propst ins Wort. »Erinnert Euch, dass Ihr auch als Kanoniker zu Demut und Bescheidenheit verpflichtet seid.« Er wandte sich wieder an Anna. »Warum schickte Falconet dich?«

Anna entschloss sich, die Wahrheit zu sagen. Ihre Lippen bebten, als sie von dem geheimnisvollen Lied berichtete. Seit damals im Rittersaal von Kaltenberg hatte sie es nicht mehr gesungen, aber die Worte kamen ihr so lebhaft über die Lippen, als wären sie ein Teil von ihr. Sie erinnerte sich an jeden Augenblick im Verlies und als man sie in den Fluss stieß. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, aber sie brachte es zu Ende. »Jemand sagte, der Mann, der das geschrieben hat, sei von hier gewesen«, schloss sie. Voller Erwartung sah sie den Propst an.

Der Propst zögerte. »Ich fürchte, ich werde dir nicht helfen können, mein Kind«, sagte er. Doch seine Stimme schwankte, und er sah sie nicht an.

»Aber Herr Lukas …«, mischte sich Barnabas ein.

»Herr Lukas ist alt und verwirrt«, lächelte der Propst. »Er verwechselt Geschichten aus seiner Jugend mit der Gegenwart und Heiligenlegenden. Ich fürchte, wir werden ihn noch diesen Winter begraben müssen.«

»Kann ich ihn sprechen?«, fragte Anna, entschlossen, sich nicht abweisen zu lassen.

Der Propst setzte eine salbungsvolle Miene auf. »Die Krankenstation eines Klosters ist wohl kaum der richtige Ort für ein Mädchen. Die Patienten brauchen Ruhe, es wäre ein schlechter Dienst, ihnen eine Frau ans Bett zu setzen.« Er bemerkte ihre Enttäuschung. »Es wäre besser für dich, du hättest nie lesen gelernt«, bemerkte er väterlich. »Eine Frau kann durch so etwas leicht in ihrem Glauben verunsichert werden.«

»Es geht mir nicht um Glaubensfragen«, erwiderte Anna heftig. »Man wollte mich wegen dieses Liedes umbringen!«

Ihr Ton schien ihm zu missfallen. »Kümmere dich lieber um dein Seelenheil als um deine Haut«, fuhr er sie an. Sein edles Gesicht mit der markanten Nase war unnahbar. Er wusste etwas, aber er würde es nicht sagen.

Wenn man ihn in den Lech geworfen hätte, würde er anders reden, dachte Anna, aber sie sprach es nicht aus. Stattdessen erwiderte sie ruhig: »Verzeiht, hochwürdigster Herr Propst, wenn ich etwas Unschickliches gefragt habe. Ihr wisst ja, wir Frauen sind von Natur aus anfällig für das Böse. Ich versuche nur zu bereuen und nicht wieder zu sündigen.«

Sie hatte die Lider schamhaft gesenkt. Ihre scheinbare Demut besänftigte den Propst. Anna war dankbar, dass sie jahrelang in Gesellschaft eines davongelaufenen Mönchs gereist war. Steffen hatte sie regelmäßig mit den besten Hassreden der Theologen gegen das Weib versorgt. Nur bisher hatte sie nicht geglaubt, dass sie zu irgendetwas nützlich sein könnten.

»Das Lied, von dem du sprichst, ist alt«, sagte der Propst endlich. »Viel älter, als ein Mensch werden kann. Der Mann, der es geschrieben hat, kann nicht mehr für dich bürgen. Er ist tot.«

Er hob die Hand zum Zeichen, dass die Audienz beendet war.

Fassungslos starrte Anna ihm nach. Mit einem einzigen Satz hatte er ihre ganze Hoffnung zerstört. Sie brauchte einige Herzschläge lang, um zu begreifen, was es bedeutete: Niemand konnte ihr helfen, zu Ulrich nach Kaltenberg zurückzugehen. Niemand.