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»Warte!«

Anna, die in den Hof hinausgetreten war, blieb stehen. Der dicke Sekretär des Propstes drückte sich hinter ihr ins Freie. Wie um sich zu vergewissern, dass es niemand bemerkte, blickte er sich um und kam ihr nachgerannt. Sichtlich angestrengt von dem kurzen Lauf wischte er sich die Stirn.

»Du kanntest Falconet?«, brachte er hervor.

Liebevoll bejahte sie. Nach so langer Zeit fehlte ihr der Gaukler noch immer.

»Man sagt viel Schlechtes über das fahrende Volk. Aber er war ein guter Mensch.« Barnabas kam wieder zu Atem und grinste, als mache ihm die Erinnerung Spaß. »Damals, als er hier war, haben wir jungen Novizen heimlich mit ihm getrunken und gesungen. Unser Bibliothekar hatte diese Eigenart, beim Blättern die Finger so komisch zu halten …«, er versuchte es zu zeigen, »als ob er Harfe spielen würde. Niemand konnte ihn so gut nachmachen wie Falconet.«

Das passte zu ihm! »Aber ohne Wein ging bei ihm gar nichts«, ergänzte sie. Sie sahen sich an, und beide mussten lachen.

»Einmal hat uns der Novizenmeister erwischt«, seufzte Barnabas. »Das gab ein Donnerwetter! Zwei Wochen lang lagen wir auf den Knien, bis wir alles abgebüßt hatten.«

Ich bin also nicht die Einzige, die durch die Lieder dieses alten Schlitzohrs in Schwierigkeiten gerät, dachte Anna. Es war ein gutes Gefühl, fast, als wären sie Verbündete.

»Jedenfalls stammt das Blatt aus unserer Bibliothek. Das Buch war nur schlecht geheftet. Als Falconet hier war, wurde es gerade neu gebunden. Da hat er das Blatt wohl mitgehen lassen.«

Barnabas zog sie ein Stück unter das vorstehende Dach des Kelterhauses. Von drinnen hörten sie gedämpft das Stampfen und die Gespräche. »Herr Lukas war unser bester Buchmaler, ehe er krank wurde. Er hat damit geprotzt, dass sein alter Lehrer die Bilder zu den Carmina gemalt hätte. Das muss aber eine Ewigkeit her sein. Der Mann kann unmöglich noch leben.«

Dann hatte der Propst recht, dachte Anna. Die Enttäuschung schnürte ihr die Kehle zu. »Was war das für ein Lehrer?«

»Weiß nicht.« Barnabas zuckte die Achseln. »Ich glaube, er kam aus Maria Saal, in Kärnten. Das ist eins unsrer Bruderhäuser.«

Das lag ja am Ende der Welt, dachte Anna verzweifelt. Warum nicht gleich in Jerusalem? »Wer hat das Buch eigentlich schreiben lassen?«, fragte sie.

Barnabas lachte. »Wenn ich das wüsste! Aber ich bin für die Buchhaltung zuständig, und ich kann dir sagen, dass die Grafen von Tirol schon immer eifrige Stifter für unser Kloster waren. Ich rate dir, sperr die Ohren auf, wenn Graf Heinrich kommt«, sagte er. »Um Neujahr herum feiern die Chorknaben und Subdiakone ihre Feste. Wenn erst einmal genug Wein geflossen ist, wird viel zum Besten gegeben, was sie am Tisch ihrer Herren gehört haben.«

Von drinnen rief jemand seinen Namen. Barnabas zog den Kopf ein. »Der hochwürdigste Herr Propst. Ich weiß gar nicht, was heute in ihn gefahren ist. Sonst hat er immer ein offenes Ohr für die Dinge der Welt.« Er lief zur Tür.

»Danke!«, rief Anna ihm nach. Er nickte, dann war er verschwunden.

Der Winter kam früh in den Bergen. Wie ein Schiff schien Kloster Neustift völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Nur noch selten kamen Reisende mit Nachrichten. Schneeverwehungen bedeckten die Straßen und türmten sich an den Klostermauern zu Dünen, von denen glitzernder Staub wehte. Jeden Tag wurde der Graf von Tirol erwartet. In seinem Gefolge würde der Spielmann sein, von dem Raoul gesprochen hatte. Anna hatte Raoul gebeten, sie dann mit ihm bekannt zu machen. Vielleicht würde dieser Freudenreich ihr helfen können.

In der Brückentaverne am Eisack herrschte Festtagsstimmung. Eine ziemlich fröhliche Pilgergruppe machte Rast in Neustift. Da sie ohnehin büßen mussten, taten sie alles, damit es sich auch lohnte. Und wer nicht selbst auf Wallfahrt war, unterstützte sie nach Kräften in ihrem frommen Eifer und leistete ihnen bei Spiel, Suff und Hurerei Gesellschaft.

»Wein her!«, brüllte ein riesiger Kerl und zog das Schankmädchen auf seinen Schoß. In dem gewölbeartigen Bau übertönte er sogar noch die Flöten der Gaukler.

Den Humpen in der Hand, tanzte Anna mit halbgeschlossenen Augen durch die Menschen. Es war brechend voll und die Luft zum Schneiden. Weintrauben hingen von der Decke, an den Tischen saßen Mönche mit schweißglänzenden Tonsuren und Pilger in härenen Gewändern. Ein Ritter hatte offenbar solche Angst vor Beutelschneidern, dass er seinen teuren Plattenrock selbst hier nicht ablegte. Am Boden hockten die lichtscheueren Gestalten und würfelten, was das Zeug hielt: Bettler mit verkrümmten Gliedmaßen, Leibeigene auf der Flucht vor einem brutalen Herrn, vielleicht auch Verbrecher, die dem Gesetz entkommen waren. Raoul war noch nicht hier, und sie war froh darüber.

Sie kam aus der Scheune herüber, wo er ihr beinahe täglich beibrachte, mit den Waffen umzugehen. Die gleichförmigen, fast rhythmischen Bewegungen gaben ihr das Gefühl, wieder in ihrem Körper zu Hause zu sein. Obwohl sie oft völlig erschöpft war und jeder Muskel schmerzte, ging sie danach aufrechter. Aber vorhin hatten sich ihre Hände wieder berührt. Sie hatte ihre schnell zurückgezogen, trotzdem konnte sie sich jetzt nicht genug verausgaben. Der Tanzboden vibrierte von den stampfenden Füßen, erhitzt flogen ihr die roten Locken ins Gesicht. Unterdrückung, Sorgen und Trauer lösten sich in den schrillen juchzenden Schreien. Auch dieses verwirrende Gefühl konnte man hier hinausschreien. Anna warf den Kopf in den Nacken und jodelte ungehemmt mit den anderen mit.

Ein blonder Bursche umarmte sie überschwänglich. Er hielt sie an den Hüften, dass ihr Kleid über die Knie flog und sie ihr Bier verschüttete. Kreischend ließ sie sich herumschwenken und fegte die Würfel einer Gruppe von Spielern vom Tisch.

Sie lachte laut und wich seinem Kuss aus. Mit einem kräftigen Klaps auf den Hintern schob sie ihn von sich weg. Die Spieler gerieten wegen der Würfel aneinander, und Anna stellte sich in eine Reihe mit den Mägden, die sie rhythmisch tanzend und schreiend anfeuerten. Sie stieß einen schrillen Triller aus. Mit einer wilden Bewegung warf sie die Haare aus dem Gesicht. Wann hatte sie zuletzt so gefeiert? War es in Kaltenberg gewesen, beim Maitanz? Es musste Jahre her sein. Ihr Kopf glühte, ein feuriger Kreisel drehte sich darin. Die Magd neben ihr hörte plötzlich auf zu tanzen und sah zum Ausgang. Anna taumelte aus der Reihe, und ihr erhitzter Blick folgte ihr.

In der Tür lehnte Raoul.

Langsam kam Anna zum Stehen. Jemand rief ihr etwas zu, sie hörte es nicht. Für einen Augenblick verschwamm alles. Das Einzige, das sie wahrnahm, waren diese nachtdunklen Augen.

»Wo ist die Gauklerin?« Ein paar kräftige Kerle drängten sich her. Warum musste er sie so ansehen! Anna erinnerte sich gewaltsam, dass sie allen Grund hatte, ihn zu hassen. Zornig über sich selbst sah sie in eine andere Richtung und dachte an den Rittersaal von Kaltenberg und an Ulrich.

»Anna! Los, gib uns etwas zu lachen!« Der Größte hatte sie gepackt und hochgehoben. Sie roch Bierdunst. Lachend schlug und trommelte sie auf den muskulösen Rücken ein, aber das schien ihn nicht zu stören. Er tätschelte ihre Kehrseite, dann setzte er sie mit einem Schwung auf einem Tisch ab.

»Ruhe!«, brüllte er, und zischend mischten sich die anderen ein.

»Ich kann nicht singen, ohne zu trinken!«, rief sie. Die Leute johlten und lachten. Jemand reichte ihr den Humpen herauf, sie nahm einen tiefen Zug und wischte sich den Schaum von den Lippen. Ein kannibalisches Wohlgefühl machte sich in ihr breit, betäubte prickelnd alles andere. Anna schob mit dem Fuß ein paar Holzteller vom Tisch, um Platz zu haben. Sie sah in die Runde, und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie. Anna liebte diesen Moment, direkt bevor sie zu singen begann: wenn sie die Erwartung spürte und die seltsame Verbindung zwischen ihr und ihren Zuschauern entstand, die man förmlich greifen konnte. In diesem Moment gab es keinen Ort auf der Welt, an dem sie lieber gestanden hätte als hier. Während sie die Augen durch das Gewölbe schweifen ließ und nur die Tür vermied, wo Raoul lehnte, suchte sie nach dem richtigen Lied.

Die Tische bogen sich zwar nicht gerade unter den Speisen, aber es gab gekochte Eier, Kraut, Rübengemüse und Äpfel. Ihr Blick fiel auf ein mageres Suppenhuhn, und sie verbiss sich das Lachen. Sie wusste, was die Leute jetzt hören wollten:

»Einst hab ich einen See geschmückt. Einst war ich ein schöner Schwan. Ich Armer! Jetzt bin ich schwarz und scharf angebraten! Der Koch drehte und wendete mich im Feuer, und jetzt setzt mich der Mundschenk vor

Brüllendes Lachen unterbrach sie und feuerte sie an. Die Menschen sprangen auf die Tische. Rhythmisch stampfend begannen sie zu tanzen, Dienstleute des Klosters, Pilger, Galgenvögel. Einer hatte eine Harfe, die er auf den Oberschenkel stellte, um ein grillenartiges Zwischenspiel anzustimmen. Einer der Subdiakone, ein sommersprossiges Kerlchen mit strohblondem Haar, griff sich einen Hühnerschlegel. Laut predigte er, wobei er den Tonfall des Propstes täuschend echt imitierte: »Ich bin der Abt vom Schlaraffenland! Mein Rat ist mit den Säufern, mein Wille geschehe in der Gemeinde der Spieler! Und wer morgens zu mir in die Kneipe kommt, den zieh ich bis zum Abend aus bis auf die Knochen. Und dann wird er jammern: Waffen! Was hast du Scheißwürfel nur getan

Anna schüttete sich aus vor Lachen und leerte ihren Humpen. Der mit der Harfe modulierte ein paar weinerliche Akkorde und leitete wieder zu ihr über:

»Ich liege auf einem Tablett, ich kann nicht mehr fliegen, und überall um mich sehe ich gebleckte Zähne! Ich Armer! Schwarz und scharf angebraten

Die Leute ließen sich von der Musik völlig aus der Fassung bringen. Sie brüllten und lachten, tanzten außer Rand und Band. Beichten konnten sie morgen wieder, heute wurde gefeiert!

»Sapperlot! Das geht ja hoch her!«, donnerte eine Stimme. Anna unterbrach sich, alle Köpfe drehten sich zum Eingang.

Im Fackelschein glänzte blondes Haar. Schnaubend wie ein Racheengel fuhr Subdiakon Hieronymus in die überraschte Menge. »Schöne Messen feiert ihr hier! Die Dämonen der Hölle werden eure verlorenen Seelen verschlingen!«

Die Leute ließen sich nicht stören. Ein paar lachten und klatschten Beifall. »Her mit dem Kerl, wir klopfen ihn weich!«, rief ein Knecht. »Ich reiß ihn in Stücke!«

Ein anderer hielt ihn am Hemd fest, mit der freien Hand stürzte er den Inhalt seines Bechers herunter. »Lass ihn, so eine Predigt bekommt man nicht jeden Sonntag!«

»Wollt ihr in der Schenke hocken, bis euch die Engel zum ewigen Requiem singen Gott sei mir Saufkumpan gnädig?« Hieronymus geriet nun richtig in Fahrt: »Statt in Sack und Asche zu gehen, habt ihr die Säckel voll Asche! Wie soll der Krieg aufhören, wenn ihr statt auf Knien in der Kirche auf den Bäuchen in der Taverne liegt? Diebesgesindel allesamt, Betrüger, Lumpenpack! Wundert ihr euch, dass ihr in der Kälte dampft? Es ist die Glut der Hölle, die euch wärmt!«

Während Anna vorsichtshalber den Kopf einzog und das Gewitter abzuwarten beschloss, schlug der Ritter mit der flachen Klinge auf den Tisch. »Das genügt!«

Wie ein zu breit geratener Erzengel Michael, der gegen die Mächte der Finsternis kämpfte, fuhr Hieronymus herum. »Glaubst du dich erhaben, weil du von edler Geburt bist? Selbst die Stärksten fällt das Schicksal, und warum? Ob peccata vestra – wegen eurer Sauereien, gottloses Pack!«

Johlend stürzten sich die Burschen auf ihn. Hieronymus raffte seine zweihundert Pfund Körpergewicht zusammen und rannte mit erstaunlicher Beweglichkeit zur Tür. Die Männer wollten ihm nach und drängten sich derart, dass keiner mehr hinauskam.

Anna fing einen abfälligen Blick von Raoul auf. Sie wusste, was er dachte: Possenreißerin! Zornig befreite sie sich aus zahllosen Männerarmen und sprang wieder auf den Tisch. Jemand brüllte »Ruhe!«, was Hieronymus Gelegenheit zur Flucht gab. Zischend brachten die Leute einander wieder zum Schweigen. Mit funkelnden Augen sah sie in die Runde. Das war noch lange nicht alles, wozu sie fähig war.

Es wurde still. Anna spürte die Erwartung, die ihr entgegenschlug, und dann eine plötzliche Vertrautheit mit diesem Raum, diesen Menschen und ihrem Körper. Sie verstand selbst nicht, was sie überfiel. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie sich nicht dagegen wehren können. Aber sie wusste, was sie singen musste und dass sie es jetzt tun musste. Sanft, aber unwiderstehlich drängte es nach oben. Sie hatte keine Wahl.

Raoul hatte sich zum Gehen gewandt, als es auf einmal totenstill wurde. Er blieb stehen. Annas helle Stimme webte sich in diese Stille. »In trutina mentis dubia fluctuant contraria …«

Langsam drehte er sich um. Er hatte sie oft singen gehört, aber das hier hatte nichts damit zu tun. Sie stand ohne eine besondere Geste da, als sei sie allein – allein mit ihren Zweifeln. Nur ein kaum hörbares Beben verriet das mühsam beherrschte Feuer. Die Stimme schwoll an und nahm sich zurück zu einer Sinnlichkeit, die ihm den Atem raubte. »… lascivus amor et pudicitia

Raoul schob einen Laiendiener beiseite, um besser sehen zu können. Annas flammend rotes Haar fiel ihr wie goldene Fäden ins Gesicht. Sie berührten ihre Lippen und bewegten sich vom Hauch ihres Atems, als sie fortfuhr:

»Sed eligo, quod video, collum iugo praebeo …« Das weiche Licht ließ ihr Haar wie flüssiges Feuer glänzen und ihre Haut schimmern. Raoul hatte viele schöne Frauen gekannt und einige davon besessen. Aber jetzt schien es ihm, als sei keine von ihnen je so schön gewesen wie dieses Mädchen.

»… ad iugum tamen suave transeo.« Ihre Lippen kräuselten sich, wie um die Süße der Worte zu schmecken. Und sie goss dieses süße Gift auch in seine Seele.

Raoul wandte sich um und stürzte aus der Taverne. Achtlos rempelte er die Menschen an, als sei er auf der Flucht. Sein Körper glühte. Er hatte das Gefühl, jeder weitere Augenblick könnte ihn vernichten.

Wenig später stand er mit bloßem Oberkörper im Hof hinter dem Hospiz. Schattenhaft waren die Berge noch zu erkennen, und durch die Eisengitter der Seitenpforte warf der Mond ein unstetes Muster auf seine Haut. Die eisige Luft schnitt in seine Lunge, sein Schwert zerschnitt die klirrende Kälte. Er kämpfte sich durch die Übungsreihe, als wolle er seine eigenen Gedanken bekämpfen. Mit aller Kraft hieb er schräg auf- und abwärts, trieb seinen unsichtbaren Gegner vor sich her. Sein Schatten tanzte auf dem gestampften Boden, er verfolgte ihn, stach zu und riss den Anderthalbhänder hoch, ohne sein Gewicht zu spüren. Die Klinge stieß senkrecht herab und fuhr knirschend in den steinhart gefrorenen Grund. Keuchend kniete Raoul nieder und legte die Stirn an den Schwertgriff.

Seine Brust hob und senkte sich schmerzhaft. Die Muskeln in seinem Oberkörper zuckten. Es war Wahnsinn, dachte er. Wahnsinn, und völlig unmöglich. In seinem Leben war für alles Platz, für Leidenschaft, für Zerstörung und Verrat, selbst für den Tod.

Aber nicht für Liebe.