Der Mönch zeigte Anna ein Strohlager, wo sie schlafen konnte. »Die Frau ist gestern gestorben. Es kommt immer wieder vor, dass einer von uns sich ansteckt«, erklärte der Mönch. »Aber hier wohnen nicht nur Aussätzige.«
Am liebsten wäre Anna wieder gegangen. Wusste der Teufel, welche Seuchen hier noch verbreitet wurden. Hoffentlich bestand der Mönch nicht darauf, dass sie, wie üblich, nackt schlief, um keine Wanzen ins Bett zu tragen! Sie beschloss, das Messer nicht aus der Hand zu legen.
Die Nacht war unbequem. Die Hütte war kaum mehr als ein in Zellen unterteilter Bretterverschlag. Durch die Wände wehte ein kalter Hauch herein. Es stank nach getragenen Kleidern, ständig scharrte jemand, und Kinder riefen im Schlaf nach ihren Eltern. Die Frau, mit der Anna ihr Lager teilte, hatte zuerst ununterbrochen gehustet, jetzt schnarchte sie mit offenem Mund. Irgendwo schrie ein Mann immer wieder.
Anna wälzte sich auf die andere Seite. Die Stimme erinnerte sie an jemanden. Wieder hörte sie ihn rufen, und mit zitternden Händen richtete sie sich auf. Für einen Moment hatte sie geglaubt, die Stimme Heinrichs von Wolfsberg zu erkennen – des Mannes, der sie geschändet hatte. Sie wusste, dass er für Herzog Leopold kämpfte, und dessen Männer trieben sich in der Gegend herum. Aber der gefürchtete Raubritter würde wohl kaum in einem Armenhospiz übernachten. Entschlossen stand sie auf, warf ihr Hemd über und nahm die Fackel aus der Halterung. Vielleicht konnte sie den Kranken wecken und er würde danach ruhiger schlafen. Sie öffnete die Tür, hinter der die Schreie hervordrangen.
Ein furchtbarer Gestank nach Erbrochenem, nach Kot und vergorener Milch schlug ihr entgegen. Der winzige fensterlose Raum war mit Flechtwänden von den anderen getrennt. Es gab nur einen Strohsack als Lager.
Der Kranke fuhr hoch und starrte sie aus blicklosen Augen an.
Mit einem Schrei taumelte Anna zurück. Jemand fing sie auf – der kräftige Mönch, der sie empfangen hatte.
»Es geht zu Ende mit ihm«, flüsterte er. »Das Antoniusfeuer frisst ihn auf.«
Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie ihn an. Sie hatte sich nicht getäuscht: Der Kranke war Heinrich von Wolfsberg – der Fraß.
Mit einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen sah sie an ihm herab. Von dem kräftigen Ritter war nichts mehr übrig. Seine Haut hing in Falten herab, nur der Bauch war krankhaft angeschwollen. Finger und Zehen hatten sich zu Krallen verkrampft, wie um das Leben festzuhalten. Über das besudelte Lager und seinen nackten Körper zogen sich Rinnsale von Urin und Erbrochenem. Aber das Schrecklichste waren die Geschwüre, die den ausgemergelten Leib übersäten. Obwohl sie ihm für das, was er ihr angetan hatte, tausendmal den Tod gewünscht hatte, schrak sie zurück.
Draußen heulte ein Wolf. »Sie sollen aufhören!«, brüllte er mit überschnappender Stimme. Er schlug sich so heftig mit den Fäusten gegen die Schläfen, dass Anna zusammenzuckte. Sie hatte die furchtbare Krankheit schon zu oft gesehen, um nicht zu wissen, was die schwarz verfärbten Fingerkuppen bedeuteten.
»Er spürt schon nichts mehr«, bestätigte der Mönch. »Wir fanden ihn nicht weit von hier. Er war wohl mit einer Bande Straßenräuber durchs Land gezogen, oder sein Gefolge hat ihn einfach liegen gelassen. Vielleicht hat ihn die Krankheit auf einem verseuchten Strohsack gepackt, vielleicht hat er das Mutterkorn mit dem Morgenbrei aufgenommen. In jedem Fall ist er zu abgemagert, als dass er es überstehen könnte.«
Annas Hand klammerte sich um die Fackel. Es hieß, dass feuchtes Wetter das giftige Mutterkorn im Roggen hervorbrachte. Aber niemand konnte es sich noch leisten, Getreide deshalb wegzuwerfen. Sie fragte sich, was der Fraß hier gewollt hatte. War er in Leopolds Auftrag gekommen, um sie zu suchen? Und wie viele Männer noch?
Der fiebrige Blick des Kranken streifte sie. »Du?« Über die aufgeplatzten Lippen rann Blut, als er leise lachte. Es klang, als knistere der Wind in Pergamentblättern. »Warst du es?«, flüsterte er gehässig. »Herzog Leopold sagt, eine Gauklerin hätte ihm das Buch gestohlen.« Er kicherte wie ein Irrer. »Aber jetzt bist du hier. Dann fahre ich wenigstens nicht allein zur Hölle!«
Ebenso unfähig, ihr Entsetzen zu verbergen wie wegzulaufen, starrte Anna in das von Geschwüren zerfressene Gesicht. War es der Wahnsinn, der das Antoniusfeuer begleitete? Oder hatte er im Angesicht des Todes jene sonderbare Klarheit gewonnen, mit der so viele Menschen vor den ewigen Richter traten?
»Du hast es, nicht wahr?«, zischte er. Er war kaum noch zu verstehen. Er streckte die verfärbten Finger in ihre Richtung, und Anna wich zurück. In ihrem Inneren tobten Furcht und Abscheu. »Die Hölle kann stolz auf dich sein!«
Auf einmal brüllte er wie ein sterbendes Tier. Sein Gesicht lief blau an, er rang nach Luft. Anna taumelte gegen die Wand und blieb keuchend stehen. Zitternd starrte sie auf das Lager. Mit geöffnetem Mund und erstarrten Augen lag Heinrich von Wolfsberg auf dem besudelten Laken.
Am nächsten Morgen wachte Anna von einem trockenen, schmerzhaften Husten auf. Mühsam kam sie hoch und rieb sich die schmerzenden Glieder. Durch die Bretterwand hörte sie einen Auerhahn balzen. Das Schnalzen und Schnarren pochte in ihrem Kopf.
»Bleib liegen«, sagte jemand. »Du hast Fieber.«
Im Halbdunkel machte sie die Umrisse eines großen Mannes im hellen Waffenrock aus. Der Mann, vor dem sie geflohen war!
Sie wollte aufstehen und krümmte sich, als ein neuer Husten sie schüttelte. Ein hitziger Schauer durchlief sie. Erschöpft sank sie zurück auf den Strohsack.
»Ich tue dir nichts. Kennst du meine Tracht nicht? Ich bin ein Ordensritter.«
Verwirrt sah sie auf. Ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund kam in ihr Blickfeld. Anna erkannte das Ordenshemd der Deutschherrn. Aufatmend sank sie zurück.
Graue Locken fielen ihm auf die Schulter. Sein Gesicht war ernst und wirkte auf eine sonderbare Art gezeichnet. Es erinnerte sie an jemanden. Es war nichts in seinen Zügen, vielleicht eher in seinen Bewegungen, seiner Art, den Kopf zu werfen.
Er legte ihr eine kühle, sehnige Hand auf die Stirn, und erschöpft schloss sie die Augen. »Ich muss nach Kaltenberg«, flüsterte sie.
»Kaltenberg?« Seine Stimme war so scharf, dass sie überrascht die Augen aufschlug. Diese Stimme klang nicht wie die eines Mannes, der Wunden heilte. Viel eher wirkte sie wie die eines Kriegers. »Was hast du dort zu schaffen?«
Wieder hustete sie trocken. Jeder Atemzug tat weh. »Euer Name … Herr?«, murmelte Anna. Sie hatte gelernt, einem Mann nicht ohne weiteres zu trauen.
Er wies auf sein Ordenshemd. »Du kannst mir vertrauen.«
Anna schloss die Augen. Wie Ihr wollt, Herr!, dachte sie, ehe sie wieder bewusstlos wurde.
Sie wusste nicht, wie lange sie im Fieber lag. Bildfetzen jagten durch ihre Träume. Irgendwo hörte sie eine Frauenstimme singen. Es war eine beruhigende Melodie, vielleicht eine Nonne, die einen Hymnus der heiligen Hildegard von Bingen intonierte. Der Klang hallte unwirklich, wie aus einer anderen Welt.
Als sie wieder zu sich kam, wölbten sich hohe Rundbögen über ihr. Es war kühl. Sie lag in einem mehrschiffigen Raum, die Wand hinter ihr war aus festem, massivem Stein. Schemenhaft erkannte sie ein hölzernes Kreuz. Sie fühlte sich so schwach, dass sie kaum die Lider heben konnte. Auf ihren trockenen Lippen klebte etwas Bitteres. Sie hustete, und es stach schmerzhaft in ihrem Rücken. Mühsam öffnete sie die Lider.
»Du bist in der Benediktinerabtei Benediktbeuern«, sagte der Deutschherr. Offenbar hatte er neben ihrem Bett gewartet. Hatte er sie hierhergebracht? Warum sollte er das tun? Wieder forschte sie vergeblich in ihrem Gedächtnis, was ihr an ihm bekannt vorkam. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. Sie hatte entsetzlichen Durst.
Er reichte ihr einen Krug Wasser, den sie gierig leerte. Dankbar gab sie das Gefäß zurück. Sie lag auf einem Strohsack, der mit sauberem Leinen bezogen war. Die Steinwände hinter ihr gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit. Jetzt erst bemerkte sie, dass neben ihr im Bett noch eine andere Frau lag. Sie war schon älter und stierte mit glasigen Augen vor sich hin. Anna bemerkte, dass die Frau nackt war und sah erschrocken an sich herab. Sie trug noch ihr Leinenhemd, vermutlich um den Mann an ihrem Bett nicht in Versuchung zu bringen. In diesem Teil des Raums waren offenbar Frauen untergebracht, gegenüber sah sie jetzt auch Männer liegen. Ordensschwestern liefen mit hölzernen Bechern und Schüsseln hin und her, irgendwo läutete eine Glocke. Zu ihren Füßen nähten zwei an etwas herum, aber sie sah nicht, woran. Trotzdem beruhigte sie sich. Es war kühl, aber sauber, das Hospital eines Klosters, kein Armenhaus.
»Bist du allein über die Berge gekommen?«
Anna war zu schwach, um genau auf das zu achten, was sie sagte. »Wo sind meine Sachen? Ich muss zum König.«
Er schwieg überrascht, dann lachte er leise. »Du wirst immer bemerkenswerter. Sie sind beim Bruder Krankenpfleger, wie die Habseligkeiten der anderen armen Seelen hier. Aber wenn du einen Auftrag hast, solltest du ihn mir übergeben.«
Erst jetzt bemerkte Anna, womit die Schwestern beschäftigt waren: Sie hatten eine Tote aus dem Nachbarbett gehoben und nähten sie stumm und ernst in Tücher ein. Der Deutschherr bemerkte Annas Erschrecken. Schonungslos fuhr er fort: »Du wirst die nächsten Wochen hier verbringen, und wenn du hier nicht stirbst, kannst du froh sein. Du hast Fieber, vielleicht ist auch die Lunge entzündet.«
Annas Kopf war dumpf, und sie brauchte einen Moment, bis sie die ganze Tragweite seiner Worte begriff. In der ersten Zeit auf der Straße war der Gedanke an den Tod ihr ständiger Begleiter gewesen. Aber irgendwann hatte sie nicht mehr darüber nachgedacht. Sie hatte einfach nur gelebt, jeden Augenblick gespürt, dass sie da war. Ich will nicht sterben!, dachte sie verzweifelt.
Trotzig sah sie den Mann an ihrem Bett an. Es war ihm zuzutrauen, dass er sie ängstigen wollte, um sie zum Sprechen zu bringen. Er hatte nicht das Geringste von einem Ordensmann. Im Gegensatz zu seinem Habit war er so mitfühlend wie ein Schlachtknecht. Anna hätte ihn sich eher als Herr über eine kleine Burg vorstellen können. Als einen Mann, der bisweilen als Schöffe vor Gericht auftrat und ansonsten in den Krieg zog oder sich den üblichen Vergnügen hingab: auf die Jagd zu gehen, Schach zu spielen und seine Frau oder ein Bauernmädchen zu schwängern.
»Verzeiht, Herr«, keuchte Anna, so ehrerbietig sie es fertigbrachte. »Aber ich kann keinem namenlosen Mann meinen Auftrag übergeben, selbst wenn er das Hemd eines Ordensritters trägt.«
Die schön geschwungenen Lippen verzogen sich. »Für deinen Stand und dein Geschlecht hast du Mut. Weit mehr, als gut für dich ist. Du bist stur wie ein Maultier.«
Annas Lächeln erstarb. Forschend sah sie in sein schönes helles Gesicht. Wider Erwarten ließ er es sich gefallen.
»Nun?«, fragte er. »Was siehst du?« Er erhob sich und ging in dem Raum auf und ab. Am Bett lehnte noch sein Schwert, offenbar hatte er es selbst hier nicht abgegeben. Seine angespannte Haltung gab ihr das ungute Gefühl, dass er ständig um seine Beherrschung kämpfte. Was mochte einen solchen Mann dazu gebracht haben, das Gewand eines Ordensherrn anzulegen? Er warf den Kopf zurück, und für einen Moment schob sich ein anderes, dunkles Gesicht vor seine scharfen Züge. Widerwillig schüttelte sie den Kopf, aber es gelang ihr nicht, das Bild zu vertreiben.
»Du hast einen Namen genannt, als du im Fieber lagst«, wandte er sich wieder an sie. Seine Stimme klang jetzt herrisch und streng. »Was verbindet dich und Ulrich von Rohrbach?«
Er stieß den Namen voll Abscheu zwischen den Zähnen hervor. Trotzdem atmete Anna auf. Einen Augenblick hatte sie befürchtet, in ihrem Fiebertraum Raouls Namen genannt zu haben. Die Erleichterung machte ihr Mut und gab ihr neue Kraft. »Da Ihr das wissen wollt, sollte ich Euch dieselbe Frage stellen.«
Er stieß einen Fluch aus. »Glaub nicht, dass du unverletzlich bist, weil du todkrank bist!«, fuhr er sie an. Die grauen Locken fielen ihm vorn auf die Schultern. Für einen Moment stellte sie sich vor, sie seien schwarz.
Anna verwünschte das Fieber, das ihren Kopf dumpf machte und ihren Verstand vernebelte. Sie war dankbar, als zwei Mönche einen frischen Strohsack an ihr vorbeischleppten und stehen blieben. Einer sprach den Deutschherrn flüsternd an: »Betet Ihr mit uns die Vesper?«
Er nickte ungeduldig und wandte sich wieder an sie. »Nun?«
»Wenn Ihr mich totschlagt, erfahrt Ihr gar nichts«, keuchte sie. Der Atem rasselte in ihrer Brust, aber sie dachte nicht daran, sich von ihm einschüchtern zu lassen.
Er schien zu überlegen, ob er es darauf ankommen lassen sollte. Mit sich kämpfend lief er hin und her wie die abgerichteten Bären, die man auf Jahrmärkten oder bei Hochzeiten sah. Endlich blieb er mit dem Rücken zu ihr stehen. Schatten warfen dunklere Stellen auf sein Haar.
Ruckartig drehte er sich zu ihr um. »Also gut.«
Anna schrak zusammen. Atemlos krallte sie die Finger in das Laken und starrte ihn ungläubig an. Seine Augen waren hell, aber ihr Blick glich einem anderen, schwarzen Augenpaar zum Verwechseln. Ein Fieberschauer überlief sie. Langsam richtete sie sich auf. Sie wusste, wer der Mann in ihrer Zelle war, noch ehe er ihre Frage beantwortete:
»Meine Burg Kaltenberg ist das Sühnepfand, das ich für mein Leben zahlte. Ulrich von Rohrbach hasst mich bis aufs Blut, zwischen unseren Familien herrscht eine jahrzehntealte Fehde. Mein Name ist Konrad von Haldenberg.«