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Anna starrte den Deutschherrn an. Konrad von Haldenberg – Raoul hatte ihr diesen Namen als den seines Vaters genannt. Jetzt, da sie es wusste, war es nicht zu übersehen. Dieselben eindringlichen Augen, auch wenn die des Sohnes dunkel waren. Dieselbe Art, den Kopf zu halten. Obwohl Raoul und er rein äußerlich nicht viel gemein hatten, war die Ähnlichkeit jetzt so auffällig, dass es ihr den Atem verschlug.

Ein neuer Husten schüttelte sie. Anna bekam keine Luft mehr. Panik ergriff sie, in wütender Verzweiflung kämpfte sie gegen die Schwäche an. Sie wollte nicht sterben, nicht jetzt! Keuchend klammerte sie sich an die Nonne, die sofort herübergekommen war. Dann war der Anfall vorbei. Zu Tode erschöpft sank sie zurück. Aus halbgeschlossenen Augen sah sie, wie die Nonne dem Deutschherrn einen strafenden Blick zuwarf.

»Die Familien der Rohrbacher und Haldenberger sind verschwägert«, begann Konrad, als die Schwester sich wieder entfernt hatte. »Alles fing vor mehr als zwanzig Jahren an. Die Mutter meines Vetters Winhart von Rohrbach starb, und ihr Besitz fiel an meine Familie zurück. Aber Winhart beanspruchte das Erbe für sich. Als wir es ihm nicht gaben …«

Er unterbrach sich und vergewisserte sich, dass niemand lauschte. »Das Vermögen konnte er nicht bekommen«, stieß er hervor. Nach all den Jahren lag noch immer Hass in seiner Stimme, und die Ähnlichkeit mit Raoul war nun fast erschreckend. »Stattdessen nahm er meiner Schwester die Ehre.«

Anna klammerte die Hand in den Strohsack. Eine solche Tat musste eine Familienfehde heraufbeschwören. Sie fragte sich, warum Konrad ihr davon erzählte. Vielleicht hatte er die Geschichte so lange mit sich herumgetragen, dass es ihn erleichterte, endlich darüber zu sprechen. Und ein Mädchen, das ohnehin sterben würde, war für ihn so gut wie ein Priester im Beichtstuhl.

»Meine Schwester bekam nicht einmal ein christliches Begräbnis«, stieß Konrad hervor. Er vermied es, das Verbrechen des Selbstmords beim Namen zu nennen, aber auch so spürte sie seine Trauer. Anna wusste, wie es war, einen geliebten Menschen zu verlieren. Martin hatte sie wenigstens ehrlich bestatten können, aber bei Falconet hatte sie auf diesen Trost verzichten müssen. Gauklern stand kein christliches Grab zu. Steffen und sie hatten ihn im Wald begraben. Sie hätte es nicht ausgehalten, dass man ihn auf dem Schindanger verscharrte.

Der Deutschherr wandte ihr das scharfe Profil zu, und jetzt erinnerte er auch äußerlich an Raoul. »Ich konnte nicht leben in dem Gedanken, dass der Mann, der Schuld daran trug, ungestraft bleiben sollte!«, presste er hervor. »Auf Notzucht steht der Tod, aber du weißt vermutlich selbst, dass dieses Verbrechen kaum zu beweisen ist. Ich konnte ihn nicht zur Rechenschaft ziehen. Nicht vor einem Gericht«, setzte er zwischen den Zähnen nach. »Also nutzte ich die Versammlung der Räte des Herzogs, die damals in Landsberg stattfand. Es war ein regnerischer Abend, als er nach Hause ritt«, sagte er wie überrascht, dass er sich an jeden Augenblick erinnerte. »Das Läuten zur Komplet war noch nicht lange vorbei, als ich ihn auf einem Weg bei Kaltenberg traf. Er trug sein Schwert und den Dolch, und auch ich hatte keine anderen Waffen bei mir. Mein Bruder begleitete mich, er sollte später bezeugen, was geschehen war. Ich schwöre, dass ich einen ehrlichen Zweikampf wollte.«

»Aber Winhart wies Euch ab?«

»Ja. Und ich verlor die Beherrschung«, bestätigte Konrad. »Als er vor mir auf dem schlammigen Boden lag – meinen Dolch in der Brust – als mein Bruder mich wegzerrte und meine Hände voll Blut waren –, erst da begriff ich, was ich getan hatte.« Er wartete, wie um sich zu sammeln, ehe er weitersprach. »Ich habe dafür gebüßt. Zuerst mit der Reichsacht, mit dem Verlust meiner Güter und meiner Ehre. Kurz bevor Herzog Ludwig zum König gekrönt wurde, starb meine Frau am Fieber. Damals ließen sich die Deutschherren in Hegnenberg bei Kaltenberg nieder. Ich hatte das Gefühl, Gott sei der einzige Herr, dem ich noch dienen könnte. Also schloss ich mich ihnen an.«

Annas Herz schlug zum Zerspringen, auf ihrer Stirn perlte fiebriger Schweiß. Ihr wurde klar, was das bedeutete: Niemals konnte es zwischen Raoul und Ulrich Frieden geben. Sie waren gefangen in einem Kreislauf aus Hass, einem Kreislauf, der zu alt war, als dass sie ihn je durchbrechen könnten.

»Seid Ihr wegen der Fehde in den Orden eingetreten?«, fragte sie. Eine Sühne erklärte, warum ein Mann wie Konrad sich für das geistliche Gewand entschieden hatte.

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln belebte die strengen Züge. »Ja, und nein. Kurz bevor das Heilige Land endgültig an den Islam verlorenging, war ich in Akkon gewesen. Damals lag dort der Hauptsitz der Deutschherren. Es war eine glückliche Zeit, vielleicht wollte ich daran anknüpfen.«

Und in Akkon war Raoul geboren, in Schande, ohne irgendetwas von seinem Vater zu wissen. Nicht einmal seinen Namen.

Konrad forschte in ihrem Gesicht. Seine harten Lippen bebten kaum sichtbar. »Du bist Raoul begegnet«, stellte er fest.

Er wusste von ihm! Anna ließ das Schweigen zwischen ihnen hängen. Sie erinnerte sich, was irgendjemand auf Kaltenberg einmal über Raoul gesagt hatte: Wäre er nicht mit dem Teufel im Bund, könnte er der Erste aller Ritter sein. Oft hatten die Frauen getuschelt, sein gutes Aussehen und seine Tapferkeit würden ihn als adligen Herrn ausweisen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn das Schicksal ihn besser behandelt und Konrad sich zu ihm bekannt hätte. Obwohl sie sich vor Schwäche kaum aufsetzen konnte, wurde sie wütend.

»Du fragst dich, warum ich ihn nicht anerkenne.« Konrad schien ihre Gedanken zu lesen. Obwohl er einer Gauklerin gegenüber keinen Grund hatte, sich zu rechtfertigen oder auch nur zu erklären, sagte er: »Er weiß nicht, wer ich bin, und er wird es nie erfahren. Auch du wirst es ihm nicht sagen!«, befahl er scharf.

Anna sank zurück auf das Lager. Was Konrad von ihr verlangte, konnte sie nicht versprechen. Sie kam sich vor, als sollte sie Raoul verraten. »Warum?«, flüsterte sie.

»Weil es besser ist«, erwiderte er ironisch. »Du bist ihm begegnet, dann weißt du auch, wie sehr er mir ähnelt. Viel mehr, als gut für ihn ist«, setzte er leiser nach. Je länger sie es wusste, desto auffälliger erschien Anna die Ähnlichkeit. Derselbe Schnitt der Augen, derselbe unvermittelt weiche Zug um die Lippen.

Zögernd hörte sie ihn fragen: »War mein … war Raoul gesund?«

Anna bejahte, aber ihre Lippen waren so trocken, dass sie kaum noch sprechen konnte. Sie schloss wieder die Augen und hörte Schritte, die sich näherten.

»Noch eins, Herr, das Buch ich bei mir hatte … Herzog Leopold wollte es benutzen, um den König zu töten. Ludwigs Ruf sollte vernichtet werden … aber es ist kein Ketzerwerk.«

Augenblicke lang hörte sie ihn nicht einmal atmen. Dann fühlte sie ein feuchtes Tuch über ihre Lippen und ihre Schläfen streifen und seine Hand auf ihrer Stirn. »Es gibt nicht viele Männer, die es wagen, Leopold herauszufordern«, hörte sie seine Stimme, dunkel und warm wie die seines Sohnes. »Der König wird davon erfahren. Du brauchst Ruhe und gutes Essen, aber mit Gottes Hilfe wirst du leben. Ich werde für dich beten.«