»Lasst mich los!« Wütend wehrte sich der junge Mann, als ihn die Münchner Stadtbüttel vom Pferd zogen. An dem verregneten, ungewöhnlich kalten Augustabend waren die Straßen verlassen. Nur die Hufe klapperten auf den Isarkieseln, als das Pferd scheute. Der Reiter hatte den zu großen Kapuzenmantel zum Schutz vor Regen und Wind tief ins Gesicht gezogen.
»Nichts da. Ihr wolltet pfeilgrad auf die Herzogsburg zu!«, hielt der Anführer der Büttel dagegen. Die Burg hatte ihre eigenen Wachen, aber seit den Gerüchten, man hätte den König ermorden wollen, fühlte er sich mit verantwortlich. In den Fenstern der wehrhaften Bauten rechts und links zeigten sich neugierige Gesichter. Die Bewegungen des Reisenden verrieten, dass er noch jung war, er wand sich wie eine Maus. Konnte es ein Gesandter des Königs sein? Schon seit Monaten war Ludwig nicht hier gewesen, wo seine Gemahlin ungeduldig auf Nachrichten wartete. So wenig verheißungsvoll diese Ehe begonnen hatte, so wenig hörte man jetzt von Mätressen des Königs. Das erschien den Münchner Bürgern derart fremdartig, dass die einen oder anderen schon hinter vorgehaltener Hand munkelten, der König bevorzuge Männer. Andere meinten, Ludwig halte seine Seitensprünge nur besser geheim, aus Rücksicht auf seine Gemahlin.
»Keine Ausflüchte, Bursche! Los, ab zur Burg, die werden dich schon weichklopfen.«
Obwohl der junge Mann sich mit Händen und Füßen wehrte, schleppten sie ihn mit vereinten Kräften zu den mehrere Ellen dicken Mauern. Aus der Wachstube im Bergfried liefen ihnen die Burgsoldaten entgegen.
»Lasst mich los, ihr Narren!«, tobte der junge Reiter. »Ich bringe eine Botschaft für die Königin!« Die Wachsoldaten, die unter den feuchten Waffenhemden sichtlich froren, schienen überrascht von seinem befehlsgewohnten Ton. Sie traten zurück.
Der Junge schlug die Hände in den regenschweren Handschuhen ineinander. Steifbeinig lief er in den ungewohnten Reisestiefeln auf und ab. Seit Stunden hatte er im Sattel gesessen.
Der dienstälteste Wachmann hob die Kapuze und schien überrascht. Er durchsuchte den Jungen nach Waffen und nahm den Dolch an sich, den er wie jeder Reisende trug. Sonst hatte er nichts bei sich.
Ein Baumstumpf brannte in dem gewaltigen Kamin der Kemenate. Teppiche bedeckten die Wände, und die Fenster schützte Pergament vor der Kälte. Die Königin saß in einem ledernen Faltstuhl. Ihr blondes Haar war mit einem goldenen Netz bedeckt, und hier unter ihren Damen trug sie kein Gebende. Gelangweilt lauschte sie der Chronik, aus der ihr eine ältliche Hofdame vorlas. Die Gräfin hatte die Geschichte von Ludwigs Vater ausgesucht: jenem gestrengen Herzog, der seine Frau des Ehebruchs verdächtigt und in ihren Gemächern hatte erschlagen lassen . Beatrix fragte sich amüsiert, ob ihr eigenes Hofgesinde sie an die eheliche Treue erinnern wollte. Immerhin war Ludwig schon seit Monaten unterwegs.
Die eintönige Leier wurde jäh unterbrochen: Beatrix’ Sohn, der fünfjährige Ludwig, hatte seinem kleinen Bruder einen Holzritter gegeben. Die beiden Spielzeugkämpfer waren zu Pferd auf einem Tisch aufgestellt und konnten mit Schnüren bewegt werden, aufeinander loszugehen und zu tjosten. Der Kleine lallte etwas, aber seine zweijährige Schwester Agnes kam ihm zuvor. Sie packte das Spielzeug und verkündete stolz: »Ritter.«
Der kleine Stefan brüllte, und die Kinderfrau ging dazwischen. »Schämst du dich nicht«, fuhr sie seine Schwester an. »Waffen in der Hand eines Mädchens, wie passt denn das?«
Während die heulende Agnes aus dem Zimmer getragen wurde, leierte die Gräfin weiter das blutige Gemetzel herunter. Beatrix ging in Gedanken die Männer bei Hof durch. Nein, große Versuchungen erwarteten sie wirklich nicht. Entweder sie waren alt und ständig schlecht gelaunt – grantig, wie man hier sagte – oder nur in sich selbst verliebt. Sie dachte an die Nacht vor Ludwigs Abreise. Zum ersten Mal hatten sie ernsthaft gestritten: Ludwig hatte herausgefunden, dass sie einer Gauklerin ein Mittel abgekauft hatte, um nicht zu empfangen. Beatrix hatte zurückgeschrien, sie sei keine Zuchtstute. Sie hätte sechs Schwangerschaften hinter sich und fühlte sich erschöpft wie eine alte Frau. Der ungewohnte Ausbruch hatte ihn verblüfft. Aber statt sie zu maßregeln, hatte er sie zu sich aufs Bett gezogen. Und während er sie leidenschaftlicher als sonst mit Küssen bedeckte, hatte er gefragt, ob sie das Mittel denn griffbereit hätte.
Als der Bote in der Tür erschien, sprang sie erleichtert auf.
»Gelobt sei der Herr!«, rief Beatrix, dankbar für alles, was das blutige Niedermetzeln von Ehefrauen unterbrach. »Bringst du Nachrichten von König Ludwig?« Ihre klugen Augen musterten den Besucher, und sie stutzte. Sie trat näher und schlug ihm die Kapuze zurück.
Das Gesicht eines etwa vierzehnjährigen Jungen blickte zu ihr auf. Unter den blauen Augen lagen Schatten, die Haut war bleich und kalt, und seine Züge mit der spitzen Nase erinnerten sie an jemanden. Die Reise musste eine ungewohnte Anstrengung für ihn bedeutet haben. Ludwigs verstorbener Bruder hatte mehrere Söhne, sie hatte sie zuletzt als Kinder gesehen. Doch der Junge sah Rudolf so ähnlich, dass er nur einer von ihnen sein konnte. Überrascht zog sie ihn ans Feuer.
»Was ist geschehen?« Schon lange hatte sie ihre Erziehung vergessen, die ihr verbot, einen Mann von sich aus anzusprechen. Mit weiblicher Zurückhaltung konnte man keinen herzoglichen oder gar königlichen Hof verwalten.
Der kleine Ludwig ließ seine Ritter stehen und kam herüber. »Hast du meinen Vater gesehen?« Beatrix zog ihn liebevoll zu sich heran und stopfte ihm den Mund mit Honiggebäck. Seit Ludwig ihm eingeredet hatte, er sei der Vertreter seines Vaters und müsse auf die Mutter aufpassen, mischte sich der Dreikäsehoch ständig ein.
»Ihr müsst wissen, wen Ihr beherbergt. Ich bin Rudolf«, bestätigte der Junge ihre Vermutung. »Mein Vater war der Bruder Eures Gemahls.«
»Eine Decke!«, rief die Königin. Sie half ihm, als er sich ungeschickt aus dem nassen Mantel schälte und sich steifbeinig an die Glut hockte. »Und heißen Wein!«, befahl sie. Beatrix hatte sechs Kinder geboren und zwei davon begraben müssen. Einen frierenden Jungen in ihrem Haus ertrug sie nicht, ganz gleich wie feindlich seine Mutter Ludwig gegenüberstand. Wo die engsten Verwandten in unerbittlichem Hass aufeinander lebten, wurden Kinder viel zu früh in die Fehden der Erwachsenen verwickelt. Und viel zu oft mussten sie die Folgen tragen. Sie legte dem jungen Rudolf die Decke um die Schultern, der dankbar die Hände über der Glut rieb. »Habt Ihr gedacht, Ihr hättet hier, im Haus Eures Oheims, etwas zu befürchten? König Ludwig hatte Streit mit seinem Bruder, aber er führt keine Fehde gegen seine Kinder.« Sie sprach die Worte laut, um keinen Zweifel an ihren Absichten zu lassen. Sie waren ebenso wie an ihren Neffen auch an ihre Damen gerichtet.
Der Junge sah unter feuchten blonden Locken zu ihr auf, aber sein Gesicht rötete sich von der Hitze. Auf der Rückseite musste er noch jämmerlich frieren, dachte sie mitleidig. Am liebsten hätte sie den Bengel trockengerieben wie einen nassen Hund, allerdings hütete sie sich, ihm das zu zeigen. Vor dem Gesetz war er großjährig, und junge Männer konnten empfindlich gegen allzu mütterliche Gefühle sein.
»Ich bringe Euch die Nachrichten vom Rhein mit.« Er war ein ungeübter Bote, sprudelte seine Nachrichten einfach ohne zu überlegen heraus. Dankbar nahm er den heißen Becher entgegen, den ihm eine Magd reichte, und hielt ihn zwischen den Händen. »Ludwig und Friedrich standen sich bei Straßburg gegenüber, aber es kam wieder nicht zur Schlacht. Es heißt …« Er unterbrach sich und nahm einen Schluck.
Beatrix bemerkte den Blick des Jungen über den Rand des Bechers und erschrak. »Ist etwas mit Ludwig?« Als Ludwigs Feinde das erste Mal versucht hatten, ihn zu töten, war sie fast verrückt geworden. Vielleicht war das der Augenblick gewesen, wo sie gespürt hatte, dass zwischen ihnen längst mehr war als nur freundschaftliche Duldung. Die ganze Nacht hatte sie nach ihm getastet, sich vergewissert, dass er bei ihr war.
»Kommt der Vater wieder?«, fragte der kleine Ludwig scheu.
Der junge Mann beeilte sich zu bejahen. »Leopold wollte ihn töten, aber der Plan wurde verhindert.«
Beatrix stieß einen Seufzer aus.
»Als ich davon hörte, bin ich einfach losgeritten. Ich will den Streit zwischen Ludwig und meiner Familie beenden. Mein Vater würde dasselbe wollen.« Er sah sie an und wirkte auf einmal erwachsen. »Der Plan war offenbar, Ludwig zu ermorden, wenn er ein Buch bekommt, auf das er wartet. Aber das Buch wurde gestohlen.« Er trank seinen Wein aus und drehte sich ein wenig am Feuer. »Leopold schnaubte wie ein gereizter Eber. Er schwor, wenn er die Gauklerin fände, die es genommen hat, würde er ihr die Haut in Streifen vom Leib reißen. Er will jeden Mann, den er entbehren kann, auf ihre Fährte setzen.«