Was sie in Benediktbeuern gehört hatte, beunruhigte Anna. Der Bruder Krankenpfleger ließ sie nur ungern gehen, aber sie hielt es nicht mehr aus. Vier Tage später war sie am Ammersee.
Als sie von Andechs durch den Wald zum See hinabstieg, hörte sie schon von weitem die singenden Männerstimmen. Der schwere Rhythmus erinnerte Anna an die Schritte müder Pilger, aber die Melodie war düster. An einer Biegung kamen sie ihr entgegen: Zwei Büßer schwangen, in dunkle Kutten gekleidet und auf Krücken gestützt, Fahnen und murmelten eintönige Gebete. Die Geschwüre in ihren Gesichtern und der trockene Husten erinnerten Anna an das Leprahospiz. Was immer diese Geschwüre verursachte, es sah ansteckend aus. Sie wollte schnell an ihnen vorbei.
»Warte!«, wollten die Bettler sie aufhalten. »Eine fahrende Gauklerin hat sicher eine Medizin!«
»Nicht gegen den Aussatz.« Anna ging schneller. Hinter sich hörte sie das Klappern der Achselkrücken. Sie blickte über die Schulter. Die Bettler kamen ihr nach. Sie begann zu rennen.
»Warte, du verdammte Metze!«, hörte sie die Stimmen der Aussätzigen in ihrem Rücken. Anna keuchte, und ihre noch schwache Lunge schmerzte, aber sie rannte weiter. Unten am See mussten Fischerhäuser sein.
Verschwitzt und mit stechenden Seiten erreichte sie das Ufer. Die Häuser waren auf Pfählen in den See hineingebaut, die Holzschindeln regengebleicht. Als sie dem Fischer von den Aussätzigen erzählte, ließ man sie sofort ein. Der Alte feilschte zwar eine Weile, aber schließlich versprach er nicht nur, sie über den See nach Schondorf zu setzen, sondern legte auch noch etwas Räucherfisch drauf. Auf der Plattform über dem Wasser fingerte sie dankbar das helle Fleisch aus der Haut. Der vertraute Geschmack erinnerte sie an ihre Kindheit.
Die Nacht war noch warm, und der Vollmond warf einen hellen Schein auf das Wasser. Anna fühlte sich wie eine Pilgerin auf dem Weg nach Hause. Noch immer galt sie in Kaltenberg als verurteilte Hexe, aber sie dachte kaum daran. Zuallererst musste sie verhindern, dass der Hass zwischen Raoul und Ulrich mit dem Tod eines der beiden Männer endete. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob Ulrich inzwischen Kinder hatte, oder eine andere Geliebte. Und wie viele Menschen, die sie kannte, würden nach den Hungerjahren überhaupt noch leben?
Nur das Glucksen der Wellen durchbrach die Stille. Am anderen Ufer glänzten die Lichter der Dörfer, und auf dem Wasser blinkten die Fettlampen der Fischer auf. Der Sohn ihres Fährmanns musste gut achtzig Jahre auf dem krummen Rücken haben, der Alte an die hundert. Zumindest wirkten sie so, auch wenn sie wahrscheinlich eher fünfunddreißig und fünfzig waren. Das Boot befand sich in keinem besseren Zustand, was Anna nicht gerade beruhigte. In all den Jahren hatte sie nicht schwimmen gelernt – der bloße Gedanke, in einen Fluss oder einen tiefen See zu steigen, war ihr unerträglich. Besorgt betrachtete sie die morschen Holzbretter, die bei jedem Ruderschlag ächzten. Vermutlich hielt nur noch jahrzehntealter Dreck die Bohlen überhaupt zusammen. Endlich stieß das Boot auf Grund, und sie sprang ins knietiefe Wasser.
Sie watete ans Ufer. Eine kleine Basilika schälte sich aus der Dunkelheit, die Seekapelle. Anna atmete tief auf, und ihre Kehle war eng. Sie war weiter in der Welt herumgekommen als die meisten Frauen, und es war gut gewesen. Aber nach all den Jahren wieder hier zu sein, wo sie geboren war, erfüllte sie mit einem tiefen Glücksgefühl. Sie war zu Hause.
Für einen Augenblick vergaß sie alles andere. Laut lachend warf sie den Kopf in den Nacken und drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis. Sie stieß eine Folge von schrillen Jodeltönen aus, lachte, weinte gleichzeitig und fiel auf die Knie. Ihre Hände gruben sich in den kühlen Boden. Manchmal hatte sie nicht mehr daran geglaubt, aber jetzt war sie wirklich hier. Sie war zu Hause.
Von hier aus war es nicht mehr weit. Anna hätte ohnehin keinen Schlaf gefunden, also lief sie die wenigen Stunden nach Kaltenberg. Als sie Dürnast hinter sich ließ und den Burgberg über dem Paarursprung erkannte, kämpfte sie mit den Tränen. Jahrelang hatte sie sich nach dem Ort gesehnt, wo sie geboren war. Nichts schien sich verändert zu haben, alles hier war so unendlich vertraut. Wenige hundert Schritt weiter unten lag die Hütte ihrer Eltern mit der Schmiede. Sie erinnerte sich an das warme Knacken des allgegenwärtigen Feuers und die Geborgenheit in dem dunklen erdfarbenen Raum. Leitern lehnten an den Apfelbäumen auf der Obstwiese, es war Erntezeit. Im Herrenhof am Hang hatten Sibylles Eltern gedient, als Kind hatte sie dort beim Gänsehüten geholfen. Und am Dorfanger bei dem Rosenhag hatte Ulrich sie zum ersten Mal geküsst. Jeder Stein hier erzählte eine Geschichte, trug eine Erinnerung.
Als sie in die Dorfstraße einbog, schlugen die Hunde an und liefen ihr laut bellend und knurrend entgegen. Anna blieb stehen. Sie hatte nicht einmal einen Knüppel bei sich.
Einer der Kläffer richtete die Ohren auf und wedelte mit dem Schwanz – »Tristan!«, rief Anna leise. Vor Jahren hatte sie ihn gefunden und aufgepäppelt. Aber der Hund ihres Vaters hatte ihn verbissen, und so hatte sie ihn Lena geben müssen – der Häuslerstochter, die sie zuletzt als hungerndes Kind auf der Burg gesehen hatte. Der Hund hatte sie erkannt und sprang schwanzwedelnd an ihr hoch. Lachend und gleichzeitig weinend umarmte sie ihn und vergrub ihr Gesicht in dem zottigen Fell.
»Ruhig!«, rief eine Frau. Eine Tür öffnete sich einen Spalt, und ein blonder Kopf sah heraus. Hinter ihr wurde die Gestalt eines Mannes mit einem Knüppel sichtbar. »Wer ist denn da?«
Überrascht sah sie von dem Hund zu dem nächtlichen Gast. »Anna?«, fragte sie zögernd. »Das ist doch nicht möglich!«
»Lena!« Die Tochter des Häuslers war noch immer mager, aber sie wirkte gesund. Jetzt trug sie nur ihr Unterkleid, und das Haar war offen, aber in der braunen Bauerntracht und mit ordentlich geflochtenem Zopf sah sie wahrscheinlich hübsch aus. Lachend umarmten sie sich.
»Komm rein«, sagte Lena und zog sie in die Hütte. »Geh lieber nicht zu deinen Eltern. Mag sein, dass sie es nicht so meinen, aber sie haben die letzten Jahre nie von dir gesprochen. Und wenn, dann so, als wärst du tot.«
Anna kämpfte gegen ein trockenes Gefühl in ihrer Kehle an. Keine Familie hätte eine Tochter aufgenommen, die offen als Hure eines adligen Herrn und als Gauklerin gelebt hatte. Trotzdem tat es ihr weh. Vielleicht würden ihre Eltern sie irgendwann verstehen. Aber es würde Zeit brauchen, wenn sie die Schande überhaupt je vergaßen.
Sie stiegen die Stufen in den einzigen Raum hinab. In der Ecke schliefen ein paar Kinder, vermutlich Lenas jüngere Geschwister. Nach den Jahren auf der Straße, in Klöstern und am Hof eines Bischofs kam ihr die Kate winzig vor. Zugleich war alles unendlich vertraut.
»Du giltst hier immer noch als Ketzerin«, redete Lena weiter. »Aber morgen beginnt der Turnierfriede. Dann müssen Fehden und Rechtssachen ruhen, und niemand kann dir etwas anhaben.«
Anna erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Turnier so bald schon beginnen würde. Andererseits war es beruhigend zu wissen, dass sie sicher war. Dankbar streckte sie die schmerzenden Füße aus. Der dunkelhaarige Mann war um einiges älter als Lena, sicher schon an die dreißig. Aber er behandelte sie offenbar gut, und er hielt sich an die ungeschriebenen Gesetze der Gastfreundschaft. Ohne über den nächtlichen Besuch zu murren, legte er die Tischplatte auf die Böcke. Erst jetzt merkte Anna, wie müde sie war.
»Ich versorge jetzt das Haus«, sagte Lena, während sie Brot und Dünnbier brachte. »Meine Eltern sind tot. Tagsüber schufte ich wie eine Sklavin auf der Burg. Aber es macht mir nichts aus, ich kann meine Geschwister durchbringen. Und Peter«, sie warf dem Mann einen zärtlichen Blick zu, »Peter arbeitet auch dort oben.«
Hungrig griff Anna nach dem Brot. Sie hatte zwar erst gestern Abend gegessen, aber der Fußmarsch war lang gewesen. Tausend Fragen nach Ulrich lagen ihr auf den Lippen, und sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
Lena erriet ihre Gedanken. Sie zögerte, als sei sie nicht sicher, ob Anna auch hören wollte, was sie zu sagen hatte. »Ulrich hat sich verändert«, bemerkte sie vorsichtig. »Oh, er verhält sich wie ein Ritter, aber früher gefiel er mir besser. Die Waffenknechte sagen, bei der Belagerung von Weikersheim hat er seine Männer völlig unnötig sterben lassen, weil er die Burg unbedingt erobern wollte. Und jetzt das Turnier! Du wirst die Burg nicht wiedererkennen, sage ich dir. Ein kleines Fest für seine Nachbarn wäre schon ziemlich viel in diesen Zeiten, aber er will dem König etwas bieten. Seit er vom Kreuzzug aus Litauen zurück ist, hält er sich für einen großen Herrn.«
»Kreuzzug?« Es war unter jungen Rittern Mode, sich an den Kreuzzügen des Deutschen Ordens gegen die heidnischen Litauer zu beteiligen. Aber dass Ulrich mit ihnen geritten war, hatte Anna nicht gewusst. Es passte nicht zu ihm.
»Beutezug unter wehrlosen Bauern würde besser passen«, mischte sich der schwarzhaarige Mann ein. »Ruhm und Reichtum erwerben, ohne seine hübsche Nase zu wagen. Seine eigenen Leute dürfen währenddessen verhungern. Wenn ich nicht eine Kuh hätte, wären wir viel schlechter dran. Und selbst die wollte er uns schon unter einem Vorwand wegnehmen.«
Anna wollte etwas einwenden, aber sie unterbrach sich. Wie gut kannte sie Ulrich noch nach all den Jahren? Und hatte sie ihn überhaupt je wirklich gekannt?
Lena griff plötzlich über den Tisch nach ihrer Hand. »Wenn du damals nicht gewesen wärst, wäre ich gestorben. Mit dem gestohlenen Honigtopf hast du uns das Leben gerettet.«
»Dann lasst das mal bloß das adlige Pack da oben nicht wissen«, meinte Peter und stand auf, um einen neuen Krug zu holen. »Sonst will er den auch noch von uns zurück!«
Dankbar sah sich Anna um. Die mit Lehm verputzten Wände gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit. Am liebsten hätte sie gleich um einen Strohsack gebeten, wo sie schlafen konnte. Aber eine Frage brannte ihr noch auf den Lippen. »Ist Raoul hier?«
»Der schwarze Ritter?« Lena erinnerte sich sofort an ihn. »Ich weiß nicht. Gesehen habe ich ihn noch nicht, aber es kommen jeden Tag Leute an.«
Anna trank nachdenklich ihr Bier aus. Sie konnte nur beten, dass sie rechtzeitig gekommen war. Ulrich und er durften sich nicht im Kampf begegnen.