Anna hatte sich wider Willen nach Raouls großer, dunkler Gestalt umgesehen. Er blickte ihr nach, unerträglicher Hass stand in seinen Augen. Sie schob die Erinnerung an die Scheune in Neustift gewaltsam von sich weg. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. So sehnsüchtig sie sich gewünscht hatte, Ulrich wiederzusehen, so sehr hatte sie sich auch davor gefürchtet. Einen Moment bemerkte sie nicht einmal, dass auf seiner Oberlippe ein Bartansatz und sein Haar länger war als früher. Sie sah ihn so vor sich wie damals.
Sie überging seine Überraschung und zog ihn wortlos zur Burg. Es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Je näher sie kamen, desto stärker wurden die Erinnerungen. Beinahe laufend erreichte sie vor ihm das Tor und blieb stehen.
All die Jahre hatte sie von diesem Augenblick geträumt. Zärtlich ließ sie ihre Blicke über den Ort gleiten, mit dem sie verbunden war wie mit keinem anderen auf der Welt. Der Hof kam ihr kleiner vor, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Das Fenster zu ihrer winzigen Dachkammer im Gesindehaus war offen. Ein Laken hing heraus, wie früher, wenn sie die Strohsäcke gegen Flöhe behandelt hatte. Offenbar bereitete man sich für die Ankunft des Königs vor: Bretter mit Schüsseln wurden über den Hof geschleppt, der Boden mit frischem Stroh bedeckt. Unter den Außentreppen und Galerien, wo sie sich als Kind versteckt hatte, liefen Knechte in ihren schwarzweißen Tuniken, und auf den Dächern flatterten Wimpel. Früher hatte sie diese Aufregung geliebt, wenn ein Gast erwartet wurde. Und wie damals spielten die Kinder Turnier: Zwei schleppten jeweils ein weiteres auf dem Rücken und tjosteten mit Besenstielen. Anna lächelte. Es kam ihr vor, als hätte sie erst gestern Martin und seine Freunde dabei angefeuert. Dankbar schloss sie die Augen, um das Bild in sich aufzunehmen. Sie war wieder hier.
Ulrich trat hinter sie. Langsam schob er sie zu ihrem Winkel von damals, bei der Tür unter der Galerie. Die Leute taten, als würden sie es nicht beachten, aber sie war sicher, dass sie es bemerkten.
»Du bist gekommen!«, flüsterte er lächelnd. Er spielte mit ihren widerspenstigen Locken, wie er es ein Dutzend Mal getan hatte. »Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl?« Nichts hatte sich hier verändert, die alten Balken, die wurmstichige Tür in ihrem Rücken, der duftende Efeu, der sie von Blicken abschirmte. Die Erinnerung war so überwältigend, dass Anna die Gedanken an Raoul wegschob. Für einen Moment war sie wieder das Mädchen von damals. Ulrich begann sie zu küssen, und lächelnd erwiderte sie seine Küsse. Sie genoss das Gefühl seiner Hände auf ihrem Körper, seinen vertrauten Geruch, ihre Finger glitten über das Muttermal an seinem Hals. Von diesem Augenblick hatte sie geträumt. Sie war dort, wo sie immer hatte sein wollen – in Kaltenberg, in Ulrichs Armen.
»Ich habe so gehofft, dass du mich holst!«, flüsterte sie.
»Es war unmöglich. Aber jetzt bist du hier.« Er drängte sie fester an die überwucherte Tür und legte seine Hand auf ihre Brust.
»Warte!« Lächelnd schob sie ihn ein Stück von sich weg. Er wollte sie festhalten, aber sie wand sich seitlich heraus.
»Was ist?«, stieß er hervor.
Anna lachte leise. Übermütig breitete sie die Arme aus und drehte sich einmal herum. »Ich muss mich nicht mehr verstecken«, rief sie. Ohne sich darum zu kümmern, dass das Gesinde neugierig im Hof zusammenlief, trat sie ein Stück aus der Nische heraus. Am liebsten hätte sie es ihnen allen laut ins Gesicht gerufen: »Ich bin keine Hexe!«
Sie sah Ulrich entgegen, der ihr überrascht nachkam. Hastig sprudelte sie alles heraus: »Ich kann es beweisen. Erinnerst du dich? Den Spielmann, der das Lied gemacht hat, habe ich nicht gefunden. Aber er war ein angesehener Geistlicher. Ich habe eine Handschrift mit dem Lied, das ist so gut wie ein Bürge!«
Ihre Erleichterung war so groß, dass sie am liebsten gleichzeitig gelacht und geweint hätte. Sie hatte diese Handschrift gefunden und hierhergebracht: Anna, die unbedeutende Schmiedetochter aus Kaltenberg! Sie konnte ihren Ruf von jedem Makel reinwaschen, und selbst Hermann von Rohrbach würde es nicht mehr wagen, sie eine Hexe zu nennen!
»Das Buch war in einem Kloster, mitten in den Bergen. Beinahe wären wir unterwegs getötet worden …« Sie unterbrach sich. Ulrich schwieg. »Der Propst wollte es mir nicht geben«, fuhr sie fort. »Aber ich wollte zu dir, und …« Sie verstummte. Erwartungsvoll sah sie ihn an. »Du sagst ja gar nichts.«
Er biss sich auf die Lippen. »Woher hast du so etwas?«, fragte er schließlich. »Hast du es gestohlen?«
»Das ist doch jetzt nicht wichtig«, erwiderte sie ungeduldig. Sie hatte erwartet, dass er sich mit ihr freuen würde, dass er sofort mit dem Buch zu seinem Vater gehen und die Sache endlich aus der Welt schaffen würde. Stattdessen druckste er herum wie ein Klosterschüler, der Angst vor seinem Novizenmeister hatte.
»Wollen wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen?«, erwiderte er endlich und nahm sie wieder in die Arme.
»Ruhen lassen?« Einen Moment glaubte Anna, sich verhört zu haben.
Ulrich antwortete nicht. Sie hatte das Gefühl, als wäre es ihm unangenehm. Neugierig tuschelnd standen die Diener im Hof und sahen immer wieder zu ihnen herüber.
Anna trat zurück und betrachtete ihn. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine Augen undurchsichtiger waren als früher. Was ihr früher rätselhaft erschienen war, wirkte sonderbar leblos, wie bei einem Fisch. Sie musste an Raouls ausdrucksvolle Augen denken. Ulrichs Kieferknochen trat stärker hervor, als würde er angespannt die Zähne aufeinanderpressen. Lena hatte recht gehabt. Er hatte sich verändert, wirkte härter. Fremd.
Unvermittelt schrie sie ihn an: »Sollen mich die Leute ewig für eine Hexe halten? Jeder könnte mich töten, ist dir das gleich?«
»Schrei nicht so, das Gesinde redet schon!«, zischte Ulrich. »Ich habe ein Turnier auszurichten, ich kann keinen Jahre alten Prozess wiederaufrollen. Weißt du, wie lange so etwas dauert? Schlag dir das aus dem Kopf«, sagte er dann ruhiger.
»Es mir aus dem Kopf schlagen? Dein Vater wollte mich umbringen, hast du das vergessen? Ich will mit ihm sprechen!« Sie würde auf der Burg arbeiten und sich von Gertraut anschreien lassen, wenn sie nur bei ihm sein konnte. Anna wollte ihn umarmen, ihn bei sich spüren und wissen, dass alles wieder sein würde wie früher.
Mitten in der Bewegung blieb sie stehen. Ein entsetzlicher Verdacht kam ihr. In all den Jahren hatte sie sich diese Frage nie gestellt, aber jetzt drängte sie sich ihr auf. »Hast du gewusst …«, fragte sie stockend, »… dass dein Vater mich töten lassen wollte?«
Ulrich presste die Kiefer aufeinander.
Anna biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Widerstrebend schüttelte sie den Kopf, wollte es nicht glauben. »Du wusstest es«, flüsterte sie.
»Mein Vater hat mich gezwungen«, erwiderte er ungeduldig. »Jutha verlor ihr Kind, ich … ich hätte sie nicht schlagen dürfen. Ihre Familie sollte mich damals gerade bei Hof einführen. Sie schrie nach Genugtuung. – Ich wollte nicht, dass er dich ertränken lässt!«, beschwor er sie. »So außer sich vor Wut habe ich ihn nie erlebt. Es ging nicht darum, dass ich eine Geliebte hatte. Aber wenn Jutha gestorben wäre, wäre alles umsonst gewesen. Er sagte, er würde die Sache in die Hand nehmen.«
Und Ulrich hatte keinen Finger gerührt, um die Frau zu verteidigen, die er liebte. Für einen Moment wurde alles in Anna taub. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal nachgefragt, was sein Vater mit ihr vorhatte. Er hatte sie geopfert – eiskalt ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um seine Ehre nicht zu gefährden. Sie schloss die Augen. Es tat weh, die Wahrheit zu hören.
Ulrichs Stimme wurde lebhaft. »Aber das ist nun anders. Ich habe meinen Platz am Hof des Königs. Jetzt kann ich mir so viele Geliebte halten, wie ich will. Es wird alles wieder so wie früher.« Er kam heran und wollte sie umarmen.
»Fass mich nicht an!«, schrie sie so laut, dass er überrascht zurückfuhr. Ihre Stimme zitterte vor Wut und Verachtung. Nichts war mehr wie früher. Tausendmal hatte sie sich diesen Moment vorgestellt, und jetzt hätte sie weinen können vor Enttäuschung. Ausgerechnet hier, am Ziel ihrer Träume, fühlte sie sich plötzlich unendlich leer. War es mit allem so, wonach man sich leidenschaftlich sehnte? Sie musste daran denken, wie Raoul sie berührte, wie etwas unendlich Kostbares. Nicht wie eine Frau, die man nebenher vor dem Abendessen in einem Winkel nahm.
»Was hätte ich tun sollen?«, erwiderte er heftig. »Wir sind Ministerialen des Königs, und du bist eine Bauernmagd!«
Er hatte recht. Aber Raoul hatte sie nie wie eine Bauernmagd behandelt. Sie waren Feinde gewesen, vielleicht sogar Todfeinde. Und trotzdem hatte er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um sie aus dem Lech zu retten. Ulrich hatte Macht und Reichtum gewollt, und er hatte sein Ziel erreicht. Aber er hatte einen hohen Preis dafür bezahlt, einen zu hohen. Seine Augen waren wie zerfressen von Gier und mörderischem Ehrgeiz. Den warmen Glanz, den sie das erste Mal gesehen hatte, als sie in Raouls Arm aufgewacht war, würden sie niemals haben. In diesem Moment begriff sie, dass sie wegen Raoul zwischen die Männer getreten war. Sie drehte sich um.
»Komm zurück, Anna!«, befahl der Burgherr.
Lautlos schüttelte sie den Kopf. Als sie unter der Galerie in den Hof trat, zögerte sie. Sie hatte das Gefühl, etwas Unwiderrufliches zu tun.
»Komm zurück, ich befehle es dir! Du bist noch immer meine Leibeigene!«
»Ich gehöre niemandem!«, schrie sie ihn an. »Vielleicht bin ich rechtlos, aber ich bin frei!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte zum Tor, und stumm machten ihr die Leute Platz.
Ulrich kam ihr nach und hielt sie zurück. Wütend fuhr er das Gesinde an: »Was haltet ihr Maulaffen feil? Habt ihr nichts zu tun?« Er hob Annas Kinn, um ihr in die Augen zu sehen. »Du bist so anders als früher. Ist es wegen Raoul?«
Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie konnte ihn nicht ansehen.
Auf einmal brüllte er: »Was hat er mit dir gemacht?« Vor allen Leuten zog er sie gewaltsam an sich und begann sie wild zu küssen. Mit einer Hand tastete er nach ihrer Cotte und wollte sie über den Schenkel schieben. Im ersten Moment war Anna so überrascht, dass sie sich nicht einmal wehrte. Dann kämpfte sie wütend gegen seinen Griff an. Unwillkürlich tat sie, was sie auf der Straße so oft getan hatte: Sie wand sich gelenkig aus seinen Armen und schlug ihn ins Gesicht.
Ulrich starrte sie an. Lastendes Schweigen lag über dem Hof. Keiner wagte etwas zu sagen, aber es war förmlich greifbar, was die Leute dachten. Nie, so lange sie denken konnten, hatte es jemand gewagt, sich dem Burgherrn zu widersetzen. Keuchend zog Anna das Kleid wieder über die Beine. Erst jetzt wurde ihr klar, was sie getan hatte. Sie zitterte, aber sie bat nicht um Verzeihung. Wortlos drängte sie sich durch die Menschen zum Tor.
»Das wirst du bereuen«, schrie Ulrich ihr nach. Seine Stimme überschlug sich vor Wut, außer sich brüllte er ihr nach: »Hast du gehört? Du wirst es bereuen!«