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Erst als Anna zu Raouls Zelt kam, das Gesicht noch gerötet, wurde ihr klar, was sie getan hatte. Ulrich würde ihr nie verzeihen, dass sie ihn geschlagen hatte. Männer hängten ihre Leibeigenen für weit weniger auf. Solange der Turnierfriede galt, war sie halbwegs sicher, aber danach würde sie besser verschwinden.

Die Gaukler hockten um das Feuer und brieten Fleisch. Auf ihre Frage nach Raoul grinste Steffen nur vielsagend. »Wenn du mich fragst, will er dich umbringen. Oder Ulrich. Nicht einmal etwas essen wollte er vorher. – Wie war es denn auf der Burg?«

Eva verpasste ihm einen Klaps. »Willst du etwas essen?«

Anna schüttelte den Kopf.

»Wenn er dir nicht gleich die Kehle durchschneidet, dann sag ihm auch ein Wort zu meinen Gunsten«, bat Steffen. »Er wollte mich schier erschlagen, als ich fragte, ob wir endlich anfeuern können. Aber mir knurrte der Magen, ich hätte einen ganzen Ochsen verdrücken können.«

Die Buden schlossen gerade, als Anna durchs Lager lief. Wer keinen abschließbaren Stand hatte, ließ die gespannten Leintücher herunter und packte seine Waren hinein, um sie mitzunehmen. Rauch, Essensdüfte und Bierdunst wehten durch die Buchenstämme. Auf den Zelten flatterten die Wimpel im Nachtwind, gelblich beleuchtet vom Schein der Feuer. Suchend sah sie sich um. Vor den Zelten tranken die Kämpfer, Felle wurden vor dem Schlafengehen ausgeklopft, und im einen oder anderen hatte wohl eine Hure Kundschaft gefunden. Ihr Blick fiel auf die fahrende Badestube. Dort brannte noch Licht.

Unter ihrem niedrigen Dach bot die Hütte gerade den beiden Zubern und einer Holzbank Platz. Düfte nach Kräutern und verbranntem Bilsenkraut hingen in der Luft. Auf das dunkle Wasser des Zubers, in dem der einzige Badegast saß, warf eine Fettlampe Glanzlichter. Sie beobachtete, wie Raoul das nasse Haar zurückwarf. Er wirkte, als müsste er sich zwingen, zu sich zu kommen, um vor dem morgigen Tag überhaupt Schlaf zu finden.

Das Herz schlug Anna bis zum Hals, als er aus dem Zuber stieg. Es schien ihr ein ganzes Leben her, seit sie ihm in der Badestube in Innsbruck begegnet war. Da er sich allein glaubte, war er nackt. Auf der Brust zog sich ein rötlicher Striemen über die glatte gebräunte Haut, eine Folge des Zweikampfs. Erleichtert bemerkte sie, dass er ansonsten unverletzt war. Verstohlen glitten ihre Blicke über seine breiten Schultern, den schlanken, muskulösen Bauch und die langen Beine. Sie erinnerte sich, wie das Licht in der Scheune seinen Körper so aus dem Dunkel gehoben hatte. Obwohl sie wie in Bädern üblich alles bis auf ihr Unterkleid abgelegt hatte, fror sie nicht.

Raoul schlang das Lendentuch um die Hüften, ließ sich auf die Holzbank fallen und schloss die Augen. Er öffnete die Lider auch nicht, als sich die leichten Schritte nackter Füße näherten. Sie stellte die Ölflasche ab. Ein zarter Duft stieg auf, dann berührte sie seine Schulter.

Raoul winkte stumm ab, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken. »Ich hatte gesagt, ihr sollt mich in Ruhe …!«, fuhr er sie an – und unterbrach sich verblüfft.

Anna sah entschlossen auf ihn hinab. Vielleicht würde er verstehen, warum sie so gehandelt hatte, vielleicht nicht. Aber es durfte nicht ungesagt bleiben. Ihr leichtes Unterkleid bewegte sich bei jedem Luftzug, und ihr rotes Haar fiel offen über die nackten Arme. Obwohl dies die übliche Kleidung der Bademägde war und Raoul es sicher schon oft gesehen hatte, verschlug es ihm den Atem.

Langsam erhob er sich. »Warum bist du aus Neustift verschwunden?« Er packte sie an den Schultern und schrie: »Du warst einfach weg, ohne ein Wort!«

»Ich habe eine Handschrift der Carmina, ich kann beweisen, dass ich keine Hexe bin«, erwiderte sie. »Aber ich hatte sie gestohlen, aus der Kapelle. Sie war für Herzog Leopold bestimmt. Er wollte sie benutzen, um König Ludwig zu töten.«

Raoul starrte sie an. Augenblicke lang sprach niemand ein Wort.

»Du hast sie gestohlen?«, wiederholte er ungläubig. »Aus der Kapelle?« Er stieß einen fassungslosen Laut aus und fuhr sich mit beiden Händen durch das nasse Haar. »Ist dir klar, dass sie dich hängen werden, wenn du je nach Tirol zurückgehst?«

Anna ließ sich auf die Bank fallen. »Es ist seltsam. Ich habe so lange nach einem Bürgen für meine Unschuld gesucht. Aber als ich dann vor dem Buch stand, dachte ich nur an die Taverne in Neustift.« Sie sah zu ihm auf, und ihre Stimme wurde lebhaft. »Die Leute waren glücklich. Es gibt nicht viele Augenblicke, die sie so unbeschwert genießen können. Die Carmina sind vielleicht nicht so gelehrt und heilig wie anderes, was aufgeschrieben wird. Aber sie sind alles, was wir einfachen Leute haben. Vielleicht habe ich das Buch deshalb genommen. Weil ich den Gedanken nicht ertragen habe, dass der Herzog es zerstören könnte.«

Raouls Lippen bebten leicht, als wollte er sie küssen. Stattdessen entfernte er sich ein paar Schritte und sagte er schroff: »Du hast Glück, dass Hermann von Rohrbach dir nicht längst hinter einem Baum die Kehle durchgeschnitten hat. Ulrich das Buch zeigen! Er hat dich benutzt, und als er genug hatte, hat er dich weggeworfen wie ein gebrauchtes Kleidungsstück!«

Sie zuckte zusammen wie unter einem Schlag. Ihre Lippen zitterten. Augenblicke lang sahen sie sich wortlos an.

»Aber nun bist du ja wieder bei ihm«, sagte er hart. Doch er wandte sich nicht ab, als könnte er sich nicht von ihr losreißen.

Er musste ihr nichts sagen. Sie sah in seinen dunklen Augen, dass er sie mehr wollte als irgendetwas sonst auf der Welt. Seine dunklen Locken waren länger geworden, der sinnlich geschwungene Mund weicher. Das war nicht mehr der gewissenlose Ritter, der brutal und rücksichtslos sein Ziel verfolgte. Vergeblich suchte Anna in ihrem Inneren nach dem Hass für das, was er ihrem Dorf angetan hatte. Sie fand ihn nicht mehr. Lieber hätte sie es ihr Leben lang bereut, als diesen Augenblick verstreichen zu lassen.

Anna stand auf. Sie berührte sein Gesicht, das ihr so vertraut geworden war, und schob sein nasses Haar zurück. »Ich konnte es nicht tun«, flüsterte sie. »Du verdammter Narr, ich liebe dich und nicht ihn, und das weißt du.«

In Raouls nachtdunkle Augen trat der warme Glanz, den sie so liebte. Seine Lippen öffneten sich leicht, als könnte er es nicht glauben.

Anna zog sein Gesicht zu sich herab und küsste ihn. Und als er sie zögernd in die Arme nahm, wusste sie, dass sie das Richtige tat. Zum ersten Mal seit Martins Tod wusste sie wieder, wohin sie gehörte. Wo immer sie war, mit ihm an ihrer Seite würde sie sich nie mehr verloren fühlen. Raoul war der Mann, nach dem sie sich mit jeder Faser ihres Seins gesehnt hatte, jede Stunde, seit sie ihn verlassen hatte. Sollte Ulrich die ganze Hölle in Bewegung setzen, sie würde ihn nie wieder aufgeben.

Seine Küsse wurden länger und fordernder. Ihre Zärtlichkeiten steigerten sich zu einem immer erregteren Spiel ihrer Lippen und Hände. Er zerwühlte ihr Haar und drängte sich an sie. Sie spürte die harten Muskeln unter ihren Fingern und erwiderte seine Küsse hungrig. Noch nie hatte sie einen Mann so sehr gewollt.

Raoul riss sich das Lendentuch vom Leib. Er hob sie auf und setzte sie auf den Rand des Zubers. Anna raffte das Hemd über die Schenkel und schlang die Beine um seine Hüften. Sie liebten sich unbeherrscht und leidenschaftlich, keuchend suchten ihre Lippen einander. Mit rhythmischen Schreien der Lust schob sie ihm ihren Leib entgegen, bis sie endlich mit schweißnassem Haar in seine Arme sank und ihre feuchte Oberlippe an seine Schulter presste.