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Raouls Stimme versagte. Wortlos stand er dem Mann gegenüber, den er sein Leben lang vergeblich gesucht hatte. Das Stöhnen der Verwundeten, das Klirren der Waffen, die gereinigt wurden, und die Geräusche der Tiere verschwammen, er nahm sie kaum noch wahr. Jahre waren vergangen, seit ihn der Deutschherr aus dem Verlies von Kaltenberg geholt hatte. Aber er erinnerte sich sofort an dieses Gesicht, das ihn aus seinen Fieberträumen gerissen hatte. Damals hatte er ein unsichtbares Einverständnis zwischen ihnen gespürt, das er nicht vergessen hatte.

»Du ähnelst deiner Mutter«, sagte Konrad endlich. »Ich erinnere mich an ihr Haus. An der Stadtmauer, nicht weit von der Ordensburg. Und ich erinnere mich an ihre dunklen Augen.«

»Seit wann …« Raouls Stimme brach wieder ab. »Seit wann wisst Ihr es?«

»Seit du in Landsberg den König gesprochen hast.«

Raoul schwieg. In ihm tobten Gefühle, die er kaum beherrschen konnte, Liebe, Ehrfurcht, aber auch ein verzweifelter Zorn. Konrad hatte es die ganze Zeit gewusst. Er hatte gewusst, was ihm Kaltenberg bedeutete und warum er in Akkon alles hinter sich gelassen hatte. Und er hatte geschwiegen.

»Warum habt Ihr mich aus dem Verlies geholt?«, fragte er zurückhaltend. Sonst hätte er sich geschämt, seinem Vater bei der ersten Begegnung im durchgeschwitzten Untergewand gegenüberzutreten. Aber jetzt spürte er es kaum. Keiner von beiden machte Anstalten, sich zu setzen, sie standen einander gegenüber und sahen sich an, als könnten sie sich nicht voneinander lösen.

Konrads Hände berührten unruhig den beschlagenen Ledergürtel, der sein Ordenshemd hielt. Raoul fiel auf, dass ihre Hände sich ähnelten. Er suchte in ihm den Mann, den ihm seine Mutter beschrieben hatte: die blonden Locken und die schlanke Gestalt. »Auch wenn es vor dem Gesetz nicht so ist«, erwiderte Konrad langsam, »du bist mein Fleisch und Blut.«

»Blutsbande?« Raoul gewann die Gewalt über sich wieder. »Das klingt nach einem zärtlichen Vater. Mein Vater Konrad von Haldenberg«, sagte er übertrieben betont. »Hattet Ihr so viel Barmherzigkeit für Euren verleugneten Bastard?« Er ging einige Schritte unter Maimuns Kräuterbüscheln. Als er sie berührte, verströmten sie einen starken Duft. »Ihr habt mich verraten, noch ehe ich geboren wurde! Warum?«, schrie er plötzlich. »Warum?«

»Ich muss dir keine Rechenschaft ablegen«, erwiderte Konrad scharf.

Wütend versetzte Raoul dem Faltstuhl einen Tritt. In seinem schweißfeuchten Untergewand fror er auf einmal, und in seiner verletzten Hand pochte es. Er starrte die bleichen Zeltbahnen an, um seinen Vater nicht ansehen zu müssen. Zu gut wusste er, dass Konrad recht hatte. Ein Bastard hatte nichts zu erwarten. Es war schon eine Gnade, wenn er nicht dem rechtlosen Vagantenleben überlassen wurde, sondern einen Beruf lernen durfte. Nur die wenigsten bekamen einen Platz am Tisch ihres Vaters. Trotzdem hatte er immer davon geträumt, dieses Glück zu haben.

»Tausendmal habe ich mir in Akkon diesen Tag vorgestellt«, brachte er rau hervor. Er sah zur Seite, und das schweißverklebte Haar, das ihm ins Gesicht fiel, brannte in seinen Augen. »Ich weiß nicht einmal, wie es ist, von einem Vater geliebt zu werden.«

Verzweifelt blickte er in das gezeichnete Gesicht und suchte seine eigenen Züge darin. Er hätte sein Leben dafür gegeben, mehr von Konrad von Haldenberg zu wissen. Ihn zu lieben und zu hassen, wie es Söhne und Väter eben taten. Vielleicht hatte er überhaupt nur deshalb alles darangesetzt, anerkannt zu werden.

»Warum seid Ihr gekommen?«, fragte Raoul.

Konrad beantwortete die Frage nicht, sondern schien völlig in seinen Anblick versunken. Neben dem kräftigen alten Ritter kam sich Raoul schlank und dunkel vor. Wieder dachte er daran, dass er im Moment kein sehr stattliches Bild bot. Fahrig strich er sich über das mit Blut und Schweiß verklebte Gewand und durch die schwarzen Haare.

»Du bist mir sehr ähnlich«, sagte Konrad endlich heiser. »Raoul …« Er unterbrach sich, als er ihn zum ersten Mal beim Namen nannte. »Was immer geschehen ist, du darfst nicht glauben, ich wäre nicht fähig, dich zu lieben.«

Raoul sah ruckartig auf.

»Aber ich habe einen Mann getötet«, fuhr Konrad fort. »In Ulrich und dir sehe ich die alte Fehde zwischen mir und seinem Onkel Winhart von Rohrbach wieder aufflammen.«

Raoul kam einen langsamen Schritt auf seinen Vater zu. »Ihr fürchtet, ich könnte dasselbe tun?«

Konrad antwortete nicht. Schließlich erwiderte er: »Dieses Mädchen … sie sagte, dass Ulrich deine Herkunft bloßgelegt hat.«

Deshalb war er gekommen. Raoul fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Anna!, dachte er. Eine tiefe Wärme durchlief ihn. Am liebsten hätte er sie hier an seiner Seite gewusst.

»Schwöre mir, an meiner Stelle die Fehde zu beenden«, verlangte Konrad. »Stell das Steinkreuz auf zum Zeichen, dass das Blut gesühnt ist.«

Das bedeutete, Ulrich auf dem Turnierplatz zu verschonen. Raoul blickte auf. »Verlangt Ihr nicht zu viel von einem Mann, der nicht einmal ein Wappen trägt?«, bemerkte er.

»Schwöre es!« Die Gestalt im schwarzweißen Ordenshemd war auf einmal unnahbar und streng.

Raoul begann wie ein Verrückter im Zelt auf und ab zu gehen. Sein Vater hatte ihm nie etwas gegeben. Es gab keinen Grund, zu tun, was er wollte. Der unerträgliche Hass auf Ulrich stritt mit dem Verlangen, endlich den Platz einzunehmen, um den er sein Leben lang gekämpft hatte. Der niedrige Raum schien ihn zu erdrücken. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, krampfhaft schlug er sie gegen die Stirn.

Konrad von Haldenberg wartete unbewegt, aber Raoul hörte ihn tief atmen. Er begriff plötzlich, dass diese Begegnung seinen Vater mindestens ebenso viel Mut gekostet haben musste wie ihn selbst. Abrupt blickte er auf. Mit erstickter Stimme flüsterte er: »Ich schwöre es.«

Die Lippen des Alten zitterten. Raoul kam näher. Zögernd kniete er vor ihm nieder, wie es Sitte war. Er spürte Konrads Hand auf seinem Haar, und ein Beben durchlief ihn. Ein warmes, fremdes Gefühl überfiel ihn, das er nicht gekannt hatte.

»Der König muss es auf der Burg gestatten«, sagte Konrad von Haldenberg rau. »Aber das hier ist üblich, wenn ein Vater seinen Sohn begrüßt.«

Und er beugte sich über ihn und küsste ihn.