img_004 19 img_003

Wie ein gefangenes Tier lief Anna im Rittersaal auf und ab. Sie kannte Ulrich gut genug, um zu wissen, dass er seine Drohung wahr machen würde. Ihr Blick fiel auf das Bärenfell, das noch immer den Boden bedeckte. Ein Dutzend Mal hatten sie sich hier geliebt. Traurig fragte sie sich, was ihn so hart gemacht hatte.

Trotz allem wäre es ihr lieber gewesen, er hätte vergessen, was er für sie empfunden hatte. Sie wusste, wie jäh er zornig werden konnte, wenn seine Gefühle verletzt wurden. Im Kohlenbecken schwelte noch Glut, und einen Augenblick überlegte sie, ob sie Feuer legen sollte. Aber die Wandtäfelung war alt und zundertrocken, und der Raum schien ihr kleiner als früher. Sie wäre in kürzester Zeit erstickt. Außerdem würde niemand sein Leben wagen, um sie zu retten. Vom Turnierplatz her hörte sie die Fanfare, und sehnsüchtig sah sie durchs Fenster. Sie hoffte, dass Raoul sein Ziel erreichte. Die Fanfare klang ungewöhnlich laut, es musste ein starker Westwind wehen. Tiefhängende Wolken verdunkelten den Himmel über Kaltenberg.

Unten im Hof hörte sie jemanden rufen.

»Die Bauern, am Herrenhof!«, brüllte ein Junge, der außer Atem über die Brücke gerannt kam. Beunruhigt beobachtete Anna, wie die Waffenknechte zur Rüstkammer beim Tor liefen. Das, worauf sie gehofft hatte, war nicht eingetroffen – niemand war wegen des Buches gekommen. Entschlossen lief Anna zur Tür und hämmerte mit beiden Fäusten dagegen. Vergeblich. In hilfloser Wut trommelte sie weiter, bis sie verzweifelt an der Tür zu Boden sank und die Stirn gegen das Holz presste.

Gott erbarme sich dieser zugigen Burgen, dachte Beatrix, die im seidenen Unterkleid in ihrem Bett lag. Das mit Pergament verschlossene Fenster ließ kaum Licht herein. Aber noch immer strich ein kühler Windhauch über ihr von blonden Zöpfen gerahmtes Gesicht. Ihr Blick fiel auf das Buch auf der Truhe. Heute Morgen hatte Ulrich von Rohrbach es ihrem Gemahl überreicht: die Carmina, nach denen Ludwig kürzlich gefragt hatte. Sie wunderte sich, wo er die Handschrift so schnell aufgetrieben hatte. Der Ehrgeiz dieses Mannes schien keine Grenzen zu kennen.

»Ego te absolvo«, murmelte der rotgesichtige Kaplan und schlug das Kreuz über sie. In ihrer Langeweile war ihr nichts Besseres eingefallen, als zu beichten. Vielleicht wäre sie doch besser zum Turnier gegangen, aber Ludwig hatte besorgt darauf bestanden, dass sie sich ausruhte.

»Vater, seid so gut und reicht mir das Buch herüber«, bat sie Ulrichs Kaplan.

Der junge Mann gehorchte und reichte ihr das in abgegriffenes Leder gebundene Büchlein. Es sah aus, als wäre es oft benutzt worden, dachte sie, das Pergament war gerissen und fleckig. Sie sah genauer hin und stieß einen überraschten Laut aus.

Der Kaplan, der schleunigst von ihrem Bett aufgestanden und zur offenen Tür geeilt war, blieb stehen. »Ist Euch nicht gut?«

Ohne eine Miene zu verziehen, blickte die Königin auf. »Seid Ihr sicher, dass Herr Ulrich dem König dieses Buch gegeben hat?«

Der Geistliche bejahte. »Ich stand ja daneben.«

Sie ließ das Buch vor sich aufs Bett sinken und lachte leise. »Nun, dann sind es etwas merkwürdige Carmina«, meinte sie. Sie reichte es ihm, und der Kaplan sah hinein.

Wenn Beatrix je einen Geistlichen hätte puterrot anlaufen sehen wollen, hätte sie jetzt vollends zufrieden sein können.

Der Kaplan riss ihr das Buch förmlich aus der Hand und färbte sich noch eine Spur dunkler. Noch etwas mehr, dachte Beatrix, und er brauchte einen Arzt. »Das ist doch …«

Er sah auf das engbeschriebene Blatt. Die Illustration war einfach und zeigte einen Mann und eine Frau – nackt, in schamloser Umarmung. Die Schriftzeichen waren gewunden wie Ornamente aus Punkten und Bögen. Keine Minuskel der Welt sah so aus. Kein Zweifel – es war Arabisch.

Überrascht blickte Beatrix ihm nach, als er das Buch packte und so schnell es sein würdevolles Gewand erlaubte, hinausstürzte.

Anna hatte es schon nicht mehr zu hoffen gewagt, als der Riegel zurückgeschoben wurde. Keuchend sprang sie auf die Beine.

Der Kaplan stand im Eingang, begleitet von einem grauhaarigen Waffenknecht. Der Knecht brachte das vorspringende Kinn mit den grauen Stoppeln dicht an ihr Gesicht, dass ihr sein nach Knoblauch und Wein stinkender Atem in die Nase stieg. Er hielt ihr das Buch vors Gesicht und schrie sie an: »Verdammte Gauklerin! Der Kaplan sagt, du hast uns betrogen. Das ist nicht das Buch, das Herr Ulrich wollte.«

Für einen Augenblick lähmte sie die natürliche Angst der einfachen Leute vor einem Bewaffneten. Dann begann Anna zu lachen. Das Triumphgefühl war so stark, dass sie den Kopf in den Nacken warf und laut loslachte. Es schüttelte sie förmlich, sie machte sich mit einem Schrei Luft und platzte wieder heraus.

»Er konnte noch nie Buchstaben lesen!«, brachte sie hervor. Sie hatte Blut und Wasser geschwitzt, ob Ulrich es inzwischen gelernt hatte. Aber sie hatte ihn richtig eingeschätzt. Ulrich interessierte sich für Ruhm und Ehre, und dazu taugte das Lesen nicht. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass es Arabisch war!

Anna gewann ihre Fassung wieder. »Nein«, schleuderte sie den Männern ins Gesicht. »Das ist nicht das Buch, das Ulrich wollte. Das ist das Handbuch der Medizin des Mauren Ibn Butlan!«

Sie bedauerte zutiefst, dass es keine Möglichkeit gab, das dumme Gesicht eines Menschen in einem einzigen Augenblick auf Pergament zu bannen. Die beiden Männer hätten ein prachtvolles Bild abgegeben. »Das richtige Buch ist an einem sicheren Ort«, triumphierte sie. »Ihr werdet es niemals bekommen!«

Der Waffenknecht hatte sich wieder gefangen und stieß sie brutal zur Wand. Erschrocken schrie der Kaplan auf, doch er fuhr ihn an: »Verschwindet, das geht Euch nichts an!« Er packte Anna an der Kehle und zischte: »Wolltest uns wohl zum Narren halten, du Gauklermetze!« Er riss das Schwert aus der Scheide.

Unten im Hof brüllten Stimmen durcheinander. Überrascht sah der Waffenknecht nach dem Fenster. Er lief in die enge Nische, blickte hinab und stieß einen verblüfften Schrei aus.

Anna stieß den Kaplan zur Seite, raffte ihr Kleid und stürzte hin aus. Dankbar, dass sie sich im Palas auskannte, hastete sie die Treppe hinab in den kahlen Vorraum. Die Tür unten war unverschlossen. Sie stieß sie auf und stand im Hof.

Eine kräftige Bö fegte ihr ins Gesicht, Regentropfen klatschten gegen ihre erhitzten Wangen. Keuchend sah sie sich um. Sebastian hatte die gelangweilten Wächter mit seinen Muskelpaketen unterhalten, aber sein Auftritt war offenbar jäh gestört worden. Durch das Tor rannten die Waffenknechte herein, brüllend befahlen sie, das Gitter herunterzulassen. Die Würfel, mit denen sich die Männer sonst die Zeit vertrieben, flogen zur Seite. Rasselnd und quietschend bewegten sich die Ketten an der Winde, das schwere Gitter aus rostigem Eisen senkte sich herunter und schnitt ihr den Weg ab.

Hinter den Waffenknechten rannten die aufgebrachten Bauern über die Brücke auf die Burg zu. Mit Heugabeln und Dreschflegeln stemmten sie sich gegen das Gitter. Der halbe Herrenhof musste auf den Beinen sein, dachte Anna verblüfft: Männer und Frauen, sogar Kinder rüttelten mit abgearbeiteten Händen am Gitter. Schmutzige Füße ohne Schuhe kletterten die Stangen hoch. Knie unter zerfetzten Beinlingen drückten sich durch die Lücken, tausendmal geflickte und schon wieder eingerissene Kittel. Nackte schmutzige Arme mit Narben von Hundebissen oder Warzen versuchten in den Hof nach den Wachposten zu greifen, die sich erschrocken in das steinerne Torgewölbe zurückgezogen hatten. Unzählige Münder öffneten sich über lückenhaften Zähnen und schrien Verwünschungen: »Schluss mit der Fronarbeit! Wir hungern!«

»Gebt uns unser Land zurück!«

»Da drin ist alles voller Vorräte!« Anna erkannte Lena, die ihr wutverzerrtes Gesicht zwischen die Stangen drückte. »Seine Waffenknechte sind fett und satt, und uns presst er aus!«

Anna starrte so fassungslos hinüber, dass sie kaum spürte, wie der Regen gegen ihren Körper klatschte. Längst klebte das Kleid an ihren Beinen, und das Haar hing strähnig herunter, doch sie fror nicht. Die Wachposten berieten, wie sie Nachricht zum Turnierplatz schicken konnten, aber das Tor war der einzige Weg. Die meisten Bewaffneten wurden unten gebraucht, von den Rittern ganz zu schweigen. Nur wenige Männer gegen eine Herde aufgebrachter Bauern – sie hatten keine Lust, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Enttäuscht beobachtete Anna, dass sie einfach abwarteten und hofften, das Tor würde halten.

Im Hof waren die Frauen aus der Küche und die Handwerker aus ihren Buden gerannt. Unschlüssig standen sie im Regen.

»Verschwindet!«, brüllte einer der Wächter. Er nahm seine Reitpeitsche und schlug auf die vordersten Gaffer ein. »Zurück an eure Arbeit!«

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Als hätten sie nur auf einen Anlass gewartet, fielen die Leute über ihn her. Das war die Gelegenheit zur Flucht! Anna raffte ihre Röcke und rannte mit den anderen zum Torhaus. Philipp, der Schuster, stieß den Wachposten an der Winde weg, und alle zerrten gemeinsam an den Ketten, um das eiserne Gitter hochzuhieven. Die Bauern von draußen halfen mit Gabeln und Stangen nach. Sogar Sebastian warf seine Riesengestalt in die Bresche. Sein schwarzer Bart verzerrte sich, und er spannte seine Muskelmassen an. Langsam und quietschend hob sich das schwere Gitter.

Darunter brachen die hungrigen Bauern brüllend in die Burg ein. Erschrocken wichen die Wachposten zurück. Mit Stangen und Knüppeln und Heugabeln fielen die Menschen über ihre Peiniger her. Tausendmal waren sie von ihnen gedemütigt und misshandelt worden, jetzt machte sich die angestaute Wut Luft.

Rücksichtslos knüppelten sie die Waffenknechte nieder, rannten in Küche und Vorratskammern und warfen alles durchein ander. Handwerkszeug flog aus den Buden, Pfosten wurden umgerissen, und die hölzernen Vorbauten standen schief. Die Verzweiflung gab den Leuten Kraft, sie plünderten die Vorratskammern, schleppten ins Freie, was nicht niet- und nagelfest war. Selbst die alte Gertraut schlug auf einen am Boden liegenden Waffenknecht ein. Anna raffte einen Knüppel auf und drosch ihn dem Mann ins Gesicht, der sie vorhin im Rittersaal bedroht hatte. Der Regen war schwächer geworden. Wind zerrte an ihr und jagte ihr Kälteschauer über den durchnässten Rücken. Die vom Zerren an der Kette aufgeschürften Finger brannten, aber ihre Wangen glühten. Das Gebrüll und die Bauern, die außer Rand und Band auf die Waffenknechte einschlugen, steckten sie an, rissen sie einfach mit. Alles, was sie je an Demütigungen erlebt hatte, brach aus ihr heraus, ihre schrillen Schreie mischten sich in die der anderen.

Überall wieherten Pferde, galoppierten panisch durch den Hof und schnaubten und stiegen. Die Hunde bellten und zerrten an ihren Ketten. Es roch nach ausgelaufenem Met, nach Bier und Wein und Sauerkraut. Überall auf dem Boden verteilte sich das glitschige Kraut aus den zerschlagenen Fässern, und Met und Regen bildeten Pfützen.

Der Hundeführer hatte die drei riesigen zottigen Hunde losgemacht. Knurrend rannten sie auf die Bauern los. Mit Knüppeln setzten sich die Menschen zur Wehr, droschen in ihrer Verzweiflung auf alles ein, was sie anzugreifen schien.

Zwei junge Männer waren in die Schmiede gerannt, um sich mit eisernem Schlagwerkzeug zu versorgen. Anna schrie ihnen eine Warnung nach. Tausendmal hatte ihr Vater ihr eingeschärft, die Glut in der Schmiede immer gut zu bedecken. Das Kleid klebte nass und kalt an ihren Beinen und behinderte sie. Und zu spät – in der Hast hatte einer den Bock mit Schwertern umgerissen, das Gestell stürzte in die Esse.

Sie sah die Funken aufstieben. Unter dem Regendach waren die alten Pfosten und das Flechtwerk trocken wie Zunder. Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie Feuer fingen.

»Feuer!«, schrie Anna. Ihre Stimme überschlug sich. Sie rannte zum Brunnen und versuchte mit aller Kraft den Wassereimer hochzuwinden. Sie dachte an Raoul, der um die Burg kämpfte, dann an Ulrich. Panische Angst überfiel sie plötzlich. Ulrich würde ihnen allen Hände und Füße abhacken lassen, wenn Kaltenberg niederbrannte.

Niemand half ihr. Knechte und Mägde liefen wie orientierungslose Hühner durcheinander. Die meisten rannten einfach nur zum Tor, um sich dort schutzsuchend niederzukauern. Kopflos versuchte jeder die eigene Haut zu retten. Der Regen hatte aufgehört, und der starke, böige Wind fachte die Glut immer weiter an. Über ihnen schlugen Qualm und Flammen aus dem ersten Holzgebäude, die Handwerker retteten ihr Werkzeug aus den Buden, ohne sich um die Burg zu kümmern. Nur einige wenige Frauen sprangen ihr endlich bei, doch ihre Kräfte würden niemals reichen. Der Sturm zerrte an Annas Haar, schwarzer Qualm zeichnete schmierige Streifen auf ihr Gesicht, und sie schwitzte.

Auch aus dem Hauptgebäude kamen die Diener gerannt, hinter ihnen lief die Königin ins Freie, einen Mantel über das Unterkleid geworfen. Mit ihren Damen versuchte sie zwischen den Kämpfenden hindurch das Tor zu erreichen. Die Wachleute erkannten sie und schoben sie ins Freie. Hinter ihnen rannte ein Knecht zum Turnierplatz und brüllte: »Feuer! Die Burg brennt!«

Über ihr qualmten die Holzbauten, der beißende Geruch ließ Anna husten. Sie schlug den Ärmel über Nase und Mund und duckte sich unter einem brennenden Scheit, das vom Dach stürzte. Dunkler Qualm wehte über den Hof und ließ die Bilder undeutlich werden.

Fliehende Pferde galoppierten ziellos durch den Hof, eines raste direkt auf sie zu. Es bemerkte sie, scheute und schleuderte sie zur Seite. Anna blieb die Luft weg. Unter ihren Händen spürte sie die kalte Feuchtigkeit des zerstampften Bodens. Sie schmeckte Blut, wahrscheinlich hatte sie sich auf die Zunge gebissen. Benommen blieb sie liegen.

Ihr wurde klar, dass sie zerstampft würde, wenn sie liegen blieb. Sie musste hochkommen, auch wenn ihr schwindelte und sich alles vor ihren Augen drehte. Stöhnend kam sie auf die Knie. Ihr Kleid war schmutzig, ein glühender Hauch streifte ihr Gesicht, sie roch verbranntes Haar und begriff, dass es ihr eigenes war.

Sie raffte ein Schwert auf, das am Boden lag, und richtete sich auf. Vor ihr stand Ulrich.