Wie von Sinnen war Raoul zur Burg hinaufgaloppiert, nachdem ihm Steffen außer Atem von Annas Verhaftung erzählt hatte. Im Hof herrschte ein wildes Getümmel. Ein paar Diener versuchten mit Wassereimern gegen das Feuer anzukämpfen und bildeten eine Kette. Aber die meisten rannten noch immer kreischend und orientierungslos hin und her. Raoul glitt aus dem Sattel, packte den erstbesten Jungen am Kragen und brüllte: »Wo ist Anna?«
Der Bursche wies auf den Palas. Das Dach hatte schon Feuer gefangen, die dünnen Wände aus Lehm und Flechtwerk und die hölzerne Galerie brannten lichterloh. »Oben im Rittersaal.«
Raoul riss das Schwert hoch und verschaffte sich Platz. Beim Anblick des gepanzerten Ritters im unbekannten rotgoldenen Waffenhemd rannten die Menschen schreiend auseinander. Er kümmerte sich nicht darum, nur die furchtbare Angst, zu spät zu kommen, beherrschte ihn. Er erreichte den Palas, zerrte einen Zipfel seines flatternden Ärmels vor Mund und Nase und kämpfte sich durch Feuer und Qualm die Treppe hinauf.
Unter seinen Füßen schwelten die Bohlen im Oberstock. Flammen züngelten nach dem rotgoldenen Waffenhemd. Die glühende Hitze und der beißende Qualm nahmen ihm den Atem, und er hustete qualvoll. Wie durch ein Wunder war der Rittersaal noch nicht vom Feuer erreicht worden. Aber die Tür stand offen.
Raoul stieß sie mit dem Schwert zur Seite und stand keuchend im Eingang. Der Raum war leer.
In hilfloser Wut schlug er das Schwert gegen die Wand. »An na!«, brüllte er verzweifelt. »Anna!«
Im ersten Moment war Anna erschrocken, als sie Ulrichs schwarzes Waffenhemd bemerkte. Hatte er Raoul überwältigt? Dann fiel ihr ein, dass er sein schwarzweißes Hemd zerrissen hatte. Beim näheren Hinsehen war das, was er jetzt trug, auch nicht schwarz, sondern dunkelbraun – vielleicht ein altes, das er sonst nie benutzte. Das blanke Schwert in der Hand, kam er langsam auf sie zu.
»Bist du vom Turnierplatz geflohen?«, schrie sie ihm durch die tosenden Flammen entgegen. Rechts von ihr brannten schon fast alle Buden, auch die Außentreppe des Palas loderte lichterloh. Über ihr glühte die Galerie, und sie wich bis zur Burgmauer zurück. Starke Düfte nach Met und Kraut schlugen ihr auf die qualmschwere Lunge. Noch immer polterten Fässer über den Hof, beinahe wäre sie über eines gestolpert.
»Raoul kann ich noch früh genug zur Hölle schicken«, erwiderte Ulrich. Seine Stimme klang dumpf, die Nase war geschwollen und blutig. Aber obwohl um sie noch immer Menschen und Tiere in Panik brüllten, obwohl Waffen klirrten und brennende Balken krachten, verstand sie seine Worte deutlich. »Du hast mich vor meinem Gesinde zum Gespött gemacht, und jetzt zerstörst du alles, was ich mir erkämpft habe.«
Sein Gesicht veränderte sich nicht. Aber sie sah den erbarmungslosen Ausdruck in den früher so undurchschaubaren Augen. Anna begriff, dass er sie hier und jetzt töten würde. Auf einmal wurde ihre Kehle eng. Sie hatte Ulrich geliebt, seinetwegen war sie hierher zurückgekommen. Einen Augenblick lang hatte sie das Bedürfnis, auf ihn zuzulaufen und ihn zu bitten, dass alles wieder wie früher wäre. Aber das war unmöglich. Sie liebte Raoul, und selbst wenn Ulrich noch der Mann gewesen wäre, für den sie ihn gehalten hatte, hätte es nichts geändert.
»Wenn du dabei nicht erfolgreicher bist als mit den Carmina, muss ich mir um Raoul keine Sorgen machen«, erwiderte sie. Im Zurückweichen trat sie auf ihr Kleid, es riss mit einem scharfen Geräusch. Verstohlen sah sie über die Schulter. Vielleicht konnte sie Zeit gewinnen und jemand würde ihr zu Hilfe kommen. »Ich habe dich getäuscht, Ulrich: Das, was du bekommen hast, ist ein arabisches Medizinbuch.«
Er kam auf sie zu, und sie hob das Schwert. Der schwere lederumwundene Griff in ihrer Hand gab ihr Sicherheit.
Ulrich lachte und streckte die Hand aus.
Anna erinnerte sich, was Raoul ihr beigebracht hatte. Die linke Hand gibt die Wucht, die rechte lenkt sie. Ihre Finger spielten mit dem schartigen Eisen der Kreuzstange, die vom Feuer warm war. Mit aller Kraft zog sie den Griff herauf und ließ die Klinge nach Ulrichs Gesicht schnellen.
Überrascht taumelte er zurück. Von da, wo die Leute wild durcheinanderrannten, rollte ein Sauerkrautfass auf ihn zu und riss ihm die Beine weg. Brüllend vor Wut torkelte Ulrich zur Wand. In diesem Moment brach die brennende Galerie über ihm zusammen.
Mit einem Schrei fuhr Anna zurück. Glühende Hitze brannte auf ihrer Haut und versengte ihr Haar. Unwillkürlich ließ sie das Schwert fallen und hob die Arme, um ihr Gesicht zu schützen. Die schweren Balken donnerten auf Ulrich herunter und schlugen ihn zu Boden. Dachschindeln stürzten herab, ein Funkenregen ging auf ihn nieder. Es krachte ohrenbetäubend, dann tauchte eine Stichflamme alles in gleißendes Licht und zwang sie wieder zurückzuweichen.
Anna schrie einfach nur ihr Entsetzen heraus. Ihre Stimme überschlug sich, sie starrte auf den brennenden Scheiterhaufen, der Ulrich unter sich begraben hatte. Irgendwo unter den weißglühenden Stämmen war der Umriss eines menschlichen Körpers noch zu erahnen. Aber wenn ihn die Balken nicht erschlagen hatten, gingen seine Schreie im Prasseln und Glosen des Feuers unter. Der Geruch nach verbranntem Fleisch betäubte sie. Niemand konnte ihn aus den Flammen noch befreien.
Die Hitze brachte Anna zu sich. Keuchend fuhr sie sich mit dem Arm über die verschmierte Wange. Sie musste hier weg, sonst würde sie auch verbrennen!
Qualm verdunkelte den dämmrigen Himmel. Nach Luft ringend tastete sie sich vor. Vermutlich war es nur dem regnerischen Wetter zu verdanken, dass der Wald nicht längst lichterloh brannte. Verschwommen sah sie zu ihrer Rechten die Umrisse der Buden. Sie wollte links unter der halb herabgestürzten Galerie zum Brunnen vordringen. Da fiel ein brennender Stützbalken direkt vor ihr quer über den Weg.
Hustend und mit brennenden Augen wich Anna zurück. Ein breites Flammenband trennte sie vom restlichen Hof und dem rettenden Tor. Sie war eingeschlossen.
Außer sich schrie sie um Hilfe. Wie aus der Ferne hörte sie Rufe. Jemand hatte sie bemerkt und wollte zu ihr reiten, aber sein Pferd scheute vor den hoch auflodernden Flammen zurück. In hilfloser Verzweiflung sah sie ihm nach.
Jenseits des glosenden Bandes tauchte schemenhaft ein rotgoldenes Waffenhemd auf.
»Raoul!«, schrie Anna. Ihre Stimme überschlug sich. Wütend entschlossen, sich nicht aufzugeben, lief sie auf das Feuerband zu und versuchte zu ihm zu gelangen.
Die Flammen schlugen hoch, wieder verbrannte ein glühender Hauch ihre Haut. Mit einem Schrei fuhr sie zurück und stürzte. Sie schmeckte Stroh und Erde. Tränen liefen über ihre verschmierten Wangen. Raoul war so nahe, dass sie sich fast berührten, und konnte ihr doch nicht helfen! Ihr ganzer Körper fühlte sich heiß und zerschunden an, und der Qualm erstickte sie fast. Mühsam kam sie wieder hoch.
Der Ritter in Rot und Gold hatte sein Pferd bestiegen. Hinter der flimmernden Hitze des Feuers wirkte der Rappe seltsam unwirklich. Ein trockenes Schluchzen kam aus Annas Kehle. Sie wollte nicht sterben, nicht jetzt, nicht hier, nur wenige Schritte von dem Mann entfernt, den sie liebte!
Raoul ließ das schwere Schlachtross steigen. Die rudernden Hufe beschrieben einen Halbkreis in der Luft und kamen wieder zu Boden. Und dann jagte er es direkt auf sie zu.
Schemenhaft sah Anna, wie sich der Rappe auf die Hinterbeine hob. Die Glut züngelte um die flatternde Mähne. Auf dem Panzer des Reiters schimmerte das Feuer, Lichtreflexe tanzten über das kupferbeschlagene Geschirr. Wie von den Flammen ausgespien, setzte der Hengst durch das Inferno.
Raouls abgekämpftes Gesicht war erhitzt und rußverschmiert, ein Geruch nach versengtem Pferdehaar umgab ihn.
»Du bist ja verrückt!«, schrie sie ihn an. Tränen der Erleichterung liefen ihr übers Gesicht.
Wortlos reichte er ihr den Arm herab und zog sie hinter sich aufs Pferd. Beinahe hätte sie geschrien, so heiß war das Kettenhemd. Die Hitze darunter musste mörderisch sein. Anna presste sich an den zerfetzten rotgoldenen Waffenrock. Raoul drückte ihre Hände fest auf seinen Bauch, um sich zu vergewissern, dass sie sicher saß. Sie fühlte das Blut aus kleineren Schnittwunden, die sicheren Bewegungen seiner Muskeln. Und die vertraute Wärme, die sie nie wieder aufgeben wollte. Die Flammenwand kam auf sie zu, der gelbe Schein wurde heller. Ihre Haut glühte, sie roch versengtes Haar und Stoff. Flammen und Qualm umgaben sie, für einen Moment verschwamm alles im gelben Rauch. Dann schlug ihr kalte Luft entgegen und ließ ihre Lunge schmerzen.