Es dauerte Stunden, bis die schlimmsten Brände auf der Burg gelöscht waren, und selbst danach schwelte es noch. Bis sie wieder bewohnbar gemacht werden konnte, würden Wochen vergehen, vielleicht der ganze Winter. Ulrich hatte alles, was er besaß, in das Turnier gesteckt. Es war für ihn buchstäblich um Leben und Tod gegangen. Beunruhigt machte sich Anna klar, dass er nicht der Einzige war. Der Krieg veränderte die Menschen. Bald würde es viele Männer wie ihn geben, die für Ruhm und Ehre alles opferten – selbst die, die sie liebten.
Während sie Raoul betrachtete, fragte sie sich, ob in jeder Erfüllung auch ein Verzicht lag. Auf das Schwert gestützt, kniete er vor dem Steinkreuz am Weg nahe Kaltenberg. Entfernt erinnerten die trompetenförmigen Balken an das Kreuz der Deutschherren. Hier, wo die Familienfehde durch jenen unseligen Mord ihren Anfang genommen hatte, hatte er seinen Schwur erfüllt: Er hatte das Sühnekreuz aufgestellt. Seine Knechte, die es im Boden verankert hatten, waren zurückgetreten und warteten ernst und schweigsam. Der rotgoldene Waffenrock war noch ungewohnt an ihm. Die warmen Farben gaben seinem dunklen Haar und den Augen einen braunen Glanz. Anna hätte ihn ständig ansehen können. Bald würde sie wieder bei ihm sein, redete sie sich zu, aber es fiel ihr trotzdem unendlich schwer zu gehen.
Nach dem, was geschehen war, wusste sie, dass sie die Carmina an einen sicheren Ort bringen musste. Einen Ort, wo sie nicht zerstört werden konnten. Wenn sie das Buch in der Hand hielt, das einzige seiner Art, begriff sie, wie zerbrechlich Erinnerung war. Bücher waren alles, was noch in Jahrhunderten von ihnen bleiben würde. Aber sie wurden geschrieben von Priestern und Hofchronisten, sie erzählten von Heiligen und Königen. Wenn die Carmina verlorengingen, würde vielleicht niemand je erfahren, was die einfachen Leute bewegt hatte. Also hatte Anna König Ludwig gebeten, die Handschrift nach Benediktbeuern bringen zu dürfen. Dort gab es eine der größten Bibliotheken des Landes. Im Kloster am Rande des Moores würde sie sicher sein, bis ihre Zeit kam.
Raoul kam herüber. Er zog sie an sich und streichelte ihre Wange und ihre Lippen. Das vertraute, tiefe Glücksgefühl ließ sie empfinden, wie kostbar jeder gemeinsame Augenblick war. »Niemand kann uns verbieten, uns zu lieben, nicht wahr?«, fragte sie leise.
Der König hatte ihn als Burgvogt in Kaltenberg eingesetzt, nach dem Tod Hermanns von Rohrbach würde er ihn beerben. Lange würde Raoul nicht warten müssen: Von der Hand Gottes gestreift, dämmerte der Alte auf seiner Stammburg dahin, wo sich Jutha um ihn bemühte. Die wenigen Jahre, die ihm noch blieben, würden Raoul Zeit geben – Zeit, Handwerker anzuwerben, die Burg wieder aufzubauen und die Vergangenheit zu vergessen.
»Vielleicht ist es besser, dass ich einige Zeit weg sein werde«, sagte Anna. Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Stimme schwankte. »Auch wenn mich der König von der Hexerei freigesprochen hat, dein Vater wird Pläne mit dir haben. Es kann eine einfache Frau den Kopf kosten, wenn sie solchen Plänen im Weg steht.« Als Burgvogt konnte Raoul keine ehrlose Gauklerin heiraten. Irgendwann würde er eine standesgemäße Ehe eingehen müssen, und ihr Platz konnte nur im Schatten sein. Sie würde herumziehen und wann immer sie wiederkam, würden sie sich lieben. Auf mehr durfte sie nicht hoffen. Heftig umarmte sie ihn und stieß erstickt hervor: »Schwöre mir, dass ich deine Geliebte bleibe!«
Raoul küsste sie und befreite sich sanft. »Es wird Morgen«, sagte er. »Du musst aufbrechen.«
Anna schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Insgeheim hatte sie bis zuletzt gehofft, dass er sie bitten würde zu bleiben. Sie sah über die abgeernteten Felder, hinter denen sich die Burg erhob. Was auch geschah, dieser Ort würde immer ihr Zuhause bleiben. Rotgolden hob sich der Waldrand von den reifüberzogenen Wiesen ab. Das erste Sonnenlicht brach durch den zarten Morgendunst und glitzerte auf dem frostig überhauchten Boden. Tränen stiegen ihr in die Augen. Wenn sie jetzt nicht ging, würde sie es nicht mehr fertigbringen. Anna wollte an Raoul vorbei, doch er hielt sie mit dem ausgestreckten Arm zurück.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich dich allein gehen lasse.«
Überrascht blieb sie stehen. Seine Lippen zuckten unmerklich. »Ich werde mich den Äbten vorstellen müssen, mit denen ich in Zukunft verkehre. Und ich kann damit ebenso gut in Benediktbeuern anfangen wie sonst irgendwo.«
Verwirrt versuchte sie, in seinem Gesicht zu lesen. Er hatte ihr noch mehr zu sagen. Raoul hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen.
»Hast du nicht begriffen?«, fragte er ernst. »Ich werde nicht zulassen, dass die Frau, die ich liebe, eine Hure genannt wird. Unsere Kinder sollen nicht als Bastarde aufwachsen.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er nahm ihre Hände und legte sie auf seine Brust. »Das ist ein Eheversprechen.«
Einen unendlichen Augenblick lang spürte sie nur das Pochen seines Herzens unter ihren Fingern. Dann kam die alte Angst wieder.
»Und was sagt dein Vater dazu? Wenn du mich gegen seinen Willen heiratest, kannst du alles verlieren.«
Raoul legte ihr den Finger auf die Lippen. Ohne sich um seine Knechte zu kümmern, die sich grinsend anstießen, zog er sie an sich. »König Ludwig weiß, was du für ihn getan hast, und ich werde dafür sorgen, dass er nicht darüber hinweggeht. Und falls doch …«, sagte er mit dieser Stimme, die sie von Anfang an gefesselt hatte. »Man könnte mir die ganze Welt anbieten. Aber ohne dich an meiner Seite wäre sie wertlos für mich.«
Annas Lippen zitterten. Sie schloss die Augen und küsste ihn. Ein Schauer überlief ihn. Und als er ihre Küsse heftig erwiderte, wusste sie, dass er es ernst gemeint hatte: Wenn es ihm nicht gelang, seinen Vater zu überzeugen, würde er seine Burg aufgeben. Für sie. Mit geschlossenen Augen spürte sie seinen Händen auf ihrem Körper nach, die sie festhielten.
Irgendwann wollte er zu seinem Pferd, aber sie schüttelte den Kopf und wies auf das Sühnekreuz.
Noch warfen die Wolken am goldroten Himmel ihre Schatten darauf, und es hob sich kaum aus der Landschaft. Bei Nebel und Dunkelheit würde man es nur schwer sehen können. Die Jahreszeiten würden darüber hinwegziehen. Der Stein würde löchrig werden, Wind und Stürme die Ränder abschleifen. Aber noch in Jahrhunderten würde es unverrückbar hier stehen und bezeugen, wie unabwägbar das Schicksal war.
Annas und Raouls Hände verschränkten sich ineinander. Sie wusste nicht, wohin dieses Schicksal sie tragen würde. Aber ganz gleich was es für sie bereithielt, Raoul würde bei ihr sein. Ob sie hier in Kaltenberg leben würden oder auf den Straßen, an den Höfen der Fürsten oder in erbärmlichen Dörfern: Sie würde ihre Freude weitergeben, jeden Augenblick zu genießen. Und die Worte, die sie über die Berge gebracht hatte, würden sie ihr Leben lang begleiten – in eine Zukunft, die in der Dämmerung des anbrechenden Morgens nur zu ahnen war:
O fortuna velut luna statu variabilis.