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eine Knöchel taten bereits weh, doch ich unterdrückte diese körperliche Schwäche. Ich benutzte heute keine Handschuhe. Nur das dünne Band um meine Gelenke schützte meine Haut an den Fingern. Seit sechs Monaten wohnte ich schon in dieser fremden Stadt und kam regelmäßig in den Boxclub. Meistens zu Uhrzeiten, in denen wenig Betrieb herrschte. Ich musste mich unbedingt auspowern oder viel mehr meinen Frust loswerden.
Obwohl meine Kleidung bereits an mir klebte, bekam ich nicht genug. Es reichte diesmal einfach nicht aus. Ich hörte meine Pantera-Playlist zu Ende und erst dann stoppte ich normalerweise den Boxsack, auf den ich einprügelte, um ihn für meinen Unmut zu bestrafen. Allerdings lief heute die Playlist ein weiteres Mal von vorne. Diese Woche war wirklich anstrengend.
Mit jedem Schlag beruhigte ich mich innerlich ein wenig mehr.
Nachdem das letzte Lied geendet hatte, setzte ich mich kurz auf die Bank neben dem Boxsack, um etwas zu trinken und mir mit dem Handtuch den Schweiß vom Körper zu wischen.
Kurz danach stand ich auf.
Das Zucken meiner Glieder signalisierte mir, dass ich eine heiße Dusche brauchte, um die Muskeln zu entspannen und um meinen Puls herunterfahren zu lassen. Mit der Sporttasche in der Hand ging ich in die Umkleidekabine. Eine Unisex-Sammelkabine, genauer gesagt. Das störte mich nicht, denn meistens war ich allein. Falls doch einer auftauchte, ignorierte ich die Männer einfach.
Ich legte die Tasche auf einer Bank ab, suchte mir ein großes Handtuch heraus und stellte mich anschließend unter eine der Brausen, die an der Wand befestigt waren. Gerade nach dem Sport war es besonders schön, wie das heiße Wasser auf meinen gereizten Körper prallte und die Anspannung gemeinsam mit dem dampfenden Nass im Abfluss verschwand.
Bloß mit einem Handtuch um meinen Körper gewickelt betrat ich die Umkleidekabine und suchte umgehend meine Klamotten heraus.
In dem Moment, als ich meine Haare abtrocknete, um sie hochzubinden, klingelte mein Handy. Ich nahm den Anruf entgegen und schaltete direkt auf Lautsprecher, damit ich das Handy auf die Ablage unter einem Spiegel legen und mich weiter um meinen nackten Körper kümmern konnte.
»Jenny! Wo bist du? Was machst du und wer ist bei dir?« Alex, meine Kollegin. Es war Freitag und wie immer versuchte sie, mich zu überzeugen, etwas mit ihr zu unternehmen.
»Ähm, ich trockne mich gerade allein in einer Umkleidekabine ab, reicht dir das?«
»Nicht annähernd. Was hast du heute Abend vor? «
Ich wusste es doch!,
bestätigte ich mich im Geiste.
Während wir sprachen, holte ich das Körperöl aus der Tasche und rieb meine Haut ein, ohne mein Handtuch abzulegen.
»Ich hatte nicht vor, mit dir um die Häuser zu ziehen.«
»Doch! Komm schon. Du kannst doch nicht wie ein Einsiedler leben. Du bist jung und hübsch. Also werden wir die Stadt unsicher machen …«, schrie sie schon euphorisch durch das Telefon.
Konnte ich, war ich und was das Letzte anging, fehlte mir das Interesse
, dachte ich unbeeindruckt.
»Nein«, sagte ich nur trocken.
»Doch, du kommst aus deinem Schneckenhaus. Nur heute Abend!«
Nein, niemand hier in Chicago wollte, dass ich aus meinem Schneckenhaus herauskam.
Das wäre weder für sie noch für mich gut. Eigentlich für niemanden. Noch immer fühlte ich mich unwohl. In der Regel mied ich alle, was mir sehr leichtfiel, denn ich hasste Menschen. Für mich gab es nur diejenigen, die ich mit meinem Leben beschützen würde und die anderen. Und die anderen waren mir egal. Ich hielt mich von ihnen fern. Hier in Chicago gab es für mich nur Jeff. Meinen besten Freund. Der Grund, warum ich überhaupt hier war und nicht in meiner Heimat Detroit.
»Dann nerve ich dich auch nie wieder«, ergänzte sie, als ich nicht antwortete.
War es das wert? Ruhe brauchte ich immerhin dringend. Ein Abend mit der quirligen Alex und danach wäre der Spuk vorbei?
»Du fragst mich dann auch nie wieder?«, fragte ich sicherheitshalber noch mal nach.
»Ja, nie wieder! Versprochen!«
»Ok«, willigte ich schließlich ein. Eigentlich seufzte ich mehr.
Normalerweise hätte ich hundert Ausreden verwenden können. Wenn es jedoch nur ein Abend war, würde ich den für die kommenden Jahre wohl opfern. Ich würde es schaffen. Die letzten sechs Monate nervte mich diese Person jetzt schon. Jeden verfluchten Freitag. Ein Abend mit ihr und ich hätte endlich meine Ruhe. Falls ich die Zeit umsonst verschwenden sollte, würde das kleine Püppchen mit der Figur einer Stange Sellerie ein großes Problem bekommen. Jeffs Regeln hin oder her.
Ich suchte meinen Slip aus der Tasche heraus, zog diesen und gleich danach meinen BH an. Anschließend stopfte ich mein Handtuch, welches kurz zuvor noch meinen Körper bedeckt hatte, in meine Tasche.
»Toll! Aber sag gleich nichts den Männern.«
Sie meinte unsere Kollegen, die wirklich widerliche Idioten waren und uns bei jeder Schicht anmachten. Keinen einzigen Tag wurden wir von ihren billigen Sprüchen verschont. Diese Typen warteten auf eine Chance, die sie nie bekommen würden.
»Sicher.«
Ohnehin sprach ich nur mit denen, wenn mir nichts anderes übrigblieb. Außerdem war ich auch kein geselliger Mensch.
»Wo geht es denn hin?«, fragte ich, obwohl es mich nicht wirklich interessierte.
»Ich weiß es noch nicht, Jenny. Ich lasse mir etwas einfallen«, lachte sie.
Während sie mich mit ihrer nervigen, piepsigen Frauenstimme folterte, die sich anfühlte wie ein stöhnender Keilriemen an einem frühen Montagmorgen, griff ich gleichzeitig nach meinem weißen Top und meiner Jeans und schlüpfte in diese. »Dann sehen wir uns gleich im Restaurant.«
»Ja, bis gleich.« Sie legte auf. Ich verstaute das Handy und alles andere von mir in der Tasche. Danach zog ich noch schnell die Schuhe an.
Alex war ganz nett. Ihre Stimme konnte man allerdings nur schwer ertragen. Ich kannte es nicht, Kontakt mit einer Frau zu haben, die immer so schrecklich quietschte. Selten hatte ich früher mit Frauen zu tun, nur mit Männern. Wenn ich mit Frauen zusammenarbeitete, hatten sie eigentlich meist einen lustigen oder interessanten Akzent, der mich die hohe Stimme vergessen ließ.
Als ich meine Sporttasche nahm und zum Ausgang umdrehte, standen zwei Typen direkt an der Tür und beobachteten mich mit einem Grinsen. Es war klar, wie sehr ihnen gefiel, was sie sahen. Sie verloren kein Wort, sondern glotzen mit lüsternen Blicken. Ich schaute auf den Boden, ignorierte sie und trat an ihnen vorbei.
»Nicht schlecht!«, meinte einer der beiden grunzend.
Schön. Wieder so ein Mann, der das Offensichtliche laut aussprach, als hätte ich noch nie in einen Spiegel gesehen
, dachte ich mir meinen Teil.
Ohne einen Kommentar verschwand ich aus dem Club.
Nie sprach ich mit den Männern aus dem Boxclub, vielmehr ignorierte ich sie durchgehend. Mir war durchaus bewusst, welche Wirkung ich auf sie hatte. Schließlich besaß ich Brüste, die groß genug waren, um deren Aufmerksamkeit zu bekommen. Im Gegensatz zu den vielen anderen Frauen, die Sportclubs besuchten, besaß ich zudem einen Hintern. Auch wenn ich Männer mochte, diese schmierigen Typen interessierten mich einfach nicht.
Mit schnellen Schritten und der Tasche auf meiner Schulter ging ich die Straße zu dem Restaurant runter, in dem ich als Kellnerin arbeitete. Alex war natürlich noch nicht da, als ich den Raum mit unseren Spinden erreicht hatte. Immer kam sie zu spät. Mindestens zwanzig Minuten, aber keinen schien es zu scheren.
Ich zog meine Arbeitskleidung, bestehend aus schwarzer Hose und weißer Bluse, an und flocht mir die langen braunen Haare zu einem Zopf, damit nicht auffiel, wie feucht sie noch waren. Schnell legte ich Make-up und ein wenig Lippenstift auf, um mein übermüdetes Aussehen zu verstecken.
Seit ich in Chicago wohnte, konnte ich nicht mehr richtig schlafen. Ich wusste nicht, woran es lag. Vielleicht, weil ich mich einfach unwohl fühlte und meine Heimat vermisste. Oder weil es mich einfach schaffte, dass ich nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte. Alles um mich herum nervte. Das hier war nicht mein Leben.
Ich tat es für Jeff. Wir wollten einander nicht verlieren. Wir hatten nur noch uns. Wir waren eine Familie. Auch, wenn er geheiratet hatte und mittlerweile als erfolgreicher Staatsanwalt arbeitete. Allein das war schon ein Grund für ihn, mich trotz jahrelanger Gegenwehr hierherzuholen. Letztlich war mein kleiner Ausraster schuld daran, dass er mich eingesammelt, hierhergebracht und mich davon überzeugt hatte, endlich einen Neuanfang zu starten. Natürlich als die liebe Jenny.
Er stellte sich auch etwas an. Mein bester Freund kannte mich besser als jeder andere. Jeff hätte sich doch denken können, dass es brutal enden würde, wenn ich meinen Ex wiedertraf. Obwohl – meinen Ex hatte ich ja nicht einmal erwischt. Dafür aber seine Leute.
Jeff wusste auch als einziger, was dieser Mistkerl mir angetan hatte. Dennoch wollte er nicht, dass meine Rachsucht die Oberhand erlangte. Eigentlich zeigte das nur, wie schwach er wirklich war. Aber ich konnte mich auch nicht von ihm trennen.
Er und ich waren wie Yin und Yang.
Gegensätze, die zueinander gehörten.
Diesen Vergleich hatte Jeff vor vielen Jahren gemacht.
Ich hatte für diesen Gedanken noch nie viel übriggehabt. Doch genau das passte eben perfekt zu uns.
Als wir volljährig geworden waren, hatten wir uns dieses Zeichen sogar tätowieren lassen. Ich wusste noch, wie wehleidig Jeff gewesen war, als der schmierige Typ ihm das schwarze Yin unterhalb der Achselhöhle gestochen hatte. Eine wirklich blöde Stelle. Ihm war es allerdings wichtig gewesen, dass es niemand sah. Denn seiner Meinung nach waren nur Verbrecher tätowiert. Das entsprechende Yang ließ ich mir über den rechten Handknöchel stechen.
Alles, was mein Leben ausmachte, drehte sich um Jeff.
Der Umzug von Detroit in das nette Chicago, was für mich eine Qual war. Die Jenny zu spielen, die er gerne hätte. Und der Arbeit nachzukommen, die er für mich wählte.
Was für ein verfluchter Misthaufen.
Und doch konnte ich nicht mehr zurück.
Ich musste mich entscheiden.
Wie immer wählte ich den Mittelpunkt meines Lebens: Jeff; meinen besten Freund, meinen Bruder.