Then I buckled up my shoes,

And I started.

Er wusste, ohne zu wissen, wie es passiert war, dass er auf dem Boden lag, auf dem staubigen Boden vor dem Altar, den Elisha und er sauber gemacht hatten; und er wusste, dass über ihm das gelbe Licht brannte, das er selbst angeknipst hatte. Staub steckte ihm in der Nase, stechend und beißend, und die Füße der Gläubigen, die den Boden unter ihm zum Beben brachten, wirbelten kleine Staubwolken auf, die ihm die Zunge belegten. Er hörte ihre Rufe, so weit weg, so hoch über sich – so hoch könnte er niemals aufsteigen. Er war wie ein Fels, der Körper eines Toten, ein sterbender Vogel, aus entsetzlicher Höhe herabgefallen; wie etwas, das von sich aus nicht mehr die Kraft besaß, sich zu wenden.

Und etwas regte sich in Johns Körper, das nicht John war. Etwas war in ihn eingedrungen, hatte ihn entwürdigt und besetzt. Diese Kraft hatte John in den Kopf oder ins Herz getroffen und auf einen Streich, indem sie ihn ganz und gar mit einer Qual erfüllte, die er sich niemals hätte vorstellen können und sicher nicht aushalten und selbst jetzt noch nicht fassen konnte, geöffnet, mittendurch aufgeknackt wie Holz unter einer Axt, wie brechendes Gestein; hatte ihn auf einen Streich mitgerissen und hingestreckt, sodass John nicht die Wunde spürte, sondern nur den Schmerz, nicht den Fall, sondern nur die Furcht. Und so lag er nun da, hilflos, schreiend, am Grund der Finsternis.

Er wollte aufstehen – eine hämische Stimme verlangte, er solle aufstehen – und zugleich wollte er dieses Gotteshaus verlassen und hinausgehen in die Welt.

Er wollte der Stimme gehorchen, der einzigen Stimme, die zu ihm sprach, er wollte ihr versichern, dass er schon aufstehen werde und nur noch einen Moment liegen bleiben nach diesem fürchterlichen Fall, um Atem zu schöpfen. Da merkte er, dass er gar nicht aufstehen konnte, etwas war mit seinen Armen, mit seinen Beinen, mit seinen Füßen passiert – etwas war mit John passiert! Er schrie erneut auf vor Schreck und Bestürzung und spürte dann, wie er sich doch bewegte – nicht hinauf, zum Licht, sondern weiter hinab, dass ihm schlecht wurde im Gedärm und seine Lenden sich verkrampften; er spürte, wie er sich über den staubigen Boden wälzte, immer und immer wieder, wie angestupst von Gottes Zeh. Vom Staub musste er husten und würgen; während er sich wälzte, geriet die Erde ins Wanken, wurde aus dem All das schiere Nichts, wurden Ordnung, Gleichgewicht und Zeit zum Hohn. Nichts blieb: Alles wurde von Chaos verschluckt. Und: War es das?, wollte Johns verängstigte Seele wissen – Was ist das? –, aber vergebens, er blieb ohne Antwort. Allein die hämische Stimme verlangte erneut, dass er sich von dem dreckigen Boden erhebe, wenn er nicht werden wolle wie all die anderen Nigger.

Einen Augenblick ließen die Qualen nach, so wie Wasser sich kurz zurückzieht, um erneut auf den Felsen aufzuschlagen: Er wusste, dass sie nur nachließen, um zurückzukehren. Mit dem Gesicht zum staubigen Boden hustete und schluchzte er vor dem Altar. Und noch immer ging es abwärts, weiter und weiter weg von der Freude, dem Gesang, dem Licht über ihm.

Er bemühte sich so verzweifelt, den Augenblick vor dem Fall, vor seiner Verwandlung zurückzurufen – die tiefe Finsternis bietet keinen Ausgangspunkt, hat keinen Anfang und kein Ende –, ihn gleichsam einzufangen und festzuhalten in seiner Hand. Doch auch dieser Augenblick war in der Finsternis verschlossen, war stumm und zeigte sich nicht. John erinnerte sich nur an das Kreuz: Er hatte sich wieder umgedreht, um vor dem Altar zu knien, mit dem Gesicht zum goldenen Kreuz. Und der Heilige Geist sprach – schien zu sagen, als John die plötzlich riesengroße Inschrift auf dem Kreuz entzifferte: Jesus rettet. Voller Bitterkeit und dem Bedürfnis zu fluchen hatte er sie angestarrt – und da hatte der Geist gesprochen, in ihm gesprochen. Ja: Elisha hatte vom Boden aus geredet, und sein Vater hatte stumm hinter ihm gestanden. Eine zarte Sehnsucht nach dem heiligen Elisha hatte sich in seinem Herzen geregt, das Verlangen, scharf und gefährlich wie ein blitzendes Messer, sich Elishas Körper zu bemächtigen, dort zu liegen, wo Elisha lag, in Zungen zu reden wie Elisha und mit derselben Kraft, um seinen Vater zu bestürzen. Aber auch das war nicht der Augenblick gewesen, er kam nur nicht weiter in seiner Erinnerung; das Geheimnis, die Wende, der bodenlose Fall lagen weiter zurück, in der Finsternis. Als er seinen Vater verflucht hatte und Elisha zu lieben begann, selbst da hatte er geweint, selbst da war der Augenblick bereits verstrichen, stand er bereits im Bann, war gefällt worden und fiel hinab.

Ah, hinab! – aber warum, wohin? Auf den Grund des Meeres, in den Schoß der Erde, ins Herz des glühenden Ofens? In einen Kerker unter der Hölle, in einen Wahnsinn lauter als das Grab? Welcher Posaunenschall würde ihn wecken, welche Hand würde ihn aufheben? Als er nochmals getroffen wurde und nochmals schrie aus einer Kehle wie brennende Asche, als er sich nochmals wälzte und sein Körper an ihm hing wie eine nutzlose Last, ein schwerer, verwesender Kadaver, da wusste er: Wenn er nicht aufgehoben wurde, käme er niemals hoch.

Sein Vater, seine Mutter, seine Tante, Elisha – alle waren hoch über ihm, warteten und beobachteten seine Qualen im Abgrund. Sie beugten sich über das goldene Geländer, hinter ihnen Gesang, um sie herum Licht, mit Tränen vielleicht für John, der so früh schon gefällt war. Sie konnten ihm nicht mehr helfen – nichts konnte ihm jetzt noch helfen. Er kämpfte, kämpfte darum, aufzustehen und ihnen zu begegnen – er wünschte sich Flügel, um hinaufzufliegen und ihnen am Morgen zu begegnen, jenem Morgen, in dem sie standen. Doch dadurch kämpfte er sich nur noch weiter hinab, seine Schreie drangen nicht nach oben, sondern hallten in seinem Schädel wider.

Aber er wusste, dass sie da waren, obwohl er kaum ihre Gesichter sah. Er spürte, wie sie sich bewegten, jede Bewegung erzeugte ein Zittern, ein Staunen, einen Schrecken im Herzen der Finsternis, in der er lag. Er konnte nicht erkennen, ob sie ihn so leidenschaftlich bei sich haben wollten, wie er hinauf wollte. Vielleicht halfen sie ihm nicht, weil es ihnen egal war – weil sie ihn nicht liebten.

Da kehrte sein Vater zu ihm zurück, zu John in seinen neuen, niederen Zustand, und John dachte, aber nur ganz kurz, sein Vater sei gekommen, um ihm zu helfen. In der Stille dann, die das Nichts ausfüllte, sah John seinen Vater an. Das Gesicht seines Vaters war schwarz – wie die traurige ewige Nacht; doch darin loderte ein Feuer – ein ewiges Feuer in einer ewigen Nacht. John zitterte, weil das Feuer ihn nicht wärmte, er zitterte und konnte seinen Blick nicht abwenden. Ein Wind zog über ihn und sagte: »Alle, die die Lüge lieben und tun.« Nun das: »Alle, die die Lüge lieben und tun.« Und John wusste, dass er aus der heiligen, der jauchzenden, der mit Blut reingewaschenen Gemeinde ausgestoßen war, dass sein Vater ihn ausgestoßen hatte. Seines Vaters Wille war stärker als Johns. Seine Macht war größer, weil er zu Gott gehörte. Jetzt empfand John keinen Hass mehr, nichts, nur eine bittere, fassungslose Verzweiflung: Alle Prophezeiungen bewahrheiteten sich, die Erlösung war dahin, die Verdammung war wirklich!

Dann ist der Tod auch wirklich, sagte Johns Seele, und der Tod hat seine Sternstunde.

»Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben.«

Dann sprach die hämische Stimme wieder: »Aufstehen, John. Steh auf, Junge. Lass dich nicht unterkriegen. Du hast alles, was dein Daddy auch hat.«

John versuchte zu lachen – er meinte zu lachen –, merkte dann aber, dass sein Mund voll Salz, dass seine Ohren mit brennendem Wasser gefüllt waren. Was auch immer in seinem entrückten Körper geschah, er konnte es weder ändern noch aufhalten; sein Brustkorb hob und senkte sich schwer, sein Lachen stieg auf und blubberte vor seinem Mund wie Blut.

Und sein Vater blickte auf ihn. Seines Vaters Augen blickten auf ihn herab, und John fing an zu schreien. Seines Vaters Augen zogen ihn nackt aus und betrachteten, was sie sahen, mit Abscheu. Als er sich erneut schreiend im Staub wälzte und seines Vaters Augen zu entkommen versuchte, diesen Augen, diesem Gesicht, allen Gesichtern und dem fernen gelben Licht, entzog sich alles seinem Blickfeld, als wäre er blind geworden. Es ging wieder hinab. Die Finsternis, schrie seine Seele laut, hat keinen Grund!

Er wusste nicht, wo er war. Überall herrschte Stille – bis auf ein beständiges fernes, leises Beben unter ihm, das Prasseln vielleicht der Höllenfeuer, über denen er hing, oder das beharrliche, noch unbezwingbare Echo der stampfenden Schritte der Gläubigen. Er sehnte sich nach dem Berggipfel, auf dem die Sonne ihn bedecken würde wie Goldbrokat, seinen Kopf bedecken würde wie eine Feuerkrone, und in seinen Händen hielte er einen lebendigen Stab. Aber wo John lag, war kein Berg, hier, kein Gewand, keine Krone. Und der lebendige Stab lag in anderen Händen.

»Ich werde die Sünde aus ihm herausprügeln. Ich werd sie ihm ausprügeln.«

Ja, er hatte gesündigt, und sein Vater suchte nach ihm. John gab keinen Laut von sich und regte sich nicht in der Hoffnung, sein Vater möge an ihm vorübergehen.

»Lass ihn. Lass ihn in Ruhe. Lass ihn zum Herrn beten.«

»Ja, Mama. Ich bemühe mich, den Herrn zu lieben.«

»Er ist irgendwohin weggelaufen. Ich werde ihn finden. Ich werd sie ihm ausprügeln, die Sünde.«

Ja, er hatte gesündigt, eines Morgens allein im schmutzigen Badezimmer, in dem schmutzgrauen quadratischen Kabuff, das nach seinem Vater stank. Manchmal schrubbte er, über die gesprungene schmuddelgraue Badewanne gebeugt, seinem Vater den Rücken und blickte wie der verfluchte Sohn Noahs auf die abscheuliche Blöße seines Vaters. Sie war verborgen wie die Sünde, schleimig wie die Schlange und schwer wie der lebendige Stab. In diesen Momenten hasste er seinen Vater und wünschte sich die Kraft, ihn niederzustrecken.

Lag er deswegen hier heute Nacht, ausgeschlossen von jeder menschlichen und himmlischen Hilfe? War nicht die andere, sondern dies seine Todsünde, auf die Blöße seines Vaters geblickt und ihn in seinem Herzen verhöhnt und verflucht zu haben? Ach, Noahs Sohn war verflucht worden bis zur heutigen klagenden Generation: Er sei ein Knecht aller Knechte unter seinen Brüdern.

Da fragte die hämische Stimme, die sich vor nichts zu fürchten schien, nicht vor Abgrund noch Finsternis, verächtlich, ob er sich tatsächlich für verflucht halte. Alle Nigger seien verflucht, erinnerte ihn die hämische Stimme, alle Nigger stammten von diesem ungehorsamsten aller Söhne Noahs ab. Wie könne John dafür verflucht sein, in einer Badewanne etwas gesehen zu haben, was ein anderer Mann – wenn es diesen anderen Mann denn je gegeben hatte – vor zehntausend Jahren offen in einem Zelt gesehen hatte? Wurde ein Fluch über so viele Alter weitergetragen? Lebte er in der Zeit oder im Augenblick? John hatte keine Antwort für diese Stimme, denn er befand sich im Augenblick und außerhalb der Zeit.

Sein Vater erschien. »Ich werde die Sünde aus ihm herausprügeln. Ich werd sie ihm ausprügeln.« Die Finsternis bebte und heulte, als die Schritte seines Vaters näher kamen, Schritte, die widerhallten wie jene Gottes im Garten Eden auf der Suche nach Adam und Eva, nachdem sie sich bedeckt hatten. Dann stand sein Vater über ihm und blickte herab. Da wusste John, dass ein Fluch stets erneuert wird, von Augenblick zu Augenblick, von Vater zu Sohn. Die Zeit war gleichgültig wie Schnee und Eis, doch das Herz, irrer Wanderer in der treibenden Wüste, barg den Fluch ewig.

»John«, sagte sein Vater, »komm mit.«

Und sie gingen auf einer schnurgeraden Straße, in einer engen, engen Gasse. Sie gingen seit vielen Tagen. Die Straße erstreckte sich vor ihnen, lang und still, immer weiter, weißer als Schnee. Niemand war auf der Straße, und John hatte Angst. Die Häuser in dieser Straße, so nah, dass John sie zu beiden Seiten berühren konnte, waren schmal und stachen wie Speere in den Himmel, und sie waren aus gehämmertem Gold und Silber. John wusste, dass diese Häuser nicht für ihn da waren – heute nicht – nein, auch nicht morgen! Dann sah er eine Frau, eine alte schwarze Frau die gerade, stille Straße hinaufkommen, über das bucklige Pflaster wanken. Sie war betrunken und schmutzig und sehr alt, und ihr Mund war größer als der Mund seiner Mutter oder sein eigener; ihr Mund war schlaff und feucht, und John hatte noch nie einen so schwarzen Menschen gesehen. Sein Vater war erstaunt über ihren Anblick und außer sich vor Wut, aber John war froh. Er klatschte in die Hände und rief: »Sie! Sie ist hässlicher als Mama! Sie ist hässlicher als ich!«

Und sein Vater sagte: »Du bist wohl mächtig stolz darauf, der Sohn des Teufels zu sein.«

Aber John hörte nicht auf seinen Vater. Er sah der Frau nach. Da packte sein Vater ihn am Arm.

»Siehst du das? Das ist die Sünde. So was läuft des Teufels Sohn hinterher.«

»Und wessen Sohn bist du?«, fragte John.

Sein Vater ohrfeigte ihn. John lachte und wich zurück.

»Ich hab es gesehen. Ich hab es gesehen. Ich bin nicht umsonst der Sohn des Teufels.«

Sein Vater griff nach ihm, aber John war schneller. Rückwärts ging er durch die glänzende Straße, den Vater im Blick – seinen Vater, der mit wütend ausgestrecktem Arm auf ihn zukam.

»Und ich hab dich gehört – die ganze Nacht. Ich weiß, was du im Dunkeln treibst, schwarzer Mann, wenn du glaubst, dass der Sohn des Teufels schläft. Ich hab dich röcheln hören, stöhnen und würgen – und ich sehe dich reiten, auf und nieder, rein und raus. Ich bin nicht umsonst der Sohn des Teufels.«

Die lauschenden Häuser, die immer höher strebten, neigten sich und schlossen den Himmel aus. John geriet ins Rutschen, er hatte Tränen und Schweiß in den Augen; noch immer rückwärts vor seinem Vater weichend, blickte er sich nach Rettung um, aber in dieser Straße gab es für ihn keine Rettung.

»Und ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich pfeif auf deine goldene Krone. Ich pfeif auf dein langes weißes Gewand. Ich hab dich gesehen unter deinem Gewand, ich hab dich gesehen!«

Dann war sein Vater bei ihm; als er ihn packte, kam Gesang, kam Feuer. John lag in der engen Straße auf dem Rücken und sah zu seinem Vater hinauf, in das lodernde Gesicht unter den lodernden Türmen.

»Ich werd sie aus dir rausprügeln. Ich prügel die Sünde aus dir raus.«

Sein Vater hob die Hand. Das Messer ging nieder. John rollte sich weg, die abschüssige weiße Straße hinunter, und schrie: »Vater! Vater!«

Das waren seine ersten Worte. Darauf herrschte Stille, und sein Vater war weg. Wieder spürte John die Gläubigen über sich – und er hatte Staub im Mund. Irgendwo war Gesang, weit weg, über ihm, langsamer, trauervoller Gesang. Er lag still da, unerträglich zerschlagen, Salz trocknete auf seinem Gesicht, und in ihm war nichts mehr, keine Lust, keine Angst, keine Scham, keine Hoffnung. Und doch wusste er, dass dies alles wiederkommen würde – die Finsternis war voller lauernder Dämonen, die nur darauf warteten, ihm erneut mit ihren Zähnen zu Leibe zu rücken.

Then I looked in the grave and I wondered.

Ah, hinab! – was suchte er dort, ganz allein in der Finsternis? Immerhin wusste er jetzt, da die Häme ihn verlassen hatte, dass er etwas suchte, etwas, das in der Finsternis verborgen war, das gefunden werden musste. Er würde sterben, wenn es nicht gefunden wurde, oder war schon tot und würde sich nie wieder mit den Lebenden verbinden.

And the grave looked so sad and lonesome.

In der Grabkammer, in der er jetzt umherirrte – er wusste, dass es das Grab war, so kalt und still war es, und er ging durch eisigen Nebel –, fand er seine Mutter und seinen Vater, seine Mutter in Purpurrot und seinen Vater in Weiß. Sie sahen ihn nicht: Sie blickten nach hinten, über die Schulter, auf eine Wolke von Zeugen. Seine Tante Florence war da mit blitzenden Silber- und Goldringen an den Fingern und baumelnden Messingohrringen, und da war noch eine Frau, die Frau seines Vaters, nahm er an, Deborah – die, wie er einmal geglaubt hatte, ihm so viel zu erzählen hätte. Als Einzige in der ganzen Gesellschaft sah sie ihn an und bedeutete ihm, im Grab werde nicht geredet. Er war dort ein Fremder – sie sahen ihn nicht vorübergehen, sie wussten nicht, wonach er suchte, sie konnten ihm bei seiner Suche nicht helfen. Er wollte Elisha finden, der ihn vielleicht verstand, der ihm helfen würde – aber Elisha war nicht da. Roy war da: Auch Roy hätte ihm vielleicht geholfen, aber er war mit einem Messer erstochen worden und lag nun, braun und stumm, zu Füßen seines Vaters.

Da stiegen in Johns Seele die Wasser der Verzweiflung an. Die Liebe ist stark wie der Tod, tief wie das Grab. Aber die Liebe, die vielleicht wie eine gutmütige Monarchin die Bevölkerung des Nachbarreichs Tod hatte anschwellen lassen, war nicht selbst hinabgestiegen: Hier hatte sie keine Gefolgschaft. Hier gab es weder Rede noch Sprache, und es gab keine Liebe, niemanden, der sagte: Du bist schön, John, niemanden, der ihm welche Sünde auch immer vergab, niemanden, der ihn heilte, niemanden, der ihn erhob. Niemanden: Vater und Mutter blickten nach hinten, Roy lag in seinem Blut, Elisha war nicht da.

Dann begann die Finsternis zu raunen – ein schreckliches Geräusch –, und rauschte John in den Ohren. In diesem Raunen, das das Grab erfüllte wie tausend Flügelschläge, erkannte er ein Geräusch, das er immer schon gehört hatte. Vor Angst und Schrecken fing er an zu weinen und zu stöhnen – und das Geräusch wurde verschluckt und doch verstärkt durch den Widerhall in der Finsternis.

Dieses Geräusch begleitete John, so schien ihm jetzt, seit seinem ersten Atemzug. Überall hörte er es, in Gebeten und im Alltag, überall dort, wo die Gemeinde zusammenkam, und in den ungläubigen Straßen. Es steckte im Zorn seines Vaters und in der ruhigen Beharrlichkeit seiner Mutter und im leidenschaftlichen Spott seiner Tante; heute Nachmittag war es so seltsam in Roys Stimme erklungen, und als Elisha Klavier gespielt hatte, war es auch da; es steckte im Schlagen und Rasseln von Sister McCandless’ Tamburin, selbst im Tonfall ihrer Bezeugung und verlieh diesem Zeugnis eine unvergleichliche, unanfechtbare Geltung. Ja, es begleitete ihn schon sein ganzes Leben, doch erst jetzt öffneten sich seine Ohren für das Geräusch, das aus der Finsternis kam, das nur aus der Finsternis kommen konnte und doch so unbeirrbar Zeugnis ablegte von der Herrlichkeit des Lichts. Und jetzt hörte er es, in seinem Stöhnen und so fern aller Hilfe, in sich selbst – aufsteigend aus seinem aufgebrochenen blutenden Herzen. Es war das Geräusch von Wut und Klage im Grab, Wut und Klage, entfesselt vor langer Zeit, doch nun gebunden in Ewigkeit; Wut, die keine Sprache hatte, Klage ohne Stimme – die jetzt dennoch zu Johns erstaunter Seele sprach, von endloser Wehmut, von bitterster Geduld und der längsten Nacht, von tiefsten Wassern, den stärksten Ketten, der grausamsten Peitsche; von erbärmlichster Demut, unentrinnbarstem Kerker, vom besudelten Liebeslager, von schändlicher Geburt und blutigstem, unaussprechlichstem jähem Tod. Ja, die Finsternis summte von Mord: der Leiche im Wasser, der Leiche im Feuer, der Leiche auf dem Baum. John betrachtete die Heerscharen der Finsternis, eine nach der anderen, und seine Seele flüsterte: Wer ist das? Wer sind sie? Und fragte sich: Wo soll ich hin?

Es gab keine Antwort. Es gab keine Hilfe oder Heilung in dem Grab, keine Antwort in der Finsternis, keine Ansprache von der Gesellschaft. Sie blickten nach hinten. Und auch John blickte nach hinten und sah keine Rettung.

Ich, John, sah die Zukunft, weit oben mitten in der Luft.

Waren die Peitsche, der Kerker und die Nacht für ihn? Und das Meer für ihn? Und das Grab für ihn?

Ich, John, sah eine Zahl, mitten in der Luft.

Und er versuchte zu fliehen – aus der Finsternis, aus dieser Gesellschaft – ins Land der Lebenden, so hoch oben, so weit weg. Angst saß ihm im Nacken, eine tödlichere Angst, als er je gekannt hatte, während er sich im Finstern drehte und wälzte, während er stöhnte und strauchelte und durch die Finsternis kroch, ohne eine Hand zu finden, eine Stimme, eine Tür. Wer ist das? Wer sind sie? Sie waren die Verachteten und Ausgestoßenen, die Elenden und Bespuckten, der Abschaum der Erde, und er befand sich unter ihnen, und sie würden seine Seele schlucken. Die Hiebe, die sie erduldet hatten, würden seinen Rücken narben, ihre Strafe wäre seine, ihr Los seins, auch ihre Demütigung, ihre Qual, ihre Ketten und ihr Kerker, seins, ihr Tod der seine. Dreimal wurde ich mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt, dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht habe ich in der Tiefe zugebracht.

Und ihr furchtbares Zeugnis wäre seins!

Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern.

Und ihre Trostlosigkeit wäre die seine:

In Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße.

Und er fing an, nach Hilfe zu rufen, als er vor sich die Peitsche sah, das Feuer und das endlos tiefe Wasser, als er seinen Kopf für immer gebeugt sah, er, John, Niedrigster unter den Niedrigen. Und er suchte seine Mutter, doch ihr Blick war gebannt von der dunklen Heerschar – sie war beansprucht von dieser Heerschar. Und sein Vater half ihm nicht, sein Vater sah ihn nicht, und Roy war tot.

Dann flüsterte er, ohne zu wissen, dass er flüsterte: »Ach, Herr, sei mir gnädig. Sei mir gnädig.«

Und zum ersten Mal auf dieser schrecklichen Reise sprach eine Stimme zu John, durch Wut und Klage, Feuer, Finsternis und Flut:

»Ja«, sagte die Stimme, »geh durch. Geh da durch.«

»Hol mich«, flüsterte John, »hol mich. Ich komm nicht durch.«

»Geh da durch«, sagte die Stimme, »geh durch.«

Dann herrschte Stille. Das Raunen verklang. Nur das Beben unter ihm blieb. Und er wusste, irgendwo war ein Licht.

»Geh durch.«

»Bitte ihn, dir durchzuhelfen.«

Niemals würde er es durch diese Finsternis schaffen, durch dieses Feuer und diesen Zorn. Niemals kam er da durch. Seine Kraft war aufgebraucht, und er konnte sich nicht bewegen. Er gehörte zur Finsternis – die Finsternis, vor der er hatte fliehen wollen, hatte ihn geholt. Und wieder stöhnte er, weinte und reckte die Arme nach oben.

»Ruf ihn an. Ruf ihn an.«

»Bitte ihn, dir durchzuhelfen.«

Wieder stieg ihm Staub in die Nase, beißend wie der Qualm der Hölle. Und wieder wälzte er sich in der Finsternis und versuchte, sich an etwas zu erinnern, das er gehört hatte, etwas, das er gelesen hatte.

Jesus rettet.

Vor sich sah er das Feuer, rot und golden, das auf ihn wartete – gelb, rot und golden brannte es in ewiger Nacht und wartete auf ihn. Er musste durch dieses Feuer, in diese Nacht.

Jesus rettet.

Ruf ihn an.

Bitte ihn, dir durchzuhelfen.

Er konnte nicht rufen, seine Zunge wollte sich nicht lösen, und sein Herz war stumm und voller Angst. Wie sollte er sich in der Finsternis bewegen? – mit den zehntausend klaffenden Mäulern des Todes, die dort warteten. Bei der kleinsten Regung konnte das Tier zuschnappen – ein Schritt in der Finsternis war ein Schritt in die wartenden Mäuler des Todes. Und doch, dachte er, musste er gehen; denn irgendwo war ein Licht und Leben, waren Freude und Gesang – irgendwo, irgendwo über ihm.

Wieder stöhnte er: »O Herr, sei mir gnädig. Sei mir gnädig, Herr.«

Ihm fiel erneut der Abendmahlsgottesdienst ein, Elisha kniend zu Füßen seines Vaters. In dieser Erinnerung fand der Gottesdienst in einem großen hohen Raum statt, golden im Sonnenlicht; eine Menschenmenge war in dem Raum, alle in langen weißen Gewändern, die Frauen mit Kopfbedeckung. Sie saßen an einem langen nackten Holztisch. An diesem Tisch brachen sie flaches ungesalzenes Brot, das der Leib des Herrn war, und tranken aus einem schweren Silberkelch den dunkelroten Wein seines Blutes. Dann sah er, dass sie barfuß waren, und ihre Füße waren vom selben Blut befleckt. Weinen erfüllte den Raum, als sie das Brot brachen und den Wein tranken.

Sie erhoben sich und versammelten sich an einem großen Becken mit Wasser. Sie teilten sich auf in vier Gruppen und fingen an, einander, Frau zu Frau und Mann zu Mann, die Füße zu waschen. Doch das Blut ließ sich nicht abwaschen; das viele Waschen färbte bloß das kristallklare Wasser rot, und jemand rief: »Warst du am Fluss?«

Dann sah John den Fluss, und die Menge war dort. Etwas war mit ihnen geschehen, ihre Gewänder waren zerlumpt und fleckig von ihrem Weg auf der Straße und fleckig von unheiligem Blut; bei einigen bedeckten die Gewänder kaum ihre Nacktheit, und manche waren tatsächlich nackt. Wieder andere stolperten über die Steine am Flussufer, denn sie waren blind, und manche krochen unter fürchterlichen Klagen, denn sie waren lahm, und einige zupften unaufhörlich an ihrem Fleisch, das faul war vor eitrigen Wunden. Alle strebten mit entsetzlicher Hartherzigkeit zum Fluss: Die Starken schlugen die Schwachen nieder, die Zerlumpten bespuckten die Nackten, die Nackten verfluchten die Blinden, die Blinden krochen über die Lahmen. Und jemand schrie: »Sünder, liebst du meinen Herrn?«

Dann sah John den Herrn – nur einen Augenblick; und die Finsternis war, nur einen Augenblick, von einem unerträglichen Licht erfüllt. Im nächsten Augenblick war er frei; Tränen sprudelten wie aus einem Quell, sein Herz barst wie eine Wasserquelle. Er rief: »Gelobter Jesus! Ach, Herr Jesus! Hilf mir hindurch!«

An Tränen war es, ja, ein wahrer Quell – der aus nie zuvor geloteten Tiefen sprudelte, aus Tiefen, die John niemals in sich vermutet hätte. Er wollte aufstehen, singen, an dem fabelhaften Morgen singen, dem Morgen seines neuen Lebens. Ach, wie die Tränen flossen, wie sie seine Seele segneten! – während er spürte, wie er aus der Finsternis, aus dem Feuer und der Todesangst aufstieg, den Gläubigen entgegen.

»Ja!«, rief Elishas Stimme. »Gelobt sei unser Gott in Ewigkeit!«

Zärtlichkeit durchströmte John, als er diese Stimme hörte und den Gesang: Sie sangen für ihn. Denn seine treibende Seele ankerte in der Liebe zu Gott, im Fels, der ewig hielt. Licht und Finsternis hatten sich geküsst und waren jetzt auf ewig in Johns Seele vermählt.

Ich, John, sah eine Stadt, mitten in der Luft,

die dort oben wartete, wartete, wartete.

Er schlug die Augen auf und sah den Morgen, sah, dass sie im Licht dieses Morgens für ihn frohlockten. Das Beben in seiner Finsternis war das Echo ihrer freudig stampfenden Füße gewesen – dieser ewig blutbefleckten, in vielen Flüssen gewaschenen Füße –, sie wandelten ewig auf der blutigen Straße ohne bleibende Stadt, doch immer auf der Suche: nach einer zeitlosen, nicht mit Händen errichteten, nach einer ewigen Stadt im Himmel. Keine Macht konnte dieses Heer aufhalten, keine Wasser die Menge zerstreuen, kein Feuer sie verschlingen. Eines Tages würden sie die Erde zwingen, sich nach oben zu erbrechen und die wartenden Toten freizugeben. Sie sangen, wo die Finsternis sich sammelte, wo der Löwe wartete, wo das Feuer heulte und das Blut strömte:

My soul, don’t you be uneasy!

Sie wanderten ewig durchs Tal, schlugen ewig den Fels, und das Wasser sprudelte fortwährend in der immerwährenden Wüste. Sie schrien ewig zum Herrn und erhoben ihre Augen, waren auf alle Zeit niedergeworfen und für immer durch ihn erhöht. Nein, das Feuer konnte ihnen nichts anhaben, und ja, des Löwen Maul war gebändigt; die Schlange beherrschte sie nicht, das Grab war nicht ihre Ruhestätte, die Erde nicht ihr Zuhause. Hiob war ihr Zeuge und Abraham ihr Vater, Moses litt mit ihnen aus freien Stücken, statt in der vergänglichen Sünde zu schwelgen. Schadrach, Meschach und Abednego waren vor ihnen ins Feuer gegangen, ihr Leid war von David besungen worden, und Jeremia hatte um sie geweint. Hesekiel hatte ihnen geweissagt, diesen verstreuten Gebeinen, diesen Erschlagenen, und da die Zeit erfüllt war, kam der Prophet Johannes aus der Wüste und rief, die Verheißung gelte ihnen. Eine wahre Wolke von Zeugen umgab sie: Judas, der den Herrn verraten hatte, Thomas, der ihn angezweifelt hatte, Petrus, der vor dem Krähen eines Hahns erzittert war, der gesteinigte Stephanus, der gefangene Paulus, der Blinde, der auf der staubigen Straße schrie, und der Tote, der aus seinem Grab aufstand. Und sie sahen auf zu Jesus, den Anfänger und Vollender ihres Glaubens, der mit Geduld in dem Kampf lief, der ihnen bestimmt war; sie ertrugen das Kreuz, und sie verachteten die Schande, und sie warteten darauf, sich ihm eines Tages in Herrlichkeit anzuschließen, zur Rechten des Vaters.

My soul! don’t you be uneasy!

Jesus going to make up my dying bed!

»Steh auf, steh auf, Brother Johnny, und künde von der Rettung des Herrn.«

Das war Elisha; lächelnd beugte er sich über John, hinter ihm standen die Gläubigen – Praying Mother Washington, Sister McCandless, Sister Price. Dahinter sah er seine Mutter und seine Tante; sein Vater war seinem Blick verborgen.

»Amen!«, rief Sister McCandless. »Steh auf und lobe den Herrn!«

Er wollte etwas sagen, konnte aber nicht vor lauter Freude an diesem Morgen. Er lächelte zu Elisha hinauf, und die Tränen liefen ihm übers Gesicht; Sister McCandless hob an zu singen:

Lord, I ain’t

No stranger now!

»Aufstehen, Johnny«, sagte Elisha wieder. »Bist du gerettet, Junge?«

»Ja«, sagte John, »ja!« Und die Worte kamen ihm, so schien es, von allein, mit der neuen Stimme, die Gott ihm gegeben hatte. Elisha streckte die Hand aus, John ergriff sie und stand – so plötzlich und so erstaunlich und so wundersam! – wieder auf den Beinen.

Lord, I ain’t

No stranger now!

Ja, die Nacht war vorüber, die Mächte der Finsternis waren zurückgeschlagen. Er bewegte sich inmitten der Gläubigen, er, John, der heimgekommen und jetzt einer der ihren war; er weinte und fand noch keine Worte für seine große Freude, wusste auch kaum, wie er sich bewegte, denn seine Hände waren neu, und seine Füße waren neu, und er bewegte sich in neuer, lichter Himmelsluft. Praying Mother Washington nahm ihn in den Arm und küsste ihn, und ihre Tränen, seine und die der alten schwarzen Frau, vermischten sich.

»Gott segne dich, mein Sohn. Weiter so, Junge, und nicht nachlassen!«

Lord, I been introduced

To the Father and the Son,

And I ain’t

No stranger now!

Doch mitten unter ihnen, während Hände sich berührten, Tränen liefen und die Musik anschwoll – als schreite er durch einen Festsaal voll prächtiger Gesellschaft –, klopfte etwas in seinem lauschenden, staunenden, zarten neugeborenen Herzen, eine Erinnerung an die Schrecken der Nacht, die noch nicht vorüber waren, wie sein Herz zu sagen schien, sondern jetzt, in dieser Gesellschaft überhaupt erst anfingen. Und während sein Herz noch sprach, stand er auf einmal vor seiner Mutter. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und eine ganze Weile sahen sie sich nur schweigend an. Erneut versuchte er, das Geheimnis hinter ihrem Gesicht zu ergründen – das noch nie so strahlend und so gequält war vor Liebe und zugleich noch nie so weit weg von ihm, so vollkommen verbunden mit einem Leben jenseits von seinem. Er wollte sie trösten, aber die Nacht hatte ihm keine Sprache gegeben, keine Hellsicht, keine Macht, in ein anderes Herz zu blicken. Er wusste nur – und als er jetzt seine Mutter ansah, wusste er, das würde er nie aussprechen können –, dass das Herz ein beängstigender Ort war. Sie küsste ihn und sagte: »Ich bin so stolz auf dich, Johnny. Halt fest an deinem Glauben. Ich bete für dich, bis der Herr mich zu sich nimmt.«

Dann stand er vor seinem Vater. In dem Moment, da er sich zwang, aufzublicken und seinem Vater ins Gesicht zu sehen, spürte er eine Anspannung, Panik, blindes Aufbegehren und die Hoffnung auf Frieden. Noch immer unter Tränen, noch immer lächelnd sagte er: »Gelobt sei der Herr.«

»Gelobt sei der Herr«, antwortete sein Vater. Er machte keine Anstalten, ihn anzufassen, küsste ihn nicht, lächelte nicht. Schweigend standen sie sich gegenüber, während die Gemeinde frohlockte, und John rang um das machtvolle, das lebendige Wort, das die große Kluft zwischen ihm und seinem Vater überwinden würde. Aber es kam nicht, das lebendige Wort; in der Stille starb etwas in John, und etwas erwachte zum Leben. Ihm fiel ein, dass er Zeugnis ablegen musste: Seine Zunge allein konnte von den Wundern berichten, die er gesehen hatte. Und auf einmal erinnerte er sich an den Text einer Predigt, die er irgendwann von seinem Vater gehört hatte. Er machte den Mund auf und spürte, während er seinen Vater ansah, hinter sich die Finsternis brüllen und unter seinen Füßen die Erde erzittern; dennoch legte er seinem Vater gegenüber das übliche Zeugnis ab: »Ich bin gerettet«, sagte er, »und ich weiß, dass ich gerettet bin.« Als sein Vater nicht antwortete, wiederholte er dessen Worte: »Mein Zeuge ist im Himmel, und der mich kennt, ist in der Höhe.«

»So spricht dein Mund«, sagte da sein Vater. »Ich will sehen, wie du danach lebst. Keine leeren Worte.«

»Ich werde Gott bitten«, sagte John – und seine Stimme zitterte, ob vor Freude oder Schmerz, konnte er nicht sagen –, »dass er mich hält und mich stark macht … dass ich mich stellen kann … mich gegen den Feind stellen … und gegen alles und jeden … der meine Seele zerstören will.«

Erneut kamen die Tränen, und wie eine Wand schoben sie sich zwischen ihn und seinen Vater. Seine Tante Florence trat hinzu und nahm ihn in den Arm. Ihre Augen waren trocken, und ihr Gesicht war alt im strengen Morgenlicht. Aber ihre Stimme war sanfter, als er sie jemals zuvor gehört hatte.

»Kämpf den guten Kampf«, sagte sie, »hörst du? Nicht nachlassen und keine Angst. Ich weiß, der Herr hält seine Hand über dich.«

»Ja«, sagte er weinend, »ja. Ich werde dem Herrn dienen.«

»Amen!«, rief Elisha. »Gelobt sei Gott, unser Herr!«

 

Die schmutzigen Straßen sirrten im frühen Morgenlicht, als sie aus der Kirche traten.

Alle waren da, bis auf Ella Mae, die sich zurückgezogen hatte, als John noch auf dem Boden lag – sie habe eine schwere Erkältung, sagte Praying Mother Washington, und brauche Ruhe. In drei Gruppen gingen sie die lange graue, stille Avenue hinunter: Praying Mother Washington mit Elizabeth, Sister McCandless und Sister Price, vor ihnen Gabriel und Florence, Elisha und John voraus.

»Der Herr ist voller Wunder, wisst ihr«, sagte Mother Washington. »Die ganze Woche lang beschwert er meine Seele, dass ich gebetet und geweint habe vor ihm, die ganze Woche. Ich bin einfach nicht zur Ruhe gekommen – jetzt weiß ich, dass er mich damit aufgefordert hat, für die Seele von diesem Jungen zu beten.«

»Amen«, sagte Sister Price. »Der Herr will diese Kirche wohl zum Beben bringen. Wisst ihr noch, Freitagabend, wie er da durch Sister McCandless gesprochen hat, dass wir beten sollen und dass er große Wunder wirken wird mitten unter uns? Er hat uns bewegt – halleluja –, er hat uns alle aufgewühlt.«

»Ich sage euch«, sagte Sister McCandless, »man braucht dem Herrn nur zu lauschen, und jedes Mal führt er uns, jedes Mal bewegt er uns. Mir erzählt keiner, mein Gott ist nicht gegenwärtig.«

»Und seht ihr, wie der Herr durch den jungen Elisha wirkt?«, sagte Praying Mother Washington mit einem beseelten Lächeln. »Da hat der Junge auf dem Boden doch direkt in Zungen geredet wie ein Prophet, amen, gerade bevor Johnny vor dem Herrn niedergeht und schreit und weint. Da hat doch der Herr ihm durch Elisha gesagt: ›Es ist Zeit, Junge, komm nach Hause.‹«

»Tja, er ist wirklich voller Wunder«, sagte Sister Price. »Und Johnny hat jetzt zwei Brüder.«

Elizabeth sagte nichts. Sie ging mit gesenktem Kopf und lose verschränkten Händen.

Sister Price wandte sich lächelnd zu ihr: »Du bist heute Morgen bestimmt mächtig glücklich.«

Elizabeth hob lächelnd den Kopf, sah Sister Price aber nicht an. Sie blickte in die Ferne, die lange Straße hinunter, auf der Gabriel mit Florence ging, auf der John mit Elisha ging.

»Ja«, sagte sie schließlich, »ich habe gebetet. Und aufgehört hab ich noch lange nicht mit dem Beten.«

»Gott, ja«, sagte Sister Price, »da kann keiner von uns mit aufhören, bis wir sein gesegnetes Angesicht schauen.«

»Aber bestimmt hast du nicht damit gerechnet, dass der kleine Johnny so bald aufspringt und ernst macht mit dem Glauben. Gesegnet sei unser Gott«, sagte Sister McCandless lachend.

»Der Herr wird diesen Jungen segnen, denkt an meine Worte«, sagte Praying Mother Washington.

»Gib dem Prediger die Hand, Johnny.«

»Es gibt einen Mann in der Bibel, mein Sohn, der liebte Musik. Eines Tages durfte er vor dem Herrn tanzen. Meinst du, irgendwann tanzt du auch mal vor dem Herrn?«

»Ja«, sagte Sister Price, »der Herr hat dir einen frommen Sohn beschert. Der wird ein Trost für deine grauen Haare.«

Elizabeths bittere Tränen fielen träge im Morgenlicht. »Ich flehe den Herrn an«, sagte sie, »dass er ihn stützt von allen Seiten.«

»Ja«, sagte Sister McCandless ernst, »das sind keine leeren Worte. Der Teufel erhebt sich auf allen Seiten.«

Schweigend kamen sie an die breite Kreuzung, wo die Straßenbahn fuhr. Eine magere Katze pirschte den Rinnstein entlang, floh vor ihnen und blickte sich aus dem Schutz der Ascheimer noch einmal mit bösen gelben Augen nach ihnen um. Ein grauer Vogel flog über sie hinweg, über die Oberleitung der Straßenbahn und hockte sich auf den Metallsims eines Dachs. Die Straße runter hörten sie eine Sirene und eine Glocke, und als sie aufsahen, raste ein Krankenwagen an ihnen vorbei zur Klinik bei der Kirche.

»Wieder eine Seele in Not«, murmelte Sister McCandless. »Der Herr sei ihr gnädig.«

»Es heißt, in den letzten Tagen wird das Böse überhandnehmen«, sagte Sister Price.

»Ja, so heißt es«, pflichtete Praying Mother Washington ihr bei, »und ich bin so froh, dass er uns versichert hat, wir werden nicht ohne Trost sein.«

»Wenn man das alles sieht, weiß man, das Heil ist nah«, sagte Sister McCandless. »Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. So froh heute Morgen, amen, gelobt sei mein Erlöser.«

»Weißt du noch den Tag, als du in den Laden gekommen bist?«

»Hab nie gedacht, dass du mich überhaupt siehst.«

»Na, du warst ganz schön hübsch.«

»Hat der kleine Johnny nie was gesagt«, fragte Praying Mother Washington, »wo du gedacht hast, der Herr wirkt in seinem Herzen?«

»Er ist eher ein Stiller«, sagte Elizabeth. »Er redet nicht viel.«

»Nein«, sagte Sister McCandless, »er ist nicht wie die jungen Rabauken heutzutage – er hat Respekt vor dem Alter. Du hast ihn mächtig gut erzogen, Sister Grimes.«

»Gestern war sein Geburtstag«, sagte Elizabeth.

»Nein!«, rief Sister Price. »Wie alt ist er denn geworden?«

»Vierzehn.«

»Hört euch das an!«, staunte Sister Price. »An seinem Geburtstag hat der Herr die Seele von dem Jungen gerettet!«

»Na, jetzt hat er zwei Geburtstage«, sagte Sister McCandless lächelnd, »so wie er jetzt zwei Brüder hat – einen leiblichen, einen geistigen.«

»Amen, gelobt sei der Herr!«, rief Praying Mother Washington.

»Was war das für ein Buch, Richard?«

»Ach, weiß nicht mehr. Ein Buch halt.«

»Du hast gelächelt.«

»Du warst ganz schön hübsch.«

Sie holte ein durchweichtes Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich die Augen; und wischte nochmals und blickte die Straße hinunter.

»Ja«, sagte Sister Price sanft, »dank dem Herrn, ja, genau. Lass den Tränen ihren Lauf. Dein Herz fließt bestimmt über heute Morgen.«

»Der Herr hat dich mächtig gesegnet«, sagte Praying Mother Washington, »und was der Herr gibt, kann kein Mensch dir wegnehmen.«

»Ich tue auf«, sagte Sister McCandless, »und niemand schließt zu. Ich schließe zu, und niemand tut auf.«

»Amen«, sagte Sister Price. »Amen.«

 

»Na«, sagte Florence, »deine Seele lobt wohl den Herrn heute Morgen.«

Gabriel blickte nach vorn, sagte nichts, hielt sich pfeilgerade aufrecht.

»Du sagst doch immer, dass der Herr Gebete erhört.« Mit einem kleinen Lächeln sah Florence ihn von der Seite an.

»Der merkt schon noch«, sagte Gabriel schließlich, »dass Singen und Geschrei nicht reicht – der Weg zum Heil ist ein steiniger Weg. Er muss den Berg an der Steilflanke hoch.«

»Aber da hat er ja dich, oder, dass du ihm hilfst, wenn er strauchelt, und als gutes Beispiel vorangehst?«

»Ich sorge dafür, dass er den rechten Weg geht vor dem Herrn. Der Herr hat seine Seele mir anvertraut – und ich will das Blut des Jungen nicht an meinen Händen haben.«

»Nein«, sagte sie sanft, »das willst du nicht.«

Da hörten sie die Sirene und die schrille Warnglocke. Florence musterte sein Gesicht, während er die stille Straße hinunter auf den Krankenwagen blickte, der eilig jemanden zu Heilung oder Tod brachte.

»Ja«, sagte sie, »irgendwann kommt dieser Wagen auch zu uns, hm?«

»Ich bete, dass du dann bereit bist, Schwester.«

»Bist du dann bereit?«

»Ich weiß, dass mein Name im Buch des Lebens steht«, sagte er. »Ich weiß, dass ich meinem Erlöser in Herrlichkeit ins Angesicht schauen werde.«

»Ja«, sagte sie langsam, »da sind wir dann alle beisammen. Mama und du und ich und Deborah – und wie hieß noch das junge Ding, das gestorben ist, kurz nachdem ich weg war?«

»Was für ein junges Ding, das gestorben ist?«, fragte er. »Viele sind gestorben, nachdem du weg warst – du hast deine Mutter auf dem Sterbebett zurückgelassen.«

»Die junge Frau war ja auch Mutter«, sagte sie. »Die ist doch ganz allein in den Norden und hat ihr Kind gekriegt und ist gestorben – ohne dass jemand da war, um ihr zu helfen. Deborah hat mir das geschrieben. Du wirst doch ihren Namen nicht vergessen haben, Gabriel!«

Da kam er aus dem Tritt und schien einen Augenblick zu wanken. Er sah sie an. Mit einem Lächeln hakte sie sich sachte unter.

»Du hast ihren Namen nicht vergessen«, sagte sie. »Das kannst du mir nicht erzählen, dass du ihren Namen vergessen hast. Wirst du auch ihr ins Angesicht sehen? Steht ihr Name im Buch des Lebens?«

In tiefem Schweigen gingen sie weiter, ihre Hand noch immer unter seinem zitternden Arm.

»Deborah hat mir nie geschrieben«, fuhr sie schließlich fort, »was mit dem Kind passiert ist. Hast du ihn mal gesehen? Triffst du den auch im Himmel?«

»Es steht geschrieben«, sagte er, »lass die Toten ihre Toten begraben. Was willst du da rumwühlen, was willst du Zeug ausgraben, das längst vergessen ist? Der Herr kennt mein Leben – er hat mir vergeben, vor langer Zeit.«

»Für dich ist der Herr wohl ein Mensch wie du, dass du meinst, du kannst ihn reinlegen, wie du andere Menschen reinlegst, und dass du denkst, er ist vergesslich wie ein Mensch. Aber Gott vergisst gar nichts, Gabriel – wenn dein Name in dem Buch steht, wie du sagst, steht da auch alles drin, was du getan hast. Und dafür musst du dich auch verantworten.«

»Ich hab mich schon verantwortet, vor meinem Gott. Vor dir muss ich das nicht.«

Sie öffnete ihre Handtasche und zog den Brief heraus.

»Diesen Brief trag ich mit mir rum seit über dreißig Jahren. Und die ganze Zeit frag ich mich, ob ich wohl jemals mit dir darüber reden werde.«

Sie sah ihn an. Widerwillig blickte er auf den Brief, den sie fest in der Hand hielt. Er war alt und schmuddelig und braun und eingerissen. Gabriel erkannte Deborahs unsichere, zittrige Handschrift, und er sah sie vor sich in der Hütte, wie sie über den Tisch gebeugt emsig die niemals ausgesprochene Bitterkeit zu Papier brachte. Die hatte also all die Jahre in ihrem Schweigen gelegen? Er konnte es nicht glauben. Sie hatte für ihn gebetet, als sie starb – sie hatte geschworen, ihn in Herrlichkeit wiederzusehen. Und jetzt, da sie ihm schon lange für immer entglitten war, brach sie mit diesem Brief, ihrem Zeugnis, das Schweigen.

»Ja.« Florence sah ihm ins Gesicht. »Du hast sie ja nicht gerade auf Rosen gebettet, oder, das arme, einfache, hässliche schwarze Mädchen. Und die andere hast du auch nicht besser behandelt. Wer von all denen, die dir in deinem heiligen Leben über den Weg gelaufen sind, musste eigentlich nicht aus dem Kelch des Leids trinken? Das geht ja immer weiter, du machst es ja noch – und immer weiter, bis der Herr dich zu sich nimmt.«

»Gottes Weg«, sagte Gabriel mit belegter Zunge und schweißnassem Gesicht, »ist nicht der Weg des Menschen. Ich bin dem Willen des Herrn gefolgt, und da kann keiner über mich urteilen außer dem Herrn. Der Herr hat mich gerufen, er hat mich erwählt, und seitdem halt ich ihm die Treue. Man kann nicht den ganzen Unsinn hier unten im Blick behalten, die ganze Verkommenheit hier unten – man muss die Augen erheben zu den Bergen und weglaufen vor der Zerstörung, die die Erde befällt, wir müssen die Hand in Jesu Hand legen und gehen, wohin er uns schickt.«

»Und wenn du hier unten bloß ein Stein des Anstoßes bist? Wenn du dafür gesorgt hast, dass links und rechts Seelen stolpern und fallen und ihr Glück verlieren und ihre Seelen verlieren? Was dann, du Prophet? Was dann, Gesalbter Gottes? Bist du da keine Rechenschaft schuldig? Was sagst du denn, wenn der Wagen kommt?«

Er hob den Kopf, und sie sah Tränen in seinem Schweiß. »Der Herr sieht das Herz – er sieht das Herz.«

»Ja, aber ich hab sie auch gelesen, die Bibel, und die sagt mir, man erkennt den Baum an seinen Früchten. Was hab ich denn für Früchte gesehen bei dir außer Sünde, Sorge, Schande?«

»Pass auf, wie du mit dem Gesalbten des Herrn sprichst. Mein Leben ist nicht in dem Brief – du kennst mein Leben nicht.«

»Wo ist denn dein Leben, Gabriel?«, fragte sie nach einer quälenden Pause. »Wo? Ist nicht alles dahin? Wo sind deine Zweige? Wo sind deine Früchte?«

Er sagte nichts; beharrlich klopfte sie mit dem Daumennagel auf den Brief. Sie näherten sich der Ecke, an der sie abbiegen musste, westwärts zur Subway nach Hause. Im Licht, das die Straßen erfüllte, dem Licht, das die Sonne jetzt nach und nach mit Feuer trübte, blickte sie nach vorn auf John und Elisha, Johns lauschend gebeugten Kopf, Elishas Arm um Johns Schultern.

»Ich habe einen Sohn«, sagte er schließlich, »und der Herr wird ihm aufhelfen. Ich weiß es – der Herr hat es versprochen, und er hält sein Wort.«

Da musste sie lachen. »Dieser Sohn«, sagte sie, »dieser Roy. Da kannst du dir viele Ewigkeiten die Augen ausweinen, bevor der am Altar schreit, wie Johnny heute Nacht geschrien hat.«

»Gott sieht das Herz«, wiederholte er. »Er sieht das Herz.«

»Na, soll er ja auch«, rief sie, »er hat es schließlich gemacht! Aber sonst sieht es keiner, nicht mal du selber! Lass Gott das Herz sehen – er sieht es, ja, und sagt nichts.«

»Er spricht«, sagte er, »er spricht. Man muss nur zuhören.«

»Viele Nächte hab ich zugehört«, sagte Florence da, »und er hat nie zu mir gesprochen.«

»Er hat nicht gesprochen«, sagte Gabriel, »weil du nichts hören wolltest. Du wolltest immer nur hören, dass dein Weg der richtige ist. So harrt man nicht auf Gott.«

»Dann sag mir, was er zu dir gesagt hat – das du nicht hören wolltest.«

Wieder herrschte Schweigen. Beide beobachteten John und Elisha.

»Ich sag dir was, Gabriel. Ganz tief im Herzen denkst du ja, wenn du sie, sie und ihren Bastard, nur reichlich für ihre Sünde zahlen lässt, dann muss dein Sohn nicht für deine zahlen. Aber das lass ich nicht zu. Du hast genügend Leute zahlen lassen für ihre Sünden, jetzt bist du mal dran.«

»Was meinst du denn, was du ausrichten kannst – gegen mich?«

»Vielleicht hab ich nicht mehr lang auf dieser Welt, aber ich hab diesen Brief, und ganz sicher gebe ich ihn Elizabeth, bevor ich geh, und wenn sie ihn nicht will, finde ich einen Weg – irgendeinen Weg, keine Ahnung –, wo ich aufstehe und allen, allen von dem Blut erzähle, das dem Gesalbten des Herrn an den Händen klebt.«

»Wie gesagt, das ist längst vorbei; der Herr hat mir ein Zeichen gegeben, dass er mir vergeben hat. Was soll es nützen, was meinst du, jetzt alles noch mal durchzukauen, alles von vorn?«

»Dann weiß Elizabeth«, antwortete sie, »dass sie nicht die einzige Sünderin ist … in deinem heiligen Haus. Und der kleine Johnny da hinten – er weiß dann, dass er nicht der einzige Bastard ist.«

»Du hast dich nicht geändert. Du wartest immer noch auf meinen Untergang. Du bist genauso verkommen wie damals, als du jung warst.«

Sie steckte den Brief wieder in ihre Handtasche.

»Nein«, sagte sie, »ich hab mich nicht geändert. Und du auch nicht. Du versprichst dem Herrn immer noch, dass du dich besserst – und du denkst, was auch immer du schon gemacht hast, was auch immer du im Moment machst, das zählt nicht. Von allen Menschen, die ich je gekannt habe, solltest du am heftigsten hoffen, dass die Bibel lügt – weil wenn die Posaune erschallt, brauchst du die Ewigkeit für deine Erklärungen.«

Sie kamen an die Ecke. Sie blieb stehen und er auch; sie blickte in sein glühendes, verhärmtes Gesicht.

»Ich muss zu meiner Bahn«, sagte sie. »Willst du mir noch irgendwas sagen?«

»Ich bin schon lange auf der Welt«, sagte er, »und immer endet es böse mit den Feinden des Herrn, noch nie hab ich das anders erlebt. Du meinst, du kann den Brief benutzen und mir damit schaden – aber das lässt der Herr nicht zu. Du gehst zugrunde.«

Die betenden Frauen holten auf, Elizabeth in ihrer Mitte.

»Deborah ist zugrunde gegangen«, sagte Florence, »aber sie hat eine Nachricht hinterlassen. Sie war keine Feindin von niemandem und hat immer nur Böses erfahren. Wenn ich gehe, Bruder, wappne dich, weil ich geh nicht wortlos.«

Und während sie sich schweigend anstarrten, schlossen die Frauen zu ihnen auf.

 

Die lange, stille Avenue lag jetzt vor ihnen wie ein graues Land der Toten. Er konnte sich kaum vorstellen, dass er diese Straße erst – nach menschlichen Zeitvorgaben – wenige Stunden zuvor entlanggelaufen war, dass er die Straße kannte, seit seine Augen diese gefährliche Welt erblickt hatten, dass er hier gespielt, hier geheult hatte, dass er weggelaufen und hingefallen war und sich weh getan hatte – in jener so fernen Zeit seiner Unschuld und seiner Wut.

Ja, am Abend des siebten Tags, als er aufgebracht aus dem Haus seines Vaters gestürmt war, hatte die Straße von lärmenden Menschen gewimmelt. Auf seinem Weg zur Kirche schwand das Tageslicht – es ging ein heftiger Wind, und die Straßenlaternen reckten eine nach der anderen die Köpfe in die Dunkelheit. War er verspottet worden, hatte jemand gesprochen, gelacht oder gerufen? Er konnte sich nicht erinnern. Er war durch einen Sturm gelaufen.

Jetzt war der Sturm vorbei, und die Straße lag, wie jede Landschaft nach einem Unwetter, verwandelt unter dem Himmel, erschöpft und sauber, neu. Niemals konnte sie mehr die Straße werden, die sie einmal gewesen war. Feuer oder Blitz oder der nachfolgende Regen aus diesem Himmel, der jetzt mit bleicher Verschwiegenheit über ihn hinwegzog, hatte die gestrige Straße verwüstet, hatte sie augenblicklich, in einem Wimpernschlag, verwandelt, so wie alles am letzten Tag verwandelt würde, wenn die Himmel sich noch ein Mal auftaten, um die Gläubigen einzusammeln.

Doch die Häuser standen da wie zuvor, die Fenster starrten wie tausend blinde Augen in den Morgen – in den Morgen, der für sie der gleiche war wie die Morgen von Johns Unschuld und die Morgen vor seiner Geburt. Das Wasser lief mit einem unzufriedenen leisen Gluckern den Rinnstein entlang, darauf trieben Papier, abgebrannte Streichhölzer, aufgeweichte Zigarettenkippen und Spucke, grüngelb, braun und schillernd; die Hinterlassenschaft eines Hundes, das Erbrochene eines Betrunkenen, das tote, in Gummi gefangene Sperma von einem, der sich seiner Lust hingegeben hatte. All das trieb langsam auf den Gully zu, wo es hinunterstürzte und zum Fluss getragen wurde, der es ins Meer spülen würde.

Wo Häuser standen, wo Fenster starrten, wo Rinnsteine liefen, waren Menschen – die jetzt unsichtbar, für sich, in der schweren Dunkelheit ihrer Häuser schliefen, während der Tag des Herrn anbrach. Wenn John das nächste Mal durch diese Straßen ging, würden sie wieder lärmen, das Rattern von Kinderrollschuhen würde von hinten auf ihn zukommen, kleine Mädchen mit Pferdeschwanz würden beim Seilspringen den Gehsteig versperren, sodass er sich irgendwie durchschlängeln musste. Jungen würden erneut auf der Straße Ball spielen – und ihm zurufen: »Hey, Froschauge!«

Wieder würden Männer an Straßenecken stehen und ihm hinterherblicken, wieder würden Mädchen auf Eingangsstufen sitzen und sich über seinen Gang lustig machen. Großmütter würden aus den Fenstern starren und sagen: »Na, das ist aber mal eine traurige Gestalt.«

Er würde wieder weinen, sagte ihm sein Herz, denn jetzt hatte sein Weinen begonnen; er würde wieder wüten, sagte die fahrige Luft, denn die Löwen des Zorns waren losgelassen; er würde wieder durch Finsternis gehen, wieder durch Feuer, jetzt, da er Feuer und Finsternis gesehen hatte. Er war frei – wen der Sohn frei macht, der ist wirklich frei –, er musste nur in seiner Freiheit bestehen. An diesem anbrechenden Tag des Herrn befand er sich nicht mehr im Kampf mit dieser Straße, diesen Häusern, den schlafenden, glotzenden, brüllenden Menschen, er hatte den Kampf mit Jakobs Engel aufgenommen, mit den Fürsten, die in der Luft herrschen. Und eine Freude erfüllte ihn, eine unsagbare Freude, deren Wurzeln, auch wenn er sie an diesem neuen Tag seines Lebens nicht aufspüren würde, vom Quell einer noch unentdeckten Verzweiflung genährt wurden. Die Freude am Herrn ist die Stärke seines Volkes. Wo Freude war, folgte Stärke, wo Stärke war, kam Leid – immer so weiter? Immer und ewig, sagte Elishas schwerer Arm auf seiner Schulter. John versuchte, durch die Mauer des Morgens zu blicken, an den bitteren Häusern vorbeizuspähen, die tausend grauen Schleier vom Himmel zu reißen und ins Herz zu schauen – das monströse Herz, das ewig schlug, das verblüffte Universum antrieb, den Sternen befahl, vor der roten Sonne zu fliehen, den Mond bat, zu werden und zu weichen, zu verschwinden und wiederzukehren, mit einem Silbernetz das Meer zurückhielt und aus geheimnisvollen Urgründen jeden Tag die Erde neu schuf. Dieses Herz, dieser Atem, ohne das nichts gemacht war, was gemacht war. Ihm traten erneut Tränen in die Augen, dass die Straße zitterte und die Häuser wankten – sein Herz schwoll an, hob sich, stockte und war stumm. Aus Freude kam Stärke, Stärke, die gemacht war, um Leid zu tragen: Leid brachte Freude hervor. Immer so weiter? Das war Hesekiels Rad in der brennenden Luft – das kleine Rad angetrieben vom Glauben, das große von der Gnade Gottes.

»Elisha?«, sagte er.

»Wenn du ihn bittest, dich zu halten«, sagte Elisha, als hätte er Johns Gedanken gelesen, »lässt er dich niemals fallen.«

»Du warst das, oder«, fragte er, »du hast mit mir gebetet?«

»Wir haben alle gebetet, kleiner Bruder«, sagte Elisha lächelnd, »aber stimmt, ich war die ganze Zeit bei dir. Der Herr hat dich wohl meiner Seele auferlegt.«

»Hab ich lange gebetet?«

Elisha lachte. »Na ja, du hast angefangen, da war es Nacht, und aufgehört hast du, da war es Morgen. Ich würde sagen, das ist eine ordentliche Strecke.«

Jetzt lächelte auch John und stellte mit einigem Erstaunen fest, dass auch ein Diener Gottes lachen konnte.

»Warst du froh«, fragte er, »als du mich vor dem Altar gesehen hast?«

Er wunderte sich selbst über seine Frage und hoffte, Elisha würde ihn nicht albern finden.

»Ich war sehr froh«, sagte Elisha nüchtern, »als ich gesehen hab, wie der kleine Johnny seine Sünden auf den Altar legt, sein Leben auf den Altar legt und aufsteht, um Gott zu preisen.«

Bei dem Wort Sünde durchfuhr ihn ein Schauer. Wieder kamen ihm die Tränen. »Ach«, sagte er, »ich bitte Gott, ich bitte den Herrn …, dass er mich stark macht …, dass er mich ganz heiligt …, dass er mich für immer rettet!«

»Ja«, sagte Elisha, »weiter so in diesem Geist, dann führt dich der Herr ganz bestimmt sicher nach Hause.«

»Das ist ein langer Weg«, sagte John langsam, »oder? Das ist ein steiniger Weg. Und die ganze Zeit bergauf.«

»Denk immer an Jesus«, sagte Elisha. »Immer schön an Jesus denken. Er ist den Weg gegangen – den steilen Weg –, und er trug das Kreuz, und keiner hat ihm geholfen. Er ist den Weg für uns gegangen. Er hat das Kreuz für uns getragen.«

»Aber er war Gottes Sohn, und das wusste er.«

»Er wusste es, weil er bereit war, den Preis zu zahlen. Weißt du es nicht, Johnny? Bist du nicht bereit, den Preis zu zahlen?«

»Dieses Lied, das immer gesungen wird«, sagte John schließlich, »und wenn es mein Leben kostet – ist das der Preis?«

»Ja«, sagte Elisha, »das ist der Preis.«

Da schwieg John, und er wollte die Frage noch mal anders stellen. Ihr Schweigen wurde von einer Sirene durchbrochen und von einer Warnglocke. Beide blickten auf, als der Krankenwagen an ihnen vorbei die Straße hinunterraste, auf der sich nichts regte außer den Gläubigen hinter ihnen.

»Aber das ist auch der Preis des Teufels«, sagte Elisha, als wieder Stille herrschte. »Der Teufel, der gibt sich nur mit deinem Leben zufrieden. Und das nimmt er auch, und dann ist es für immer verloren. Für immer, Johnny. Da bist du in der Finsternis, solange du lebst, und in der Finsternis, wenn du tot bist. Einzig und allein die Liebe Gottes kann Licht in diese Finsternis bringen.«

»Ja«, sagte John. »Ich denk dran. Ich denk dran.«

»Ja«, sagte Elisha, »aber du musst dran denken, wenn der böse Tag kommt, wenn die Flut steigt, Junge, und es aussieht, als wenn deine Seele untergeht. Du musst dran denken, wenn der Teufel alles dransetzt, dass du vergisst.«

»Der Teufel«, sagte er stirnrunzelnd, »der Teufel. Wie viele Gesichter hat der Teufel?«

»Er hat so viele Gesichter, wie du von jetzt an siehst, bis zu der Zeit, wo du deine Last ablegst. Und noch viel mehr, aber alle hat noch keiner gesehen.«

»Außer Jesus«, sagte John da. »Nur Jesus.«

»Genau«, sagte Elisha mit liebevollem ernstem Lächeln, »an den musst du dich wenden. Der weiß Bescheid.«

Sie näherten sich dem Haus – seines Vaters Haus. Gleich musste er sich von Elisha verabschieden, von seinem schützenden Arm, und allein ins Haus gehen – allein mit seiner Mutter und seinem Vater. Er hatte Angst. Er wollte stehen bleiben, sich zu Elisha umdrehen und ihm sagen …, etwas sagen, wofür er keine Worte fand.

»Elisha …« Er sah ihm ins Gesicht. »Betest du für mich? Betest du bitte für mich?«

»Ich habe gebetet, kleiner Bruder«, sagte Elisha, »und ich hör bestimmt nicht jetzt wieder auf damit.«

»Für mich«, beharrte John unter Tränen. »Für mich.«

»Du weißt ganz genau« – Elisha sah ihn an – »dass ich nicht aufhöre, für den Bruder zu beten, den mir der Herr geschenkt hat.«

Als sie zum Haus kamen, hielten sie inne, sahen einander an und warteten. John sah, dass die Sonne sich irgendwo am Himmel regte, die Stille der Dämmerung würde bald den Posaunen des Morgens weichen. Elisha nahm den Arm von Johns Schulter und blickte sich um. Auch John blickte sich um und sah die Gläubigen nahen.

»Der Gottesdienst wird heute mächtig spät losgehen«, sagte Elisha, grinste plötzlich und gähnte.

John lachte. »Aber du kommst doch, oder?«

»Ja, kleiner Bruder«, lachte Elisha. »Ich komme. Ich muss mich ja ranhalten, dass ich mit dir mithalten kann.«

Sie blickten den Gläubigen entgegen. Jetzt standen alle an der Ecke, an der sich seine Tante Florence verabschiedete. Die Frauen redeten miteinander, während sein Vater etwas abseits stand. Seine Tante und seine Mutter küssten sich zum Abschied, wie er es schon hundertmal gesehen hatte, dann drehte sich seine Tante um und winkte.

Sie winkten zurück, und Florence ging über die Straße, so langsam, fand er erstaunt, wie eine alte Frau.

»Na, sie kommt nachher bestimmt nicht zum Gottesdienst, das kann ich dir sagen.« Elisha gähnte wieder.

»Und du schläfst dann wahrscheinlich halb.«

»Jetzt fang mir nicht schon wieder so an heute Morgen«, sagte Elisha, »so heilig bist du nicht geworden, dass ich dich nicht übers Knie legen kann. Ich bin dein großer Bruder im Herrn – nicht vergessen.«

Jetzt waren die anderen nur noch eine Ecke entfernt. Dort verabschiedeten sich sein Vater und seine Mutter von Praying Mother Washington, Sister McCandless und Sister Price. Die Frauen winkten, John und Elisha winkten zurück. Dann waren seine Mutter und sein Vater allein und kamen auf sie zu.

»Elisha«, sagte John, »Elisha.«

»Ja«, sagte Elisha, »was jetzt?«

John starrte Elisha an, er wollte ihm noch was sagen, alles sagen, was nie gesagt werden konnte. »Ich war unten im Tal«, wagte er sich vor, »ich war unten allein. Das vergesse ich nie. Möge Gott mich vergessen, wenn ich das vergesse.«

Dann waren seine Mutter und sein Vater bei ihnen. Seine Mutter lächelte und nahm Elishas ausgestreckte Hand.

»Gelobt sei der Herr heute Morgen«, sagte Elisha. »Er hat unser Lob verdient.«

»Amen«, sagte seine Mutter, »gelobt sei der Herr!«

John ging die Treppe hinauf und blickte leise lächelnd hinab. Seine Mutter ging an ihm vorbei ins Haus.

»Komm lieber mit nach oben«, sagte sie noch immer lächelnd, »und zieh deine nassen Sachen aus. Nachher holst du dir noch was.«

Ihr Lächeln war nach wie vor unergründlich; er wusste nicht, was sich dahinter verbarg. Um ihrem Blick auszuweichen, küsste er sie und sagte: »Ja, Mama, ich komme.«

Sie stand hinter ihm in der Tür und wartete.

»Gelobt sei der Herr, Deacon«, sagte Elisha. »Wir sehen uns beim Morgengottesdienst, so Gott will.«

»Amen«, sagte Gabriel, »gelobt sei der Herr.« Er ging die Stufen hoch und starrte John an, der im Weg stand. »Geh schon hoch, Junge«, sagte er, »hör auf deine Mutter.«

John sah seinen Vater an, machte Platz und trat noch einmal auf die Straße. Er legte Elisha die Hand auf den Arm und spürte, wie er zitterte, und er spürte seinen Vater hinter sich.

»Elisha«, sagte er, »egal, was mit mir passiert, egal, wo ich hingehe, was die Leute über mich sagen, egal, was irgendjemand sagt, denk dran – denk bitte immer dran –, dass ich gerettet wurde. Ich war dort.«

Grinsend sah Elisha zu seinem Vater hoch.

»Er ist durch«, rief Elisha, »nicht wahr, Deacon Grimes? Der Herr hat ihn hingeworfen und umgedreht und seinen neuen Namen in Herrlichkeit geschrieben. Gelobt sei unser Gott!«

Und dann küsste Elisha John auf die Stirn, ein heiliger Kuss.

»Lauf, kleiner Bruder«, sagte Elisha. »Und nicht nachlassen. Gott vergisst dich nicht. Du vergisst nicht.«

Er drehte sich um und ging über die lange Avenue nach Hause. John stand da und sah ihm nach. Die Sonne war voll zum Leben erwacht. Sie weckte die Straßen und die Häuser und rief zu den Fenstern hinein. Sie hüllte Elisha in ein goldenes Gewand und traf John auf die Stirn, dort, wo Elisha ihn geküsst hatte, ein unauslöschliches Siegel.

Er spürte, dass sein Vater hinter ihm stand. Und er spürte, wie der Märzwind aufkam und durch seine feuchten Kleider fuhr, auf seine salzige Haut blies. Er drehte sich zu seinem Vater um – und lächelte; sein Vater lächelte nicht.

Einen Augenblick sahen sie einander an. Seine Mutter stand in der Tür, im langen Schatten des Hausflurs.

»Ich bin so weit«, sagte John. »Ich komme. Ich bin gleich da.«