Now I been introduced
To the Father and the Son,
And I ain’t
No stranger now.
Als Florence schrie, war Gabriel draußen in feuriger Finsternis und sprach mit dem Herrn. Ihr Schrei drang von Ferne zu ihm, wie aus unvorstellbaren Tiefen, und es war gar nicht der Schrei seiner Schwester, den er da hörte, sondern der des Sünders, der durch seine Sünde gefangen wird. Es war der Schrei, den er so oft gehört hatte, bei Tag und bei Nacht und vor so vielen Altären, und heute Abend rief er, wie er so oft schon gerufen hatte: »Wie du willst, Herr! Wie du willst!«
Dann herrschte Stille in der Kirche. Selbst Praying Mother Washington stöhnte nicht mehr. Bald würde wieder jemand rufen, die Stimmen würden wieder einsetzen, nach und nach auch die Musik und das Jauchzen und das Schlagen der Tamburine. Doch jetzt, in dieser erwartungsvoll lastenden Stille, schien alles Fleisch – gelähmt von etwas, das in der Luft lag – auf die Kraft zu warten, die lebendig macht.
Diese Stille, hingezogen wie ein Korridor, führte Gabriel zurück zu jener Stille, die seiner Geburt in Christus vorangegangen war. Tatsächlich wie eine Geburt, denn alles davor war in Dunkelheit gehüllt, lag auf dem Grund des Meeres der Vergessenheit und richtete sich nun nicht gegen ihn, sondern allein auf seine blinde, verfluchte, stinkende Verkommenheit vor seiner Erlösung.
Die Stille war eine frühmorgendliche Stille gewesen, und er war gerade aus dem Hurenhaus zurückgekommen. Morgenlaute rings um ihn herum: von Vögeln, die unsichtbar Gott priesen, von Grillen im Weinlaub und Fröschen im Sumpf, von Hunden ganz nah und ganz fern und Hähnen auf der Veranda. Die Sonne war erst halb erwacht, die äußersten Baumwipfel erzitterten schon, und der Nebel kroch mürrisch vor Gabriel her und um ihn herum, dem Licht weichend, das den Tag regiert. Später würde er sagen, an dem Morgen habe die Sünde auf ihm gelegen, damals wusste er nur, dass er eine Last trug, die er so gern abgeladen hätte. Diese Last war schwerer als der schwerste Berg, und er trug sie in seinem Herzen. Mit jedem Schritt wurde sie schwerer, sein Atem wurde rau und träge, und auf einmal stand ihm kalter Schweiß auf der Stirn und tränkte seinen Rücken.
Ganz allein in der Hütte lag seine Mutter und wartete; nicht nur auf seine morgendliche Rückkehr, sondern auf seine Hingabe zum Herrn. Nur dafür harrte sie noch aus, und das wusste er, obwohl sie ihn nicht mehr ermahnte wie noch vor einiger Zeit. Sie hatte ihn in die Hände des Herrn gegeben und wartete geduldig ab, um zu sehen, wie er sein Werk vollbrachte.
Denn sie würde noch erleben, wie der Herr sein Wort einlöste. Sie würde erst ruhen, wenn ihr Sohn, das letzte ihrer Kinder, er, der sie ins Leichentuch wickeln würde, Aufnahme fand in der Gemeinschaft der Gläubigen. Sie, die einst ungeduldig gewesen war und rabiat, die geflucht, gebrüllt und gerungen hatte wie ein Mann, war in Schweigen verfallen und rang nur noch, mit allerletzter Kraft, mit Gott. Und auch das tat sie wie ein Mann: Nachdem sie ihrem Glauben treu geblieben war, wartete sie nun darauf, dass er sein Wort hielt. Gabriel wusste, dass sie nicht fragen würde, wenn er kam, wo er gewesen war; sie würde ihm keine Vorwürfe machen, aber ihr Blick folgte ihm selbst hinter geschlossenen Lidern.
Später würden, da Sonntag war, einige Brüder und Schwestern zu ihr kommen und an ihrem Bett singen und beten. Und sie würde für ihn beten, mit erhobenem Kopf und fester Stimme, nachdem sie sich allein aufgesetzt hatte, während er zitternd in einer Zimmerecke kniete und ihr beinahe den Tod wünschte, abermals erzitterte vor diesem Beweis der unsäglichen Verkommenheit seines Herzens und wortlos um Vergebung betete. Denn er hatte keine Worte, wenn er vor dem Thron kniete. Und er hatte Angst, dem Himmel ein Gelübde abzulegen, solange er nicht die Kraft fand, es zu halten. Und doch wusste er, dass er ohne Gelübde diese Kraft niemals finden würde.
Denn seine Seele sehnte sich mit Furcht und Zittern nach all den Herrlichkeiten, die seine Mutter für ihn erflehte. Ja, er wollte Macht – er wollte sich als den Gesalbten des Herrn sehen, seinen Vielgeliebten, der schneeweißen Taube würdig, beinahe jedenfalls, die vom Himmel herabgeschickt wurde, um zu bezeugen, dass Jesus Gottes Sohn war. Er wollte herrschen, mit jener Geltung sprechen, die nur von Gott kommen konnte. Später sollte er stolz bezeugen, er habe seine Sünden gehasst – selbst als er ihnen nachhechelte, selbst als er ihnen frönte. Er hasste das Böse, das in seinem Leib hauste, und er fürchtete es, wie er die Löwen der Lust und des Verlangens fürchtete und hasste, die durch die wehrlose Stadt seines Geistes pirschten. Später würde er sagen, es sei eine Gabe seiner Mutter gewesen, Gott habe seine Hand von früh auf über ihn gehalten, doch damals wusste er nur, dass bei Anbruch der Nacht Chaos und Fieber in ihm tobten; das Schweigen in der Hütte zwischen seiner Mutter und ihm war unerträglich geworden – ohne sie anzusehen, mit Blick in den Spiegel, doch seinem eigenen Gesicht ausweichend, zog er seine Jacke an und sagte, er gehe noch ein wenig spazieren, er bleibe nicht lange weg.
Manchmal saß Deborah bei seiner Mutter und folgte ihm nicht weniger geduldig und vorwurfsvoll mit ihren Blicken. Dann floh er in die sternklare Nacht und ging bis zu einer Kneipe oder zu einem Haus, das er bereits einen lustvollen Tag lang auserkoren hatte. Er trank, bis sein Schädel von fernen Hämmern dröhnte, beschimpfte Freunde und Feinde und prügelte sich bis aufs Blut; am Morgen fand er sich im Dreck wieder, im Lehm, in fremden Betten und ein, zwei Mal hinter Gittern, Galle im Mund, die Kleider in Fetzen, und aus allen Poren drang der Gestank seiner Verkommenheit. Dann konnte er nicht mal weinen. Er konnte nicht mal beten. Beinahe sehnte er sich nach dem Tod, er allein konnte ihn von seinen grausamen Fesseln befreien.
Und immer ruhte der Blick seiner Mutter auf ihm; ihre Hand griff wie eine glühende Zange nach der lauwarmen Glut seines Herzens und flößte ihm beim Gedanken an den Tod noch kälteres Entsetzen ein. Ungeläutert, ungesühnt ins Grab zu steigen hieß, für immer in den Abgrund zu steigen, in dem ihn größere Qualen erwarteten als alle, unter denen die Erde seit Anbeginn ächzte. Für immer und ewig abgeschnitten von den Lebenden, für immer und ewig ohne Namen. Wo er gewesen war, wären nur Stille, Stein, Stoppeln und keine Saat; auf immer und ewig für ihn und die Seinen keine Hoffnung auf Herrlichkeit. Wenn er zur Hure kam, so kam er zu ihr im Zorn, und er verließ sie in fruchtlosem Kummer – mit dem Gefühl, wieder einmal auf übelste Weise beraubt worden zu sein, seinen heiligen Samen in ein verbotenes Dunkel verausgabt zu haben, zum Sterben verdammt. Er verfluchte die tückische Lust, die ihn besetzte, und er verfluchte sie auch bei anderen. Aber: Später sollte er sagen, »ich erinnere mich an den Tag, da mein Kerker bröckelte und meine Fesseln abfielen.«
Auf dem Weg nach Hause hatte er an die zurückliegende Nacht gedacht. Die Frau war ihm schon zu Beginn des Abends aufgefallen, aber sie war in Gesellschaft gewesen, von Männern und Frauen, also hatte er sie nicht weiter beachtet. Erst später, vom Whisky befeuert, hatte er sie offen angesehen und sofort erkannt, dass er ihr auch aufgefallen war. Inzwischen waren nicht mehr so viele Menschen bei ihr – als hätte sie Platz geschaffen für ihn. Er hatte bereits erfahren, dass sie eine Witwe aus dem Norden war und nur ein paar Tage in der Stadt, um ihre Familie zu besuchen. Sie erwiderte seinen Blick und lachte laut, als scherzte sie noch mit ihren Freunden. Sie hatte eine Spalte zwischen den Schneidezähnen und einen großen Mund; wenn sie lachte, zog sie gleich die Unterlippe zwischen die Zähne, als schämte sie sich ihres großen Munds, und ihr Busen wogte. Nicht gewaltig wie bei großen dicken Frauen – ihr Busen hob und senkte sich einfach unter dem straff gespannten Stoff ihres Kleids. Sie war viel älter als er – etwa in Deborahs Alter, über dreißig – und nicht wirklich hübsch. Doch die Luft zwischen ihnen fing an zu knistern, und ihr Geruch stieg ihm in die Nase. Er trank weiter und ließ – beinahe – unbewusst sein Gesicht in einen Ausdruck zwischen Unschuld und Macht gleiten, was die Frauen nach seiner reichen Erfahrung kommen ließ.
Ja doch (auf dem Nachhauseweg, kalt und pricklig), sie hatten es getan. Gott, wie sie getobt hatten in ihrem Bett der Sünde, wie sie geschrien und gebebt hatte; Gott, wie sie gekommen war! Ja (auf dem Nachhauseweg durch den fliehenden Nebel, kalter Schweiß auf seiner Stirn), in Eitelkeit und Erobererstolz hatte er noch an sie gedacht, an ihren Geruch, die Hitze ihres Körpers unter seinen Händen, ihre Stimme und ihre Zunge – wie die Zunge einer Katze –, ihre Zähne und ihre schwellenden Brüste, wie sie sich bewegt hatte für ihn, wie sie ihn gehalten, mit ihm geschwitzt hatte und wie sie zitternd und stöhnend, ineinander verschlungen, wieder in die Welt gefallen waren. Mit diesen Gedanken, froststarr vor Schweiß, doch rasend vor Erinnerung an die Lust, war er zu einem Baum auf einer kleinen Anhöhe gekommen, hinter der, außer Sichtweite noch, sein Zuhause lag, und darin seine Mutter. Und mit der Wucht von Wasser, das Dämme gebrochen und Ufer geflutet hat und unaufhaltsam auf die verlorenen, unbeweglichen Häuser zuströmt – auf deren Dächern und Fenstern noch fahl die Sonne zittert –, überkam ihn die Erinnerung an alle Morgen, an denen er hier hinaufgestiegen und an dem Baum vorbeigegangen war, einen Moment gefangen zwischen begangenen und zu begehenden Sünden. Der Nebel auf der Anhöhe war geflohen, und im Angesicht dieses einsamen Baums war Gabriel, als stünde er unter dem nackten Auge des Himmels. Auf einmal wurde es still, ganz still, überall – sogar die Vögel hatten aufgehört zu singen, kein Hund bellte mehr, und kein Hahn krähte den Morgen herbei. Die Stille erschien ihm wie ein Gottesurteil, als wäre die gesamte Schöpfung vor Gottes gerechtem Zorn zum Verstummen gebracht worden und wartete nun darauf, den Sünder – der Sünder war er –, gefällt und von Gottes Angesicht verstoßen zu sehen. Und ohne es recht zu merken, griff er nach dem Baum, im jähen Bedürfnis, sich zu verstecken, und schrie: »Lieber Gott, sei mir gnädig! O Gott, sei mir gnädig!«
Und er fiel gegen den Baum, sank zu Boden und klammerte sich an die Wurzeln. Er hatte in die Stille gerufen, und nur die Stille antwortete – und doch schallte sein Schrei bis an die äußersten Enden der Welt. Dieser Schall, sein einsamer Schrei, der durch die Schöpfung rollte, schlafende Fische und Vögel aufschreckte und von überallher, von Fluss, Tal und Bergwand zurückgeworfen wurde, erfüllte ihn mit derartiger Angst, dass er einen Moment stumm zitternd am Fuß des Baumes lag, als wollte er dort begraben sein. Doch sein beschwertes Herz wollte nicht stumm sein, ließ ihm die Stille nicht – ließ ihn nicht atmen, bis er nochmals schrie. Also schrie er wieder, und sein Schrei kehrte wieder zurück; und noch immer wartete die Stille auf Gottes Antwort.
Und da kamen die Tränen – Tränen, wie er sie niemals in sich vermutet hätte. »Ich habe geweint«, berichtete er später, »wie ein kleines Kind.« Aber kein Kind hat je solche Tränen geweint wie er an jenem Morgen, auf seinem Angesicht vor dem Himmel, unter dem mächtigen Baum. Sie kamen aus Tiefen, in die kein Kind vordringt, und schüttelten ihn mit einem Fieber, das kein Kind packt. In seiner Qual schrie er, und jeder Schrei schien ihm die Kehle zu zerreißen, die Luft zu rauben und heiße Tränen über die Wangen zu jagen, die auf seine Hände spritzten und die Baumwurzel tränkten: »Rette mich! Rette mich!« Und die ganze Schöpfung erschallte, antwortete aber nicht. »Ich hörte niemand beten.«
Ja, er befand sich in dem Tal, das seine Mutter ihm vorausgesagt hatte, in dem es keine menschliche Hilfe gab, in dem keine schützende oder rettende Hand sich ihm entgegenstreckte. Hier galt allein die Gnade Gottes – hier wurde der Kampf zwischen Gott und Teufel ausgefochten, zwischen Tod und ewigem Leben. Und er hatte zu lange gewartet, sich zu lange in Sünde abgewandt; Gott würde ihn nicht hören. Die Frist war verstrichen, und Gott hatte sein Antlitz vor ihm verborgen.
»Dann«, bezeugte er später, »hörte ich meine Mutter singen. Sie sang für mich. Sie sang leise und lieblich, direkt dort neben mir, als wüsste sie, dass sie den Herrn nur rufen muss, dass er kommt.« Als er den Gesang hörte, der die stille Luft erfüllte und anschwoll, bis er die ganze wartende Welt erfüllte, brach ihm das Herz und wurde doch, von seiner Last befreit, ganz leicht; seine Kehle öffnete sich, und seine Tränen flossen, als hätte sich der lauschende Himmel aufgetan. »Da pries ich Gott, der mich aus Ägypten geführt und meine Füße auf festen Fels gesetzt hat.« Als er schließlich aufblickte, sah er einen neuen Himmel und eine neue Erde, und er hörte einen neuen Gesang, denn ein Sünder war heimgekehrt. »Ich sah auf meine Hände, und meine Hände waren neu. Ich sah auf meine Füße, und meine Füße waren neu. Den Mund tat ich auf zum Herrn an jenem Tag, und selbst die Hölle wird meinen Sinn nicht ändern.« Und ja, überall war Gesang; Vögel, Grillen und Frösche frohlockten, Hunde hüpften jaulend durch die engen Hinterhöfe, von jedem Zaun krähte ein Hahn, dass hier ein neuer Anfang war, ein mit Blut gewaschener Tag!
Dies war der Beginn seines Lebens als Mann. Gabriel war gerade einundzwanzig geworden, das Jahrhundert noch kein Jahr alt. Er zog in die Stadt, in das Zimmer, das oben im Haus, in dem er arbeitete, für ihn bereitstand, und er fing an zu predigen. Noch im selben Jahr heiratete er Deborah. Nach dem Tod seiner Mutter hatten sie einander ständig gesehen. Sie waren gemeinsam ins Haus Gottes gegangen, und da er niemanden mehr hatte, der sich um ihn kümmerte, lud sie ihn häufig zu sich zum Essen ein und wusch seine Wäsche, und nach den Gottesdiensten sprachen sie über seine Predigten, das heißt, er lauschte ihren Lobeshymnen.
Ganz gewiss hatte er nie vorgehabt, sie zu heiraten, das war ihm so wenig in den Sinn gekommen, hätte er gesagt, wie eine Reise zum Mond. Er kannte Deborah schon sein ganzes Leben, sie war die ältere Freundin seiner älteren Schwester gewesen und danach die treue Besucherin seiner Mutter; jung war sie in Gabriels Augen nie gewesen. Ihre unsinnlich strengen, unförmig langen Gewänder, stets schwarz oder grau, gehörten zu ihr, als wäre sie in ihnen geboren worden. Sie schien nur auf der Welt zu sein, um Kranke zu besuchen, Weinende zu trösten und die Sterbenden herzurichten.
Und dann war da noch die Legende, ihre Geschichte, die ausgereicht hätte, auch wenn sie nicht so vollkommen reizlos gewesen wäre, sie auf ewig der männlichen Begierde zu entziehen. Auf ihre stille, stoische Art schien sie das durchaus zu wissen: Während andere Frauen vielleicht gerade durch die Freude, die sie schenken und teilen konnten, ihren geheimnisvollen Reiz gewannen, trug sie nur die erlittene Schande in sich – Schande, mehr hatte sie nicht zu geben, wenn nicht ein Wunder menschlicher Liebe sie erlöste. Daher wandelte sie durch die kleine Gemeinde wie eine von Gott unerklärlich gezeichnete Frau, wie ein beklemmendes Beispiel an Demut oder eine heilige Närrin. Kein Schmuck zierte je ihren Körper, nichts klimperte oder glänzte an ihr, nichts war geschmeidig. Keine Schleife spielte mit ihrem unerbittlich tadellosen Kopf, ihr wollenes Haar trug nur ein Tröpfchen Öl. Sie klatschte nicht mit den anderen Frauen – hatte ja auch gar keinen Klatsch beizutragen –, beschränkte ihren Austausch auf »Yea« und »Nay«, las ihre Bibel und betete. Manche in der Gemeinde, sogar Männer, die das Evangelium verbreiteten, spotteten hinter ihrem Rücken über sie, doch es war ein nervöser Spott, denn nie konnten sie sich sicher sein, ob sie nicht die Heiligste unter ihnen verhöhnten, den besonderen Schatz des Herrn und sein heiligstes Werkzeug.
»Dich schickt wahrlich der liebe Gott, Sister Deborah«, sagte Gabriel manches Mal. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich anfangen würde.«
Denn sie unterstützte ihn fabelhaft in seinem neuen Leben, mit ihrem unerschütterlichen Glauben an Gott und ihrem Glauben an ihn legte sie, mehr noch als die Sünder, die nach seinen Predigten weinend zum Altar kamen, irdisches Zeugnis ab von seiner Berufung und untermauerte mit menschlichen Worten die enorme Aufgabe, die der Herr in Gabriels Hände gelegt hatte.
Sie blickte dann mit ihrem scheuen Lächeln zu ihm auf: »Nicht doch, Reverend, im Gegenteil: Ich knie niemals nieder, ohne dem Herrn für dich zu danken.«
Tatsächlich: Nie nannte sie ihn Gabriel oder »Gabe« – seit er angefangen hatte zu predigen, nannte sie ihn Reverend, denn sie wusste, dass es den Gabriel, den sie früher gekannt hatte, nicht mehr gab, er war jetzt ein neuer Mensch in Jesus Christus.
»Hast du in letzter Zeit was von Florence gehört?«, fragte sie manchmal.
»Gott, Sister Deborah, das sollte ich eigentlich dich fragen. Das Mädchen schreibt mir so gut wie nie.«
»Ich hab jetzt auch länger schon nichts mehr gehört.« Sie hielt inne. »Ich glaube, sehr glücklich ist sie nicht da oben.«
»Geschieht ihr recht – was muss sie hier auch einfach so wegrennen wie eine Verrückte.« Und dann fragte er hämisch: »Weißt du, ob sie schon verheiratet ist?«
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. »Florence denkt da nicht dran, an einen Ehemann.«
Er lachte. »Gott segne dein reines Herz, Sister Deborah. Aber wenn das Mädchen hier nicht weg ist, um sich einen Mann zu holen, heiße ich nicht Gabriel Grimes.«
»Wenn sie auf einen Mann aus gewesen wäre, dann hätte sie sich den doch wohl gleich hier aussuchen können. Du willst mir doch nicht erzählen, dass sie extra dafür ganz hoch ist in den Norden?«, fragte sie mit einem eigenartigen Lächeln, das nicht mehr ganz so weihevoll und distanziert war. Es stellte etwas Seltsames mit ihrem Gesicht an, fand er: Jetzt sah sie aus wie ein verängstigtes Kind.
»Na ja.« Er betrachtete sie jetzt aufmerksamer. »Florence waren die Nigger hier in der Gegend alle nicht gut genug.«
»Ob sie überhaupt einen Mann findet, der ihr gut genug ist? Sie ist so stolz – wahrscheinlich lässt sie einfach niemanden an sich ran.«
»Ja.« Er runzelte die Stirn. »Sie ist so stolz, dass der Herr sie eines Tages erniedrigen wird. Wirst schon sehen.«
»Ja.« Sie seufzte. »Es steht ja geschrieben, wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz.«
»Und Hochmut kommt vor dem Fall. So steht es geschrieben.«
»Ja.« Sie lächelte wieder. »Vor Gottes Wort gibt es keine Zuflucht, nicht wahr, Reverend? Man muss nur einfach danach leben, das ist alles – denn jedes Wort ist wahr, und nicht mal die Pforten der Hölle können dem standhalten.«
Er betrachtete sie mit einem Lächeln und empfand auf einmal große Zärtlichkeit. »Sieh zu, dass du im Wort bleibst, kleine Schwester. Des Himmels Fenster werden sich auftun und Segen herabschütten auf dich, dass du gar nicht weißt, wohin damit.«
Diesmal drückte ihr Lächeln besondere Freude aus. »Er hat mich schon gesegnet, Reverend. Er hat mich gesegnet, als er deine Seele gerettet und dich ausgeschickt hat, um das Evangelium zu predigen.«
»Sister Deborah«, sagte er langsam, »in der ganzen schlimmen Zeit – hast du da für mich gebetet?«
Ihre Stimme senkte sich kaum merklich. »Aber ja, Reverend. Deine Mutter und ich, wir haben die ganze Zeit gebetet.«
Er sah sie an, mit Dankbarkeit und einer jähen Eingebung: Sie hatte ihn immer wahrgenommen, sie hatte über ihn gewacht, und all die Jahre, in denen sie für ihn nur ein Schatten gewesen war, hatte sie für ihn gebetet. Und sie betete noch für ihn; ihre Gebete würden ihn ein Leben lang begleiten – das verriet ihm ihre Miene. Sie sagte nichts, und sie lächelte nicht, sah ihn nur an mit ihrer ernsten Freundlichkeit, ein wenig fragend jetzt, ein wenig scheu.
»Gott segne dich, Schwester«, sagte er schließlich.
Während dieses Gesprächs oder unmittelbar darauf wurde die Stadt Schauplatz einer gewaltigen Erweckungsversammlung. Evangelisten aus allen umliegenden Bezirken und weiter, aus Florida im tiefen Süden und Chicago im hohen Norden, kamen hier zusammen, um das Brot des Lebens zu brechen. Die Versammlung nannte sich Twenty-Four Elders Revival Meeting, und es war das Ereignis des Sommers. Vierundzwanzig Männer bekamen Gelegenheit zu predigen, jeder an einem Abend – um vor den Menschen zu glänzen und den himmlischen Vater zu preisen. In den Kreis der vierundzwanzig ansonsten durchweg einflussreichen Männer mit großer Erfahrung und verschiedentlich großem Ruhm wurde, zu seiner stolzen Verblüffung, auch Gabriel berufen. Es war eine große, eine gewichtige Ehre für einen so kürzlich bekehrten, einen so jungen Mann – der gestern noch in seinem Erbrochenen in der Gosse der Sünde gelegen hatte –, und Gabriel bebte das Herz vor Angst, als ihn die Einladung erreichte. Doch war ihm auch, als hätte die Hand Gottes ihn früh gewiesen, sich vor derart mächtigen Männern zu bewähren.
Ihm wurde der zwölfte Abend zugedacht. Für den Fall seines möglichen Scheiterns war er so von einer fast gleichen Zahl Schlachtrösser flankiert. Er würde vom Sturm profitieren, der gewiss vor ihm entfacht wurde, und sollte es ihm nicht gelingen, die Begeisterung spürbar zu steigern, konnten die anderen nach ihm seinen Auftritt vergessen machen.
Doch Gabriel wollte nicht, dass sein Auftritt – der wichtigste seiner bisherigen Laufbahn, von dem so viel abhing – vergessen wurde; er wollte sich nicht als bloßer Jüngling abtun lassen, der kaum mithalten, geschweige denn triumphieren konnte. Auf den Knien fastete er vor Gott und betete unermüdlich Tag und Nacht, Gott möge durch ihn wirken und allen Menschen zeigen, dass seine Hand tatsächlich über ihm, dass er der Gesalbte des Herrn war.
Unaufgefordert fastete Deborah mit ihm, betete und nahm seinen besten schwarzen Anzug an sich, damit er an seinem großen Tag sauber, ausgebessert und frisch gebügelt war. Unmittelbar danach nahm sie ihn erneut an sich, damit er nicht weniger hermachte an dem Sonntag des großen Essens, das die Versammlung offiziell beschließen würde. Dieser Sonntag sollte ein Festtag für alle sein, besonders aber für die vierundzwanzig Ältesten, die von der Gemeinde auf deren Kosten fürstlich bewirtet werden sollten.
Am Abend seiner Predigt ging er mit Deborah auf die große erleuchtete Logenhalle zu, die kurz zuvor noch eine Tanzkapelle beherbergt hatte und von der Gemeinde für die Dauer der Versammlung gemietet worden war. Der Gottesdienst hatte schon begonnen; Licht ergoss sich auf die Straße, Musik erfüllte die Luft, und Passanten blieben stehen, um zu lauschen und durch die halb geöffneten Türen zu spähen. Er wollte, dass alle eintraten, er wollte durch die Straßen laufen und alle Sünder mitschleifen, damit sie das Wort Gottes hörten. Doch als sie sich dem Eingang näherten, packte ihn wieder die Angst, die er so viele Tage und Nächte in Schach gehalten hatte; heute Abend würde er dort stehen, so hoch oben, ganz allein, um das Zeugnis zu bekräftigen, das ihm über die Lippen gekommen war: dass Gott ihn aufgerufen habe zu predigen.
»Sister Deborah«, sagte er plötzlich, als sie am Eingang standen, »setzt du dich hin, wo ich dich sehen kann?«
»Aber natürlich, Reverend«, sagte sie. »Geh einfach da hoch, und immer schön auf Gott vertrauen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, ließ sie am Eingang stehen und ging durch den Mittelgang zur Empore. Sie waren schon alle da, die zufriedenen, geweihten großen Männer, lächelten und nickten, als er die Stufen hinaufstieg; einer sagte mit Blick auf die Gemeinde, die so beschwingt war, wie ein Evangelist es sich nur wünschen konnte: »Wir bringen sie schon mal in Wallung, junger Mann. Wir wollen, dass sie bei dir richtig loslegen!«
Er lächelte, kurz bevor er sich an seinem thronartigen Stuhl zum Beten hinkniete, und dachte wie in den elf Nächten zuvor, dass die Ältesten an diesem heiligen Ort eine Unbefangenheit ausstrahlten, eine Leichtigkeit, die seine Seele ganz befangen machte. Von seinem Stuhl aus sah er, dass Deborah einen Platz in der ersten Reihe gefunden hatte, gleich unter der Kanzel; dort saß sie mit der Bibel im Schoß.
Nach Schriftlesung, Zeugnissen und Kollekte wurde er von dem Ältesten angekündigt, der am Vorabend gepredigt hatte, und auf einmal stand er und bewegte sich auf die Kanzel zu, auf der ihn die große Bibel erwartete und dahinter, steil unter ihm, die murmelnde Gemeinde; Panik ergriff ihn in dieser schwindelnden Höhe und zugleich eine unaussprechliche stolze Freude darüber, dass Gott ihn hergeführt hatte.
Er begann nicht mit einem aufpeitschenden Lied oder einem flammenden Zeugnis, sondern forderte die Gemeinde mit nüchterner, nur leicht zitternder Stimme auf, sich das sechste Kapitel von Jesaja anzuschauen und dort den fünften Vers; und er bat Deborah, die Stelle laut vorzulesen.
Sie las mit ungewohnt kräftiger Stimme: »Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn der Heerscharen, gesehen mit meinen Augen.«
Stille breitete sich im Saal aus, nachdem sie die Passage gelesen hatte. Kurz erschauderte Gabriel vor den Blicken, die auf ihn gerichtet waren, und den Ältesten, die hinter ihm saßen, und wusste nicht, wie er fortfahren sollte. Dann sah er Deborah an und legte los.
Diese Worte stammten vom Propheten Jesaja, genannt der Scharfsichtige, weil er die finsteren Jahrhunderte durchdrungen und die Geburt Christi vorausgesehen habe. Jesaja sei es auch, der prophezeit habe, ein jeglicher unter ihnen werde sein wie eine Zuflucht vor Wind und Wolkenbruch, Jesaja, der den heiligen Weg beschrieben und gesagt habe, wo es zuvor trocken gewesen sei, sollten Teiche stehen, und wo es dürr gewesen sei, sollten Brunnquellen sein: Das dürre Land werde fröhlich stehen und blühen wie die Lilien. Jesaja sei es, der prophezeit habe: »Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.« Dieser Mann, den Gott in Gerechtigkeit erweckt, den er für viele große Taten ausersehen hatte, habe im Angesicht der Herrlichkeit Gottes geschrien: »Weh mir!«
»Ja!«, rief eine Frau. »Genau!«
»In Jesajas Schrei steckt eine Lektion für uns alle, eine Botschaft für uns alle, eine Zumutung. Haben wir nie so geschrien, haben wir das Heil nie erfahren; können wir mit diesem Schrei nicht leben, stündlich, täglich, zur mitternächtlichen Stunde und am helllichten Mittag, hat uns das Heil verlassen, und wir stehen an der Schwelle zur Hölle. Ja, lobet den Herrn ewiglich! Wenn wir nicht mehr vor ihm erzittern, sind wir vom Weg abgekommen.«
»Amen«, rief eine Stimme von ganz hinten. »Amen! Erzähl’s uns, Junge!«
Er hielt nur kurz inne, um sich die Stirn abzuwischen, das Herz voll Furcht und Zittern und einem Gefühl von Macht.
»Bedenken wir stets, dass der Tod der Sünde Sold ist, dass geschrieben steht, unerbittlich, welche Seele sündigt, die soll sterben. Bedenken wir stets, dass wir in Sünde geboren sind, in Sünde haben unsere Mütter uns empfangen – die Sünde beherrscht uns bis in die Fingerspitzen, die Sünde fließt durch jedes unreine Herz, die Sünde blickt uns aus den Augen, amen, und führt zu Wollust, die Sünde sitzt in unseren Ohren und führt zu Torheit, die Sünde sitzt auf unserer Zunge und führt zu Mord. Ja! Die Sünde ist das einzige Vermächtnis des Menschen, die Hinterlassenschaft unseres leiblichen Vaters, jenes gefallenen Adam, dessen Apfel krank macht und noch viele Generationen krank machen wird und viele noch ungeborene Generationen! Die Sünde war es, die den Sohn der Morgenröte aus dem Himmel trieb, Sünde, die Adam aus dem Paradies vertrieb, Sünde, die Kain den Bruder töten ließ, Sünde, die den Turm zu Babel baute, Sünde, die das Feuer auf Sodom niedergehen ließ – Sünde, die Grundfeste der Welt, die in des Menschen Herz lebt und atmet, die Frauen ihre Kinder in Qualen und Finsternis hervorbringen lässt, Männer mit schrecklicher Fron den Rücken beugt, den leeren Magen leer lässt, den Tisch blank und unsere Kinder in Lumpen ins Hurenhaus schickt und in die Tanzhallen dieser Welt!«
»Amen! Amen!«
»Ach, weh mir. Weh mir. Ja, meine Lieben – es gibt keine Gerechtigkeit im Menschen. Die Herzen der Menschen sind böse, alle Menschen sind Lügner – nur Gott ist wahrhaftig. Hört David rufen: ›Der Herr ist mein Fels und meine Burg und mein Erretter. Gott ist mein Hort, auf den ich traue, mein Schild und Horn meines Heils, mein Schutz und meine Zuflucht.‹ Hört Hiob, der in Staub und Asche sitzt, seine Kinder tot, sein Hab und Gut dahin, umringt von falschen Tröstern: ›Siehe, auch wenn er mich umbringt, warte ich auf ihn.‹ Und hört Paulus, der einst Saulus war, Verfolger der Erlösten, der niedergestreckt wurde auf der Straße nach Damaskus und fortan das Evangelium predigte: ›Seid ihr aber Christi, so seid ihr ja Abrahams Same und nach der Verheißung Erbe.‹«
»O ja«, rief einer der Ältesten, »lobet den Herrn ewiglich!«
»Denn Gott hatte einen Plan. Er duldete nicht, dass die Menschenseele umkommt, und so bereitete er einen Plan für ihre Rettung. Im Anfang, vor langer Zeit, als er die Erde gründete, hatte Gott den Plan, amen!, alles Fleisch zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott – ja, und in ihm war Leben, halleluja!, und dieses Leben war das Licht des Menschen. Meine Lieben, als Gott sah, wie die Herzen der Menschen sich zum Bösen wandten, wie sie abwichen, jeder seines Wegs, wie sie freiten und freien ließen, wie sie tranken und gottlos prassten, wie sie gierten und Gott lästerten und in sündigem Hochmut ihre Herzen gegen den Herrn erhoben – ach, da wandte sich der Sohn Gottes, das gesegnete Lamm, das der Welt Sünde trägt, dieser Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort, die erfüllte Verheißung – ach, da wandte er sich zu seinem Vater und rief: ›Vater, bereite mir einen Leib, ich fahre hinab und erlöse die Sünder.‹«
»Frohlockt heute Abend, lobet den Herrn!«
»Ihr Väter, die ihr heute hier seid, ist euch je ein Sohn vom rechten Weg abgekommen? Mütter, habt ihr je miterleben müssen, wie eure Tochter in der stolzen Blüte ihrer Jugend gefällt wurde? Hat ein Mann hier je das Gebot vernommen, das Abraham angetragen wurde, seinen Sohn lebendig auf Gottes Altar zu opfern? Väter, denkt an eure Söhne, wie ihr um sie zittert und sie zu führen versucht, sie zu nähren versucht, damit sie stark werden; denkt an eure Liebe zu eurem Sohn und wie jedes Übel, das ihn heimsucht, euch das Herz bricht, und denkt an den Schmerz, den Gott ertrug, als er seinen eingeborenen Sohn hinabschickte, dass er auf der sündigen Erde unter Menschen weile, verfolgt werde, leide, das Kreuz trage und sterbe – nicht für seine eigenen Sünden wie unsere Söhne, sondern für die Sünden der ganzen Welt, um die Sünde der Welt auf sich zu nehmen – damit in unseren Herzen heute Abend die Freudenglocken klingen!«
»Lobet ihn!«, rief Deborah; noch nie hatte er ihre Stimme so laut gehört.
»Weh mir, denn als Gott den Sünder niederstreckte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah sich selbst in seiner ganzen Unreinheit nackt vor Gottes Herrlichkeit. Weh mir! Denn der Augenblick der Erlösung ist ein blendendes Licht, das vom Himmel ins Herz fährt – der Himmel so hoch, der Sünder so tief. Weh mir! Denn würde Gott den Sünder nicht aufrichten, er würde sich nie mehr erheben!«
»Ja, Herr! Du sagst es!«
Wie viele hier waren gefallen, wie Jesaja fiel? Wie viele hatten geschrien – wie Jesaja schrie? Wie viele konnten bezeugen wie Jesaja: »Mit meinen Augen habe ich den König, den Herrn der Heerscharen, gesehen«? Ach, wer auch immer dieses Zeugnis schuldig blieb, sollte niemals sein Angesicht schauen, sondern an jenem großen Tag hören: »Weiche von mir, Übeltäter«, und für immer in den feurigen Pfuhl geschleudert werden, der für Satan und all seine Engel bereitet wurde. Ach, wollte doch der Sünder sich heute Abend erheben und das kurze Stück zu seinem Heil gehen, hierher zum Gnadenstuhl!
Er wartete. Deborahs ruhiger, fester Blick ruhte auf ihm mit einem Lächeln. Er blickte in die emporgewandten Gesichter der Versammelten, sah Freude darin, heilige Erregung und Glaube – und alle sahen zu ihm auf. Dann stand ganz hinten ein Junge auf, ein großer, sehr dunkler Junge im weißen Hemd, der offene Kragen eingerissen, die Hose staubig und abgewetzt und mit einer alten Krawatte zusammengehalten, und der Junge sah über die unermessliche raunende Entfernung zu Gabriel und ging den langen, erleuchteten Gang hinunter. »Oh, lobet den Herrn!«, rief jemand, und Gabriel traten Tränen in die Augen. Schluchzend kniete der Junge vor dem Gnadenstuhl nieder, und die Gemeinde begann zu singen.
Da wandte sich Gabriel ab in der Gewissheit, dass der Abend gut gelaufen war, dass Gott durch ihn gewirkt hatte. Die Ältesten lächelten, und einer nahm ihn bei der Hand: »Das war prächtig, mein Junge. Prächtig.«
Dann kam der Sonntag des großen Festessens, das die Erweckungsversammlung beschließen sollte – und für das Deborah und all die anderen Frauen viele Tage lang gebacken, gebraten und gekocht hatten. Im Scherz revanchierte sich Gabriel für Deborahs Behauptung, er sei auf der Versammlung der beste Prediger gewesen, mit dem Hinweis, sie sei unter den Frauen die beste Köchin. Schüchtern gab sie zurück, bei seiner Schmeichelei sei er im Nachteil, denn sie habe ja alle Prediger gehört, während er schon sehr lange nur noch ihre Kochkünste genieße.
Als er sich an dem Sonntag erneut unter den Ältesten wiederfand und gerade zu Tisch gehen wollte, wurde Gabriels stolze Vorfreude auf einmal getrübt. Er fühlte sich nicht wohl in Gesellschaft dieser Männer – ja, es fiel ihm schwer, sie als erfahrener und im Glauben gefestigter anzusehen. Sie erschienen ihm so lax, beinahe weltlich; sie waren nicht wie die heiligen Propheten von einst, die im Dienste des Herrn dünn und nackt wurden. Diese hier, Gottes Diener, waren sogar fett geworden und kleideten sich ausgesucht. Sie waren schon so lange auf dem Feld des Herrn tätig, dass sie Gott nicht mehr fürchteten. Seine Macht war vielmehr etwas, das ihnen zustand und ihre souveräne Aura nur noch aufregender machte. Sie schienen jeweils einen Sack voller Predigten zu haben, die sie häufig benutzten, und mit einem müden Augenaufschlag einschätzen zu können, welche Gemeinde welche Predigt zu hören bekam. Obwohl sie mit großem Nachdruck predigten und Seelen vor dem Altar zur Demut brachten – so wie ein Lohnarbeiter täglich seine Ration Maiskolben kappt –, erwiesen sie Gott nicht die Ehre oder betrachteten es überhaupt als Ehre; ebenso gut hätte es sich bei ihnen um hoch bezahlte Zirkusartisten handeln können mit ihrer je aufsehenerregenden Gabe. Wenn sie zum Spaß die von ihnen geretteten Seelen gegeneinander aufrechneten, klangen sie dabei wie Buchmacher beim Zahlenvergleich. Gabriel fand das anstößig und beängstigend. Niemals wollte er mit Gottes Gabe so fahrlässig umgehen.
Sie, die Prediger, hatten den ersten Stock der Logenhalle für sich – die Handlanger im Weinberg des Herrn aßen unten –, und die Frauen trugen unentwegt üppig beladene Platten hoch und runter, damit auch ja alle satt wurden. Deborah war unter den Serviererinnen, und obwohl sie nichts sagte und trotz seines Unbehagens platzte er jedes Mal, wenn sie den Raum betrat, beinahe vor Stolz, den sie doch gewiss bei seinem Anblick empfand, so mannhaft und gelassen in seinem üblichen strengen Schwarzweiß unter all den Koryphäen. Wenn doch seine Mutter ihn so sehen könnte – ihren Gabriel, so hoch erhoben!
Gegen Ende der Mahlzeit allerdings, die Frauen hatten Kuchen, Kaffee und Sahne gebracht und noch kaum die Tür hinter sich geschlossen, als das Gespräch bei Tisch immer ausgelassener und zügelloser wurde, lachte einer der Ältesten, ein vergnügter, beleibter Mann mit gelblichen Haaren, dessen mit Sommersprossen wie von getrocknetem Blut übersätes Gesicht zweifellos auf eine stürmische Jugend schließen ließ, und sagte über Deborah, das sei aber mal eine Heilige! Sie habe so früh an der Milch des weißen Mannes würgen müssen, dass ihr Magen noch immer übersäuert sei und sie folglich außerstande, den satteren, süßeren Saft eines Niggers zu kosten. Am Tisch brüllte man vor Lachen, doch Gabriel gefror das Blut in den Adern; dass Gottes Diener sich solch abscheulicher Leichtfertigkeit schuldig machten und dass über die Frau, die Gott ihm zum Trost geschickt hatte, ohne deren Unterstützung er womöglich schon auf der Strecke geblieben wäre, so hergezogen wurde. Sie dachten wohl, ein bisschen unflätiges Gelächter unter sich könne nicht schaden, sie seien zu tief verwurzelt im Glauben, um sich von einem solch läppischen Klaps mit Satans Hammer zu Fall bringen zu lassen. Gabriel blickte in ihre lachenden feisten Gesichter; sie würden sich für eine Menge verantworten müssen am Jüngsten Tag, denn sie waren Stolpersteine im Weg des wahren Gläubigen.
Als der Mann mit den gelblichen Haaren Gabriels Fassungslosigkeit bemerkte, verbiss er sich sein Lachen und fragte: »Was ist los, mein Sohn? Ich hoffe, ich bin dir nicht zu nahe getreten?«
»Sie hat doch für dich aus der Bibel gelesen, oder, am Abend deiner Predigt?«, fragte ein anderer Ältester in versöhnlichem Ton.
»Diese Frau«, antwortete Gabriel mit einem Rauschen im Kopf, »ist meine Schwester im Herrn.«
»Na, Elder Peters hier, das hat er ja nicht gewusst«, sagte ein anderer. »Er hat es bestimmt nicht böse gemeint.«
»Du nimmst das doch jetzt aber nicht krumm?«, fragte Elder Peters freundlich – Gabriels gespannter Aufmerksamkeit entging trotzdem nicht der hartnäckige Spott in seinem Ausdruck und in seiner Stimme. »Du wirst uns doch unser kleines Essen hier nicht verderben.«
»Ich finde«, sagte Gabriel, »man soll über niemanden schlecht reden. Die Schrift sagt mir, man soll niemanden verspotten.«
»Jetzt vergiss aber mal nicht«, sagte Elder Peters so freundlich wie zuvor, »mit wem du sprichst.«
»Mir scheint«, sagte er, selbst erstaunt über seine Verwegenheit, »wenn ich mir ein Vorbild nehmen soll, solltet ihr auch ein Vorbild sein.«
»Na komm«, sagte ein anderer leutselig, »du willst diese Frau ja nicht heiraten oder so was – also kein Grund, dich aufzuregen und unser kleines Zusammentreffen hier zu verderben. Elder Peters hat es nicht böse gemeint. Wenn dir nie was Schlimmeres über die Lippen kommt, kannst du dich jetzt schon zu den Auserwählten zählen da oben im Königreich.«
Kurzes Gelächter brandete über den Tisch, und sie aßen und tranken weiter, als wäre die Sache damit erledigt.
Trotzdem hatte Gabriel das Gefühl, dass er sie überrascht hatte; er hatte sie erwischt, und sie waren ein wenig beschämt und verwirrt von seiner Reinheit. Auf einmal verstand er die Worte Christi: »Viele sind berufen, aber wenige auserwählt.« Ja, und er betrachtete die Anwesenden, die wieder ganz leutselig waren, aber jetzt auch auf der Hut vor ihm, und fragte sich, wer von ihnen in Herrlichkeit zur Rechten des Vaters sitzen werde.
Und als er noch einmal an Elder Peters’ polterndes Geschwätz dachte, schüttelten sich all die vagen Zweifel und Befürchtungen, die Zögerlichkeiten und Zärtlichkeiten zurecht, die er Deborah gegenüber empfand und die, wie er jetzt begriff, auf die Gewissheit hinausliefen, dass ihre Verbindung vorbestimmt war. So wie der Herr ihm Deborah geschickt hatte, um ihn aufrecht zu halten, hatte der Herr ihr Gabriel geschickt, um sie zu erheben, um sie von der Schmach in den Augen der Männer zu erlösen. Diese Vorstellung erfüllte ihn augenblicklich, ganz und gar mit der Wucht einer Vision: Gab es eine bessere Frau? Sie war nicht wie die tänzelnden Töchter Zions! Sie stolzierte nicht in aller Öffentlichkeit lüstern einher, mit schläfrigen Augen und vor Lust halb geöffnetem Mund, oder miaute unter mitternächtlichen Hecken, entblößt den hängenden Fluch eines schwarzen Jünglings entblößend! Nein, ihr Ehebett wäre heilig, und ihre Kinder würden die Linie der Gläubigen fortsetzen, eine königliche Linie. Hiervon befeuert regte sich in ihm ein niederes Feuer, das eine schlummernde Angst weckte, und er erinnerte sich (als die Tafel, die Prediger, das Essen und die Gespräche erneut auf ihn eindrangen) an Paulus’ Worte: »Es ist besser zu heiraten als in Begierde zu brennen.«
Allerdings würde er noch eine Weile stillhalten, um Gottes Anliegen weiter zu ergründen. Denn ihm fiel ein, wie viel älter sie war – acht Jahre –, und zum ersten Mal in seinem Leben versuchte er, sich die Schmach vorzustellen, zu der Deborah vor so vielen Jahren von weißen Männern gezwungen worden war: die Röcke über den Kopf gezerrt, Verborgenstes enthüllt – von weißen Männern. Wie vielen? Wie hatte sie es ertragen? Hatte sie geschrien? Dann stellte er sich vor (doch wirklich bekümmern konnte ihn das nicht, denn wenn Christus gekreuzigt werden konnte, um ihn zu retten, konnte er für Christi größere Herrlichkeit auch gern den Spott ertragen), welch amüsierte Blicke es auf sich ziehen würde, welch anstößige Spekulationen, die eben noch geschlummert hatten, über Nacht sprießen würden wie Jonas Rizinus, wenn sich herumsprach, dass Deborah und er heiraten würden. Sie, einst der lebende Beweis und die Zeugin ihrer täglichen Schande und jetzt ihre heilige Närrin, und er, einst unzähmbarer Plünderer ihrer Töchter, Dieb ihrer Ehefrauen, ihr wandelnder Fürst der Finsternis! Lächelnd betrachtete er die wohlgenährten Gesichter der Ältesten und ihre mahlenden Kiefer – unheilige Pastoren allesamt, untreue Haushalter; er betete, niemals möge er so feist werden oder so geil, Gott möge im Gegenteil mächtig durch ihn wirken: durch diesen schönen, mächtigen, feierlichen Beweis vielleicht bis in ungeborene Zeiten hinein von seiner ewigen Liebe und Gnade künden. Er zitterte, denn seine Gegenwart umgab ihn nun; es hielt ihn kaum auf seinem Stuhl. Er spürte, dass Licht vom Himmel auf ihn leuchtete, auf ihn, den Auserwählten; er spürte es, wie einst Christus es im Tempel gespürt haben musste, im Angesicht seiner so gründlich verwirrten Ältesten, und er sah auf ungeachtet ihrer Blicke, ungeachtet ihres Räusperns und der Stille, die sich plötzlich auf die Tafel senkte, und dachte: »Ja. Die Wege des Herrn sind unergründlich, seine Wunder zu vollbringen.«
»Sister Deborah«, sagte er später am Abend, als er sie nach Hause brachte, »der Herr hat mir etwas auferlegt, und ich möchte, dass du mir beten hilfst, damit er mich richtig führt.«
Er fragte sich, ob sie seine Gedanken erahnte. Ihr Gesicht, das ihm jetzt zugewandt war, drückte nur Geduld aus. »Ich bete die ganze Zeit«, sagte sie. »Aber wenn du es möchtest, werde ich diese Woche besonders eifrig beten.«
In dieser Zeit des Gebets hatte Gabriel einen Traum.
Er konnte sich später nicht erinnern, wie der Traum angefangen hatte, was passierte, wer bei ihm war; an gar keine Einzelheiten konnte er sich erinnern. Denn eigentlich waren es zwei Träume gewesen, der erste wie eine dunkel verschwommene höllische Vorahnung des zweiten. Vom ersten Traum, dem Auftakt, war ihm nur die Stimmung geblieben, eine Stimmung, die der seines Tages entsprach – schwermütig, überall Gefahr witternd mit Satan im Nacken, der ihn zu Fall bringen wollte. Als er in jener Nacht zu schlafen versuchte, schickte ihm Satan Dämonen ans Bett – alte Freunde von einst, mit denen er nichts mehr zu tun hatte, Trinkgelage und Zockereien, die er tief in der Versenkung gewähnt, und Frauen, die er einmal gekannt hatte. Die Frauen waren so deutlich, dass er sie beinahe anfassen konnte; er hörte ihr Lachen, ihr Seufzen und fühlte seine Hände auf ihren Schenkeln und Brüsten. Obwohl er die Augen schloss und Jesus anrief – immer wieder den Namen Jesu rief –, wurde sein heidnischer Leib steif und loderte, während die Frauen lachten. Und sie fragten ihn, weshalb er allein in seinem schmalen Bett blieb, wo sie doch auf ihn warteten, weshalb er seinen Körper in die Rüstung der Keuschheit zwängte, während sie sich stöhnend in ihren Betten wälzten und sich nach ihm verzehrten. Und er stöhnte und wälzte sich, jede Bewegung eine Qual, jede Berührung auf den Laken eine unzüchtige Liebkosung – widerwärtiger, so dachte er, als jede Liebkosung, die er in seinem Leben empfangen hatte. Er ballte die Fäuste und beschwor das Blut, um die Heerscharen der Hölle auszutreiben, doch auch diese Regung war wieder eine Regung, und schließlich sank er auf die Knie, um zu beten. Allmählich fiel er in unruhigen Schlaf – erst war es, als würde er gesteinigt, dann befand er sich in einer Schlacht, dann schiffbrüchig im Wasser –, und auf einmal erwachte er und wusste, dass er geträumt hatte, denn seine Lenden waren von seinem weißen Samen bedeckt.
Zitternd stand er auf und ging sich waschen. Es war eine Warnung, das wusste er, und er meinte vor sich die Grube zu sehen, die Satan gegraben hatte – tief und lautlos wartete sie auf ihn. Er dachte an den Hund, der zu seinem Erbrochenen zurückkehrt, und an den Mann, der geläutert war und fiel, von sieben Teufeln besessen und am Ende in schlimmerem Zustand war als am Anfang. Auf Knien an seinem kalten Bett, das Herz beinahe zu aufgewühlt zum Beten, dachte er schließlich an Onan, der seinen Samen über den Boden versprengt hatte, statt die brüderliche Linie fortzusetzen. Aus dem Hause Davids, Abrahams Sohn. Und er rief erneut den Namen Jesu; und schlief wieder ein.
Er träumte, er sei an einem hochgelegenen kalten Ort, auf einem Berg vielleicht. Es war hoch, so hoch, dass er in Nebel und Wolken lief, vor ihm aber erstreckte sich der kahle Aufstieg, eine steile Bergflanke. Eine Stimme sagte: »Hier hinauf.« Und er fing an zu klettern. Nach einer Weile, an den Felsen geklammert, sah er nur noch Wolken über sich und Nebel unter sich – und er wusste, hinter der Nebelwand herrschte das Feuer. Er geriet ins Rutschen, Fels und Geröll rumorten unter seinen Füßen, er blickte zitternd auf, in Todesangst, und rief: »Herr, ich kann nicht weiter hinauf.« Doch kurz darauf wiederholte die Stimme mit leisem, unabweislichem Nachdruck: »Komm, mein Sohn. Hier hinauf.« Da wusste er, wenn er nicht in den Tod stürzen wollte, musste er der Stimme gehorchen. Er kletterte weiter, seine Füße rutschten wieder ab, und als er gerade dachte, er würde fallen, tauchten vor ihm grüne Dornenblätter auf; er griff nach den Blättern, die sich in seine Hand bohrten, und die Stimme sagte wieder: »Hier hinauf.« Gabriel kletterte, der Wind blies ihm in die Kleider, seine Füße begannen zu bluten, und seine Hände bluteten; er kletterte weiter, ihm war, als würde der Rücken brechen, seine Beine wurden taub, sie zitterten und gehorchten ihm nicht, und noch immer waren nur Wolken über ihm und unter ihm der brausende Nebel. Wie lange er in seinem Traum geklettert war, wusste er nicht, doch auf einmal taten sich die Wolken auf, Sonne umstrahlte ihn wie eine Krone der Ehre, und er stand auf einem friedlichen Feld.
Er ging los. Er trug jetzt ein langes weißes Gewand. Er hörte Gesang: Ging ich durchs Tal, so schön und fein, fragt ich den Herrn, ist all das mein. Aber er wusste, dass es seins war. Eine Stimme sagte: »Folge mir.« Und er ging weiter und fand sich wieder am Rand einer Höhe, doch gebadet, gesegnet und verklärt im flammenden Sonnenlicht, sodass er dastand wie Gott, ganz golden, und hinunterblickte, hinunter auf die lange Bahn, die er gelaufen, die steile Wand, die er geklettert war. Und diesen Berg hinauf kamen jetzt in weißen Gewändern singend die Auserwählten. »Rühr sie nicht an«, sagte die Stimme, »sie tragen mein Zeichen.« Und Gabriel wandte sich um und fiel auf sein Angesicht, und die Stimme sagte: »Also soll dein Same werden.« Da wachte er auf. Der Morgen war angebrochen, er lag im Bett und dankte Gott unter Tränen für die Vision, die er empfangen hatte.
Als er zu Deborah ging und ihr sagte, der Herr habe ihm geboten, sie zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle, seine heilige Gehilfin, begegnete ihm, so schien es, einen Moment lang sprachloses Entsetzen. Noch nie hatte er an ihr einen solchen Ausdruck gesehen. Zum ersten Mal überhaupt fasste er sie an, legte die Hände auf ihre Schultern und dachte, welch unsanfte Berührung diese Schultern einst ertragen hatten und wie sie nun in Ehren gehalten würde. Und er fragte: »Du hast doch keine Angst, Sister Deborah? Du musst doch keine Angst haben.«
Da bemühte sie sich um ein Lächeln und fing stattdessen an zu weinen. Mit einem so heftigen wie zaghaften Ruck ließ sie ihren Kopf auf seine Brust fallen.
»Nein«, brachte sie heraus, dumpf in seine Arme hinein. »Ich hab keine Angst.« Aber sie hörte nicht auf zu weinen.
Er strich ihr über den groben gebeugten Kopf. »Gott segne dich, mein Mädchen«, sagte er hilflos. »Gott segne dich.«
Die Stille in der Kirche brach auf, als Brother Elisha auf Knien neben dem Klavier laut rief und von der Kraft des Herrn zu Boden geworfen wurde. Sofort riefen zwei, drei weitere Gläubige, und ein Wind, Vorbote des großen Unwetters, auf das alle warteten, zog durch die Kirche. Mit diesem Ruf und den Antwortrufen ging die Versammlung von ihrem ersten Stadium mit stetem Gemurmel, unterbrochen von Seufzern und vereinzelten Rufen hier und da, ins Stadium der Tränen und des Stöhnens, der Schreie und des Singens über, das den Wehen einer Frau kurz vor der Niederkunft glich. Nur war auf dieser Tenne das Neugeborene die Seele, die nach dem Licht strebte, und in den Wehen lag die Kirche, presste ununterbrochen und rief dabei den Namen Jesu. Als Brother Elisha zu Boden fiel, stand Sister McCandless auf und stellte sich neben ihn, um ihm beim Beten beizustehen. Denn die Wiedergeburt der Seele war ein immerwährender Prozess; nur die stündliche Wiedergeburt konnte Satan Einhalt gebieten.
Sister Price fing an zu singen:
I want to go through, Lord.
I want to go through.
Take me through, Lord,
Take me through.
Eine einsame Stimme, zu der sich andere gesellten, unter ihnen auch die zaghafte Stimme von John. Gabriel erkannte sie. Elishas Ausruf hatte Gabriel auf der Stelle ins Hier und Jetzt zurückgeholt und ihm die Furcht eingegeben, es könne John sein, den er da hörte, John, der von der Kraft Gottes überwältigt am Boden lag. Beinahe hätte er aufgeblickt und sich umgesehen, doch als ihm klar wurde, dass es Elisha war, verflog seine Furcht.
Have your way, Lord,
Have your way.
Von Gabriels Söhnen war keiner hier, keiner von ihnen hatte je auf dieser Tenne geschrien. Der eine war seit vierzehn Jahren tot – gestorben in einer Kneipe in Chicago mit einem Messer in der Kehle. Und der Sohn, der noch lebte, war schon jetzt hitzköpfig und hartherzig: Er lag stumm zu Hause in bitterem Zorn auf seinen Vater mit einem Verband um den Kopf. Sie waren nicht hier. Nur der Sohn der Magd stand dort, wo der rechtmäßige Erbe stehen sollte.
I’ll obey, Lord,
I’ll obey.
Eigentlich sollte er aufstehen und für Elisha beten – wenn ein Mann rief, gehörte es sich, dass ein anderer für ihn zum Fürbitter wurde. Wie bereitwillig er doch aufstehen, mit welcher Inbrunst er beten würde, wenn es nur sein Sohn wäre, der heute Abend dort am Boden lag. Aber Gabriel blieb, mit gesenktem Kopf, auf den Knien. Jeder Schrei vom gefällten Elisha durchfuhr ihn. Er hörte den Schrei seines toten Sohnes und den seines lebenden Sohnes; des einen, der auf ewig in der Hölle schrie, ohne Hoffnung auf Gnade, und des anderen, der eines Tages schreien würde, wenn die Gnade aufgebraucht war.
Gabriel versuchte, nachdem er Zeugnis abgelegt und so viele Gunstbezeigungen von Gott empfangen hatte, sich zwischen den lebenden Sohn und die Finsternis zu stellen, die darauf aus war, ihn zu verschlingen. Der lebende Sohn hatte ihn verflucht – du Bastard –, und sein Herz war fern von Gott; es konnte nicht sein, dass der Fluch, den er heute Abend aus Roys Mund gehört hatte, nur eine Wiederholung jenes so weit, so lange nachhallenden Fluchs war, den die Mutter seines Erstgeborenen ausgesprochen hatte, als sie das Kind ausstieß – um unmittelbar darauf selbst, den Fluch noch auf den Lippen, in die Ewigkeit zu verschwinden. Ihr Fluch hatte den ersten Royal verschlungen; er war in Sünde empfangen worden und in Sünde zugrunde gegangen, es war Gottes Strafe, und sie war gerecht. Doch Roy war im Bett der Ehe empfangen worden, dem Bett, das Paulus heilig nannte, und ihm war das Königreich verheißen. Es konnte nicht sein, dass der lebende Sohn um der Sünden des Vaters willen verflucht war, denn Gott hatte ihm nach viel Grimmen, nach vielen Jahren ein Zeichen gesandt, dass ihm vergeben war. Aber vielleicht war ja der lebende Sohn, dieser hitzköpfige, lebende Roy um der Sünde seiner Mutter willen verflucht, einer Sünde, die nie aufrichtige Reue erfahren hatte; und der lebende Beweis ihrer Sünde, er, der heute Abend hier kniete, ein Eindringling unter den Gläubigen, stand zwischen ihrer Seele und Gott.
Ja, sie war hartherzig, halsstarrig und stur, diese Elizabeth, die er geheiratet hatte: So hatte sie nicht gewirkt, vor Jahren, als der Herr sein Herz bewogen hatte, sie aufzuheben, sie und das namenlose Kind, das heute seinen Namen trug. Und es war genau wie sie, still, wachsam, voll niederträchtigem Stolz – eines Tages würden sie hinausgejagt in die äußerste Finsternis.
Einmal hatte er Elizabeth gefragt – da waren sie schon lange verheiratet und Roy noch ein Baby, und Elizabeth war hochschwanger mit Sarah –, ob sie ihre Sünde aufrichtig bereut habe.
Sie sah ihn an: »Das hast du mich schon mal gefragt. Und ich hab dir schon mal Ja gesagt.«
Aber er glaubte ihr nicht. »Du würdest es also nicht noch mal tun? Wenn du wieder da wärst, wo du damals warst, wie du damals warst – würdest du es noch mal tun?«
Sie senkte den Blick und sah ihm dann ungeduldig in die Augen. »Also, wenn ich da wäre, Gabriel, und dieselbe junge Frau! …«
Es folgte ein langes Schweigen, und sie wartete. Dann fragte er beinahe widerwillig: »Und … würdest du ihn noch mal auf die Welt bringen?«
Gefasst antwortete sie: »Ich weiß, du verlangst nicht von mir, dass ich sage, es tut mir leid, dass ich Johnny auf die Welt gebracht habe. Oder?« Und als er nicht antwortete: »Und noch was, Gabriel: Du bringst mich auch nicht dazu, dass es mir leidtut. Du nicht und auch nichts und niemand anders auf der Welt. Wir haben zwei Kinder, Gabriel, und bald haben wir drei, und ich mach keinen, überhaupt keinen Unterschied zwischen ihnen und du auch nicht.«
Aber wie sollte es keinen Unterschied geben zwischen dem Sohn einer schwachen, stolzen Frau und eines achtlosen jungen Mannes und dem Sohn, den Gott ihm verheißen hatte, der seines Vaters Namen freudig weitertragen und bis zum Tag der Wiederkunft danach streben würde, seines Vaters Königreich wieder aufzurichten? Denn das hatte Gott ihm vor so vielen Jahren versprochen, und nur dafür hatte er gelebt – indem er der Welt und ihren Freuden und den Annehmlichkeiten seines Lebens entsagte, hatte er all die bitteren Jahre ausgeharrt, damit das Wort des Herrn sich erfülle. Er hatte Esther sterben lassen, Royal war gestorben, Deborah war unfruchtbar gestorben – und doch hatte er festgehalten am Versprechen; er war vor Gott in aufrichtiger Reue gewandelt, mit dem Versprechen im Blick. Und die Zeit der Erfüllung stand doch gewiss bevor. Er musste nur seiner Seele Geduld abringen und vor dem Herrn warten.
Seine Gedanken, eben noch voller Bitterkeit bei Elizabeth, schweiften jetzt erneut in die Vergangenheit, zu Esther, der Mutter seines ersten Royal. Er sah sie vor sich – und die stummen, bleichen, erschrockenen Geister der Wonne und Begierde rumorten noch in ihm –, eine schlanke, temperamentvolle junge Frau mit dunklen Augen und einem indianischen Schlag in Wangenknochen, Haar und Haltung; sie betrachtete ihn mit einer Mischung aus Spott, Zuneigung, Begehren, Ungeduld und Verachtung und war in flammende Farben gekleidet, die sie in Wahrheit eher selten getragen hatte, in denen er sie aber immer vor sich sah. Im Geiste verband er sie mit Feuer, mit flammendem Herbstlaub und der flammenden Sonne, die abends über dem fernsten Hügel unterging, und mit dem ewigen Feuer der Hölle.
Kurz nach seiner Hochzeit mit Deborah war sie in die Stadt gezogen und hatte eine Stelle als Dienstmädchen bei der weißen Familie angenommen, für die auch er arbeitete. Daher sah er sie ständig. Immer warteten junge Männer an der Hintertür, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war: Dann sah Gabriel sie am Arm eines jungen Mannes in die Abenddämmerung spazieren, und ihre Stimmen und ihr Lachen wurden zu ihm zurückgetragen wie eine Verhöhnung seiner Lage. Er wusste, dass sie bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater wohnte, sündigen Leuten, die sich dem Alkohol und dem Glücksspiel hingaben, dem Ragtime und dem Blues und bis auf Weihnachten und Ostern nie in die Kirche gingen.
Er bekam Mitleid mit ihr, und eines Tages forderte er sie auf, am Abend in die Kirche zu kommen, wo er predigen werde. Da sah sie ihn zum ersten Mal richtig an – es fiel ihm gleich auf, und er sollte noch viele Tage und Nächte an diesen Blick denken.
»Sie predigen im Ernst heute Abend? So ein hübscher Mann und Prediger?«
»Mit Gottes Hilfe«, sagte er mit bleischwerem Ernst, der an Feindseligkeit grenzte. Zugleich weckten der Blick und die Stimme etwas in ihm, das er für immer tief begraben geglaubt hatte.
»Na, mit Vergnügen«, sagte sie nach kurzem Zögern und schien den Übermut zu bereuen, aus dem sie ihn einen »hübschen« Mann genannt hatte.
»Können Sie sich denn heute Abend freimachen?« Die Frage konnte er sich nicht verkneifen.
Und sie lächelte, entzückt von dem, wie sie meinte, versteckten Kompliment. »Na, keine Ahnung, Reverend, aber versuchen kann ich’s ja mal.«
Am Ende des Tages verschwand sie am Arm eines weiteren jungen Mannes. Gabriel glaubte nicht, dass sie kommen würde, und das drückte ihn so seltsam nieder, dass er beim Abendessen kaum mit Deborah reden konnte. Schweigend gingen sie zur Kirche. Deborah betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, wie es ihre aufreizend stumme Gewohnheit war. So drückte sie ihren Respekt vor seiner Berufung aus, und wäre ihm jemals in den Sinn gekommen, ihr dies vorzuhalten, sie hätte vorgebracht, ihn nicht ablenken zu wollen, wenn der Herr ihm etwas auferlegt hatte. Da er heute Abend predigen sollte, sprach der Herr doch zweifellos mehr als sonst, und für sie als Gehilfin des Gesalbten des Herrn, als Hausmeisterin sozusagen des geheiligten Tempels, ziemte es sich also zu schweigen. Dabei hätte er sich gern mit ihr unterhalten. Er hätte sie gern so viel gefragt, ihrer Stimme gelauscht und ihr Gesicht betrachtet, während sie ihm von ihrem Tag erzählte, ihren Hoffnungen, ihren Zweifeln und ihrer Liebe. Doch Deborah und er unterhielten sich nie. Die Stimme, der er im Geiste lauschte, und das Gesicht, das er mit so viel Liebe und Hingabe betrachtete, gehörten nicht Deborah, sondern Esther. Wieder durchlief ihn dieser seltsame Schauer, der von Lust und Unheil kündete: Und da hoffte er, sie möge nicht kommen, etwas möge passieren, das verhinderte, dass er sie jemals wiedersah.
Aber sie kam; spät, eben bevor der Pastor der Gemeinde den Redner des Abends ankündigte. Sie kam nicht allein, sondern mit ihrer Mutter – mit welchen Aussichten Esther sie hergelockt hatte, vermochte Gabriel sich nicht vorzustellen, auch nicht, wie sie den jungen Mann von zuvor losgeworden war. War sie aber, sie war hier, lieber hörte sie ihn also das Evangelium predigen, als mit anderen der Fleischeslust zu frönen. Sie war hier, und ihm wurde leicht ums Herz; etwas zerbarst in seinem Herzen, als die Tür sich öffnete und sie mit gesenktem Blick und leisem Lächeln auf einen Platz in den hinteren Reihen zusteuerte. Sie sah ihn nicht an, und doch wusste er gleich, dass sie ihn gesehen hatte. Augenblicklich stellte er sich vor, wie sie von seiner Predigt angezogen vor dem Altar auf die Knie ging, gefolgt von ihrer Mutter und dem spielsüchtigen, großmäuligen Stiefvater, den Esther auch noch zum Gottesdienst des Herrn bringen würde. Köpfe drehten sich, als sie hereinkamen, und ein kaum hörbares Gemurmel von Freude und Verblüffung wanderte durch die Kirche. Sünder waren gekommen, um dem Wort Gottes zu lauschen.
Und in der Tat sprach aus ihrer Aufmachung die Sündhaftigkeit ihres Lebens: Esther trug einen blauen Hut mit vielen Bändern und ein schweres weinrotes Kleid, und ihre Mutter, die wuchtig war und dunkler als Esther, hatte große goldene Ohrringe in ihren durchstochenen Ohrläppchen und eine Ausstrahlung, wie er sie von den Frauen in den Freudenhäusern kannte – leicht anrüchig und nachlässig gekleidet. Sie saßen hinten, unbeweglich und unbehaglich wie Schwestern der Sünde, wie die leibhaftige Herausforderung der grauen Frömmigkeit der Gläubigen. Als Deborah sich nach ihnen umdrehte, sah Gabriel erstmals, so schien ihm, wie schwarz und knochig seine Frau war und wie wenig begehrenswert. Deborah betrachtete ihn mit stiller Wachsamkeit; er spürte, wie die Hand, die seine Bibel hielt, anfing zu schwitzen und zu zittern, und er dachte an das freudlose Ächzen ihres Ehebetts, und er hasste sie.
Da erhob sich der Pastor. Während er sprach, hatte Gabriel die Augen geschlossen. Er fühlte, wie ihm die Worte, die er sagen wollte, davonflogen, er fühlte die Kraft Gottes von ihm weichen. Dann schwieg der Pastor, und in der Stille öffnete Gabriel die Augen; alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Er stand auf und trat vor die Gemeinde.
»Meine Lieben im Herrn«, hob er an – doch ihr Blick ruhte auf ihm, dieses seltsame, dieses spöttische Licht –, »lasst uns beten.« Und er schloss die Augen und senkte den Kopf.
An diese Predigt erinnerte er sich später wie an einen Sturm. Von dem Augenblick an, da er den Kopf hob und erneut in die Gesichter blickte, löste sich seine Zunge, und die Kraft des Heiligen Geistes erfüllte ihn. Ja, die Kraft des Herrn war mit ihm an diesem Abend, und er hielt eine Predigt, an die man sich in Zeltversammlungen und Hütten erinnern würde und die den Gastevangelisten der kommenden Generation ein Maß vorgab. Noch Jahre später, als Esther, Royal und Deborah tot waren und Gabriel den Süden verließ, erinnerte man sich an diese Predigt und an den hageren, besessenen jungen Mann, der sie gehalten hatte.
Seine Predigt kreiste um das achtzehnte Kapitel des zweiten Buchs Samuel, die Geschichte des jungen Ahimaaz, der zu früh losgelaufen war, um König David die Kunde vom Krieg zu überbringen. Bevor er loslief, fragte ihn Joab: »Was willst du laufen, mein Sohn? Komm her, die Botschaft wird dir nichts einbringen.« Und als Ahimaaz bei König David ankam, der sehnsüchtig auf Nachricht von seinem hitzköpfigen Sohn Absalom wartete, konnte er nur sagen: »Ich sah ein großes Getümmel und weiß nicht, was es war.«
Und das war die Geschichte all jener, die nicht warten konnten auf den Rat des Herrn! Die sich weise dünkten und losrannten ohne Botschaft. Es war die Geschichte unzähliger Hirten, die in ihrem Hochmut versäumten, ihre hungrigen Schafe zu füttern, die Geschichte vieler Väter und Mütter, die ihren Kindern nicht Brot zu essen gaben, sondern einen Stein, die nicht die Wahrheit Gottes vermittelten, sondern den Flitter dieser Welt. Das war nicht Glaube, sondern Unglaube, nicht Demut, sondern Stolz: Im Herzen eines solchen herrschte dasselbe Verlangen, das den Sohn der Morgenröte vom Himmel in die Tiefen der Hölle geschleudert hatte, das Verlangen, die uns von Gott bemessene Zeit zu umgehen und ihm, der alle Macht in Händen hielt, Macht zu entreißen, die für Menschen nicht taugt. Aber ja, sie hatten es gesehen, alle Brüder und Schwestern, auf die heute Abend seine Stimme traf, und sie hatten die Zerstörung gesehen, die solch beklagenswerte Unreife anrichtete! Kinder, die vaterlos nach Brot schrien, Mädchen in der Gosse, krank vor Sünde, und junge Männer, die auf frostigen Feldern verbluteten. Ja, und da waren jene, die riefen – sie hatten es zu Hause gehört, an der Straßenecke und sogar von der Kanzel –, man solle nicht länger warten, derart verachtet, abgewiesen und bespuckt, sondern heute noch aufstehen, um die Mächtigen zu Fall zu bringen, die Rache zu fordern, die Gott beanspruchte. Doch Blut schrie nach Blut, so wie Abels Blut aus dem Boden schrie. Nicht umsonst stand geschrieben: »Wer glaubt, der flieht nicht.« Ach, aber manchmal war es ein steiniger Weg. Glaubten sie manchmal, Gott habe sie vergessen? Ach, kniet nieder und betet um Geduld; kniet nieder und betet um Vertrauen; kniet nieder und betet um die Kraft zur Überwindung, um bereit zu sein für sein baldiges Erscheinen, die Krone des Lebens zu erhalten. Denn Gott vergisst nicht, kein Wort aus seinem Mund kann fehlgehen. Besser warten wie Hiob, all die uns bemessenen Tage ausharren, bis unsere Ablösung kommt, als unvorbereitet aufzustehen, bevor Gott spricht. Denn wenn wir demütig warten vor dem Herrn, wird er unserer Seele frohe Kunde tun; wenn wir nur warten, kommt unsere Ablösung, und zwar augenblicklich, in einem Wimpernschlag – eines Tages werden wir für immer von der Verderbtheit zur Unverderbtheit gewandelt, hinaufgehoben zu ihm hinter den Wolken. Und dies ist die Botschaft, die wir in alle Welt hinaustragen müssen: Ein weiterer Sohn Davids wurde aufgeknüpft an einem Baum, und wer nicht weiß, was dieses Getümmel bedeutet, soll auf immer verflucht sein in der Hölle! Bruder, Schwester, lauft nur, aber der Tag wird kommen, da euch der König fragt: »Welche Botschaft bringst du?« Und was sagt ihr an jenem großen Tag, wenn ihr nichts wisst vom Tod seines Sohnes?
»Ist eine Seele unter uns heute Abend« – Tränen liefen ihm übers Gesicht und er stand vor ihnen mit ausgebreiteten Armen –, »die nicht weiß, was das Getümmel bedeutet? Ist eine Seele unter uns heute Abend, die zu Jesus sprechen will? Wer will harren vor dem Herrn, amen, bis er spricht? Bis er in eurer Seele, amen, die frohe Kunde ihrer Erlösung klingen lässt? Ach, Brüder und Schwestern« – und noch immer erhob sie sich nicht, sondern beobachtete ihn nur von ferne – »die Zeit wird knapp. Eines Tages wird er zurückkehren, um über die Völker zu richten, um seinen Kindern, halleluja, den Frieden zu bringen. Es heißt, gelobt sei Gott, zwei werden auf dem Felde sein, einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden. Zwei werden, amen, auf einem Bette liegen, einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden. Er kommt, meine Lieben, wie ein Dieb in der Nacht, und keiner kennt die Stunde seines Kommens. Dann wird es zu spät sein, um ›Herr, sei mir gnädig‹ zu rufen. Wappnet euch jetzt, amen, heute Abend, vor seinem Altar. Will niemand vortreten heute Abend? Will niemand Nein sagen zu Satan und sein Leben in die Hände des Herrn geben?«
Doch sie erhob sich nicht, sah ihn nur an und blickte sich mit heiterem, zufriedenem Interesse um, als säße sie im Theater und wartete gespannt darauf, welch vorzügliche Überraschung ihr als Nächstes geboten würde. Im Grunde wusste er, dass sie sich niemals erheben und den langen Gang zum Gnadenstuhl durchschreiten würde. Und das erfüllte ihn einen Augenblick mit heiligem Zorn – dass sie inmitten der Gemeinde der Gerechten sich so schamlos weigerte, den Kopf zu beugen.
Er sagte Amen, segnete die Gläubigen und drehte sich um, und sofort begann die Gemeinde zu singen. Jetzt fühlte er sich wieder krank und ausgelaugt; er war schweißgebadet und roch seinen eigenen Körper. Deborah, die in der ersten Reihe saß und das Tamburin schlug, beobachtete ihn. Auf einmal fühlte er sich wie ein hilfloses Kind. Am liebsten hätte er sich für immer versteckt und nie wieder aufgehört zu weinen.
Esther und ihre Mutter verließen die Kirche während des Gesangs – sie waren also nur gekommen, um ihn predigen zu hören. Er hatte keine Vorstellung davon, was sie jetzt sagen oder denken mochten. Und er dachte an morgen, da er sie zwangsläufig wiedersah.
»Ist das nicht die Kleine, die im selben Haus arbeitet wie du?«, fragte ihn Deborah auf dem Nachhauseweg.
»Ja«, sagte er. Jetzt war ihm nicht nach Reden. Er wollte nach Hause, seine nassen Kleider ausziehen und schlafen.
»Hübsches Ding«, sagte Deborah. »Ich hab sie noch nie hier gesehen in der Kirche.«
Er sagte nichts.
»Hast du sie eingeladen heute Abend?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ja. Ich dachte mir, das Wort Gottes könnte vielleicht nicht schaden.«
Deborah lachte. »Sieht nicht so aus, oder? Sie ist genauso frech und sündig gegangen, wie sie gekommen ist – sie und diese Mutter. Und du hast eine mächtig gute Predigt gehalten. Offenbar steht ihr einfach nicht der Sinn nach dem Herrn.«
»Die Menschen haben keine Zeit für den Herrn«, sagte er, »und eines Tages hat er keine Zeit mehr für sie.«
Als sie nach Hause kamen, bot sie ihm einen heißen Tee an, aber er lehnte ab. Schweigend zog er sich aus – was sie wie üblich hinnahm – und ging ins Bett. Schließlich legte sie sich zu ihm wie eine Bürde, die, am Abend abgelegt, am Morgen wieder aufgenommen werden muss.
Als Esther am nächsten Morgen zu ihm in den Hof kam, wo er gerade Holz für den Stapel hackte, sagte sie: »Guten Morgen, Reverend. Damit hab ich ja nicht gerechnet, dass ich Sie heute sehe. Ich dachte, nach der Predigt, da sind Sie ja bestimmt ganz erschöpft – predigen Sie immer so heftig?«
Mit der erhobenen Axt hielt er inne, dann drehte er sich wieder um und ließ die Axt niedergehen. »Ich predige so, wie der Herr es mir eingibt, Schwester«, sagte er.
Vor seiner Feindseligkeit wich sie einen Schritt zurück. »Na«, sagte sie in einem anderen Ton, »war jedenfalls richtig prima, Ihre Predigt. Mama und ich waren richtig froh, dass wir da waren.«
Er ließ die Axt ruhen, weil herumfliegende Splitter sie sonst treffen könnten. »Sie und Ihre Ma – Sie gehen nicht oft in den Gottesdienst, oder?«
»Herrgott, Reverend«, klagte sie, »die Zeit, irgendwie finden wir einfach nie die Zeit. Mama arbeitet so viel die ganze Woche, da will sie am Sonntag einfach nur im Bett liegen bleiben. Und sie will«, fügte sie nach kurzem Zögern eilig hinzu, »dass ich ihr dabei Gesellschaft leiste.«
Da sah er ihr ins Gesicht. »Im Ernst, Schwester, das meinen Sie ernst, Sie haben keine Zeit für den Herrn? Gar keine Zeit?«
»Reverend.« Sie erwiderte seinen Blick mit dem herausfordernden Trotz eines gescholtenen Kindes. »Ich tu, was ich kann. Was ich kann. Braucht ja nicht jeder denselben Geist.«
Er lachte auf. »Man braucht nur einen Geist, und das ist der Geist des Herrn.«
»Tja«, sagte sie, »dann bewirkt dieser Geist eben nicht in jedem dasselbe.«
Sie schwiegen, denn beiden war bewusst, dass sie einen Stillstand erreicht hatten. Kurz darauf drehte er sich um und nahm die Axt wieder auf. »Na gut, Schwester, schön. Ich bete für Sie.«
Ein Kampf zeichnete sich in ihrer Miene ab, als sie ihn noch einen Moment betrachtete – zwischen Wut und Belustigung; diese Mischung erinnerte ihn an den Gesichtsausdruck, den er oft bei Florence gesehen hatte. Und an die Blicke der Ältesten bei jenem weit zurückliegenden, folgenschweren Sonntagsmahl. Während sie ihn so anstarrte, wagte er vor lauter Ärger nicht, den Mund aufzumachen. Schließlich zuckte sie mit den Schultern, die beiläufigste, gleichgültigste Geste, die er je gesehen hatte. »Na, da bin ich aber dankbar, Reverend«, sagte sie lächelnd. Und ging ins Haus.
Es war ihre erste Unterhaltung im Hof, an einem eisigen Morgen. Nichts an diesem Morgen bereitete ihn auf das vor, was kommen sollte. Ihn ärgerte, dass sie ihre Sünden so dreist auslebte, das war alles, und er betete für ihre Seele, die sich eines Tages nackt und sprachlos vor den Schranken des Gerichts wiederfinden würde. Später behauptete sie, er habe ihr nachgestellt, sie ununterbrochen mit seinen Blicken verfolgt. »Das war kein Reverend, der mich da morgens angeguckt hat im Hof«, sagte sie dann. »Wie ein Mann hast du mich da angeguckt, wie ein Mann, der überhaupt noch nie was vom Heiligen Geist gehört hat.« Er hingegen glaubte, der Herr habe sie ihm als Bürde auferlegt. Und er trug sie in seinem Herzen, er betete für sie und mahnte sie, solange noch Zeit war, Gott ihre Seele anzuvertrauen.
Doch ihr stand nicht der Sinn nach Gott; obwohl sie Gabriel bezichtigte, insgeheim nach ihr zu lechzen, war sie es, die darauf beharrte, in ihm nicht Gottes Diener zu sehen, sondern einen »hübschen Mann«. Aus ihrem Mund klang sein Titel nicht nach Berufung, sondern nach Laster.
Es begann an einem Abend, an dem er predigen sollte und an dem sie bei der Arbeit allein waren. Die Hausherren waren drei Tage lang auf Verwandtenbesuch, Gabriel hatte sie nach dem Abendessen zum Bahnhof gefahren, während Esther die Küche machte. Als er zurückkam, um das Haus abzuschließen, wartete Esther auf den Eingangsstufen.
»Ich dachte mir, lieber nicht weggehen«, sagte sie, »bis Sie zurück sind. Ich hab ja keine Schlüssel fürs Haus, und Weiße sind da sehr komisch. Nachher geben die mir die Schuld, wenn was weg ist.«
Er merkte sofort, dass sie getrunken hatte – sie war nicht betrunken, aber ihr Atem roch nach Whisky. Und das erregte ihn sonderbar.
»Sehr aufmerksam von Ihnen, Schwester.« Mit seinem strengen Blick ließ er sie wissen, dass er von ihrem Trinken wusste. Sie hielt ihm ein ruhiges, keckes Lächeln entgegen, ein Lächeln, das Unschuld äffte, eine Miene, die erfüllt war von der uralten Durchtriebenheit einer Frau.
Er ging an ihr vorbei ins Haus; ohne nachzudenken und ohne sie anzusehen, bot er ihr an: »Wenn niemand auf Sie wartet, begleite ich Sie ein Stück nach Hause.«
»Nein«, sagte sie, »heute Abend wartet keiner auf mich, Reverend, verbindlichsten Dank.«
Auf der Stelle bereute er sein Angebot; er hatte fest damit gerechnet, dass sie gleich zu einem Stelldichein davoneilen würde, und hatte nur die Bestätigung gesucht. Als sie gemeinsam ins Haus traten, wurde ihm qualvoll bewusst, wie jung sie war, wie lebendig und wie hoffnungslos verloren; zugleich warnte ihn die Leere und Stille im Haus vor Gefahr.
»Setzen Sie sich in die Küche«, sagte er. »Ich mach, ich beeil mich.«
Doch selbst in seinen Ohren klangen seine Worte harsch, und er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Lächelnd setzte sie sich an den Tisch, um auf ihn zu warten. Er wollte so schnell wie möglich die Fensterläden schließen und die Türen verriegeln, aber seine Finger waren steif und glitschig, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Und ihm dämmerte, dass er alle Ausgänge versperrte bis auf den durch die Küche, in der Esther saß.
Als er in die Küche zurückkam, hatte sie den Platz gewechselt, sie stand jetzt in der Tür und blickte hinaus, mit einem Glas in der Hand. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie sich noch mal vom Whisky des Hausherrn bedient hatte.
Auf seine Schritte hin drehte sie sich um, und er sah sie und das Glas in ihrer Hand mit Zorn und Entsetzen an.
»Ich dachte ja nur«, sagte sie weitgehend ungeniert, »ich genehmige mir beim Warten einen kleinen Drink, Reverend. Kann ja schließlich nicht ahnen, dass Sie mich dabei erwischen.«
Sie leerte ihr Glas und ging zur Spüle, um es abzuwaschen. Beim Schlucken gab sie ein damenhaftes Hüsteln von sich – er wusste nicht, ob es echt war oder ob sie sich damit über ihn lustig machte.
»Sie sind ja wohl entschlossen, dem Teufel auf ganzer Linie zu dienen«, sagte er bösartig.
»Ich bin entschlossen«, gab sie zurück, »mein Leben auszukosten, solange ich kann. Wenn das Sünde ist, tja, dann fahre ich in die Hölle und zahle dafür. Aber was kümmert es Sie, Reverend – ist ja nicht Ihre Seele.«
Wutentbrannt trat er zu ihr.
»Mädchen, glauben Sie Gott nicht? Gott lügt nicht – und er sagt so klipp und klar, wie ich jetzt mit ihnen rede, welche Seele sündigt, die soll sterben.«
Sie seufzte. »Reverend, das sind Sie doch bald leid, andauernd auf die kleine Esther einzudreschen, damit aus Esther was wird, was Esther nicht ist. Ich spür’s einfach nicht, hier.« Sie legte eine Hand auf ihre Brust. »Und, was machen Sie jetzt? Ich bin eine erwachsene Frau, oder etwa nicht, und ich hab nicht vor, mich zu ändern.«
Er hätte am liebsten geweint. Er hätte am liebsten nach ihr gegriffen und sie vor dem Unheil bewahrt, dem sie so eifrig entgegenstrebte – sie in sich geborgen und verborgen, bis Gottes Zorn vorüberstrich. Gleichzeitig stieg ihm wieder ihr whiskyschwerer Atem in die Nase und darunter der schwache intime Duft ihres Körpers. Allmählich fühlte er sich wie ein Mann in einem Albtraum, der das Unheil auf sich zukommen sieht, der fliehen muss und sich nicht bewegen kann. »Jesus, Jesus, Jesus«, hallte es wieder und wieder durch seinen Kopf wie eine Glocke – als er näher an sie herantrat, bezwungen von ihrem Atem und ihren zornigen großen Augen, von ihrem spöttischen Blick.
»Sie wissen ganz genau«, flüsterte er aufgebracht, »Sie wissen ganz genau, wieso ich hinter Ihnen her bin – wieso ich so sehr hinter Ihnen her bin.«
»Nein.« Mit leichtem Kopfschütteln ließ sie seine Inbrunst abperlen. »Keine Ahnung, wieso Sie Esther nicht ihren kleinen Whisky lassen können und ihre kleinen Freuden und dauernd versuchen müssen, sie unglücklich zu machen.«
Verzweifelt atmete er aus; und merkte, dass er anfing zu zittern. »Ich kann einfach nicht mitansehen, wie Sie untergehen, Mädchen, ich will nicht, dass Sie aufwachen eines schönen Morgens und ihre ganzen Sünden bereuen, wenn Sie alt sind und allein und keiner Sie achtet.«
Aber er schämte sich seiner eigenen Worte. Er wollte das Reden hinter sich bringen und das Haus verlassen – gleich würden sie gehen, und der Albtraum hätte ein Ende.
»Reverend«, sagte sie, »ich hab nichts gemacht, dass ich mich schämen muss, und ich hoffe, ich mach auch nie was, dass ich das muss.«
Als sie »Reverend« sagte, hätte er sie am liebsten geschlagen; stattdessen nahm er ihre Hände und hielt sie fest. Und jetzt sahen sie sich an. In ihrem Blick lag Erstaunen und ein wachsamer Triumph; ihm war bewusst, dass ihre Körper sich beinahe berührten und dass er sich wegbewegen sollte. Doch er bewegte sich nicht weg – er konnte sich nicht bewegen.
»Aber ich kann nichts dafür«, sagte sie nach einer Weile böse neckend, »wenn Sie Sachen gemacht haben, dass Sie sich schämen müssen, Reverend.«
Er klammerte sich an ihre Hände wie an einen Rettungsring im offenen Meer, der ihn ans Ufer ziehen soll. »Jesus, Jesus, Jesus«, betete er, »ach, Jesus, Jesus. Mach, dass ich standhaft bleibe.« Er dachte, er stieße sich von ihren Händen ab, aber er zog sie zu sich heran. Und jetzt sah er in ihren Augen einen Ausdruck, den er viele Tage und Nächte nicht mehr gesehen hatte, der in Deborahs Augen nicht zu finden war.
»Doch«, sagte er, »du weißt, warum ich die ganze Zeit besorgt bin um dich – warum ich leide bei deinem Anblick.«
»Aber das hast du mir nie erzählt, das alles.«
Eine Hand fuhr hinunter zu ihrer Taille und verweilte dort. Ihre Brustspitzen streiften seine Jacke, brannten sich ein, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Sehr bald war es zu spät; er wollte, dass es zu spät war. Dieser Fluss, sein höllischer Drang, schwoll an, lief über, spülte ihn fort wie eine längst ertrunkene Leiche.
»Du weißt es«, flüsterte er, fasste ihr an die Brust und grub das Gesicht in ihren Hals.
Also war er gefallen: zum ersten Mal seit seiner Bekehrung, zum letzten Mal in seinem Leben. Gefallen: Esther und er in der Küche der Weißen, bei Lichtschein und halb offener Tür, ringend und fiebernd neben der Spüle. Tatsächlich gefallen: Die Zeit war aufgehoben, Sünde, Tod, Hölle und Gericht ausgeblendet. Es gab nur noch Esther, die in ihrem schmalen Körper alle Geheimnisse und alle Leidenschaft barg, die all seine Bedürfnisse befriedigte. Mit der Zeit, die so rasch vorüberfauchte, vergaß er die Unbeholfenheit, den Schweiß und Dreck ihrer ersten Vereinigung, wie seine zitternden Hände sie auszogen, dort im Stehen, wie ihr das Kleid endlich um die Füße fiel wie eine Schlinge, wie seine Hände an ihrer Unterwäsche zerrten, damit ihm die lebendige nackte Haut unter die Finger kam, und wie sie einwandte: »Nicht hier, nicht hier«; wie er sich in einem verschütteten Teil seines Verstands um die offene Tür sorgte, um die Predigt, die er zu halten hatte, um sein Leben, um Deborah; wie der Tisch im Weg war, wie sein Kragen, bis sie ihn lockerte, ihn zu erwürgen drohte, wie sie schließlich auf dem Fußboden landeten, schwitzend und stöhnend und ineinander verkeilt, weit weg von allen anderen, von jeder himmlischen und menschlichen Hilfe. Helfen konnten sie nur einander. Sie waren allein auf der Welt.
War Royal, sein Sohn, an jenem Abend empfangen worden? Oder am Abend darauf? Oder dem danach? Es dauerte nur neun Tage. Dann kam er zur Besinnung – nach neun Tagen gab Gott ihm die Kraft, ihr zu sagen, dass es so nicht weiterging.
Sie nahm seine Entscheidung so beiläufig und geradezu belustigt hin wie zuvor seinen Fall. In diesen neun Tagen hatte er begriffen: dass Esther seine Furcht und sein Zittern schrullig und kindisch fand, etwas, mit dem man sich das Leben doch nur komplizierter machte als nötig. Sie fand das Leben nicht so, sie wollte das Leben einfach haben. Er begriff, dass er ihr leidtat, weil er sich ständig Sorgen machte. Wenn sie zusammen waren, versuchte er, ihr manchmal seine Gefühle nahezubringen, wie der Herr sie bestrafen würde für die Sünde, die sie begingen. Sie hörte nicht zu: »Du bist jetzt nicht auf der Kanzel. Du bist hier bei mir. Sogar ein Reverend darf sich mal ausziehen und wie ein echter Mann benehmen.« Als er ihr mitteilte, dass sie sich nicht mehr sehen würden, war sie wütend, widersprach aber nicht. Ihr Blick verriet ihm, dass sie ihn für einen Trottel hielt, dass es aber, und hätte sie ihn noch so leidenschaftlich geliebt, unter ihrer Würde gewesen wäre, seine Entscheidung anzufechten – über weite Strecken zeichnete sich ihre Unkompliziertheit durch den Entschluss aus, nicht zu wollen, was sie nicht mühelos haben konnte.
Also war es vorbei. Auch wenn er mit Angst und einem blauen Auge daraus hervorgegangen war, auch wenn er auf immer Esthers Respekt verspielt hatte (er betete, sie möge nie wieder zu einer Predigt kommen), dankte er Gott, dass es nicht schlimmer gekommen war. Er betete, Gott möge ihm vergeben und ihn nie wieder fallen lassen.
Was ihn allerdings erschreckte und mehr denn je auf die Knie zwang, war die Erkenntnis, dass nach seinem Fall nichts leichter war, als erneut zu fallen. Nachdem er Esther besessen hatte, war der Mann in ihm erwacht, und überall sah er die Gelegenheit zur Eroberung. Er war daran erinnert worden, dass er zwar fromm, aber noch immer jung war, dass die Frauen, die ihn begehrt hatten, ihn noch immer begehrten, er musste nur die Hand ausstrecken und sich nehmen, was er wollte – Schwestern der Gemeinde inbegriffen. Er mühte sich, seine Visionen im Ehebett zu erschöpfen, er mühte sich, Deborah zu wecken, aber täglich hasste er sie mehr.
Als der Frühling anbrach, sprachen Esther und er erneut im Hof miteinander. Der Boden war noch feucht von schmelzendem Schnee und Eis, die Sonne war überall, und die nackten Äste an den Bäumen schienen sich der fahlen Sonne entgegenzustrecken, begierig, Blatt und Blüte zu entfalten. Er stand in Hemdsärmeln am Brunnen und sang leise vor sich hin – Gott für die bestandenen Gefahren preisend. Sie kam über die Verandastufen in den Hof, und obwohl er ihre leisen Schritte erkannte, drehte er sich nicht gleich um.
Er dachte, sie würde zu ihm kommen und ihn bitten, ihr bei irgendeiner Verrichtung im Haus zu helfen. Als er nichts hörte, drehte er sich um. Sie trug ein leichtes Baumwollkleid mit hellbraunen und dunkelbraunen Karos, und ihr Haar war fest um den Kopf geflochten. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, beinahe hätte es ihm ein Lächeln entlockt. »Was ist?«, fragte er; ihm sank das Herz.
»Gabriel«, sagte sie, »ich krieg ein Kind.«
Er sah sie an; sie fing an zu weinen. Vorsichtig stellte er die beiden Wassereimer ab. Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch er wich zurück.
»Mädchen, plärr hier nicht rum. Was redest du da?«
Doch einmal losgelassen, ließen sich die Tränen nicht so schnell wieder aufhalten. Sie weinte weiter, mit den Händen vorm Gesicht, und wiegte sich auf der Stelle. Panisch blickte er sich im Hof um und zum Haus hin. »Hör auf.« Er wagte nicht, sie hier und jetzt anzufassen. »Und sag mir, was los ist.«
»Hab ich doch schon«, stöhnte sie, »hab ich dir schon gesagt. Ich krieg ein Kind.« Sie sah ihn an. Heiße Tränen liefen ihr übers verzerrte Gesicht. »Bei Gott, es ist wahr, ich denk mir das nicht aus, es ist wahr.«
Er konnte den Blick nicht von ihr wenden, obwohl er das, was er sah, abstoßend fand. »Und seit wann weißt du das?«
»Nicht lang. Ich dachte, vielleicht lieg ich falsch. Aber es ist kein Irrtum. Gabriel, was machen wir nur?«
Als sie ihn ansah, fing sie wieder an zu weinen.
»Still«, sagte er mit einer Ruhe, die ihn selbst verblüffte. »Uns fällt schon was ein, aber jetzt sei mal still.«
»Was machen wir denn, Gabriel? Sag’s mir – hm, was hast du jetzt vor?«
»Geh zurück ins Haus. Wir können hier nicht so reden.«
»Gabriel …«
»Ab ins Haus, Mädchen. Na los!« Und als sie sich nicht regte, sondern ihn weiter anstarrte: »Wir reden heute Abend. Wir klären das alles heute Abend!«
Sie wandte sich zur Treppe. »Und wisch dir das Gesicht«, flüsterte er. Sie beugte sich vor, hob ihr Kleid an, um sich die Augen zu trocknen, und stand so einen Moment auf der untersten Stufe, während er zusah. Dann richtete sie sich auf und ging ohne einen weiteren Blick ins Haus.
Sie bekam ein Kind – sein Kind? Während Deborah, ihrem gemeinsamen Stöhnen zum Trotz, der Demut zum Trotz, mit der sie seinen Körper ertrug, noch immer nicht von werdendem Leben beseelt war. Im Schoß von Esther, die nicht besser war als eine Hure, keimte der Same des Propheten.
Am Brunnen nahm er wie in Trance die schweren Wassereimer auf. Er ging auf das Haus zu, das ihn jetzt – mit seinem hohen glänzenden Dach und seinen goldschimmernden Fenstern – zu beobachten und zu belauschen schien; die Sonne über ihm, die Erde unter ihm drehten sich nicht mehr, das Wasser schwappte wie eine Million mahnender Stimmen in den Eimern, die er zu beiden Seiten trug, und seine Mutter hob unter der erstaunten Erde, auf der er ging, endlos die Augen.
Während sie in der Küche sauber machte, redeten sie miteinander.
»Wieso bist du so sicher, dass es von mir ist?« Das war seine erste Frage.
Jetzt weinte sie nicht. »Fang ja nicht so an«, sagte sie. »Esther lügt niemanden an, niemals, und ich war nicht mit so viel Männern zusammen, dass ich im Kopf durcheinanderkomme.«
Sie war kalt und besonnen, hantierte mit wilder Konzentration in der Küche herum und sah ihn kaum dabei an.
Er wusste nicht, was er sagen sollte, wie er an sie herankam.
»Hast du es deiner Mutter schon erzählt?«, fragte er nach einer Weile. »Bist du beim Arzt gewesen? Wie kannst du so sicher sein?«
Sie atmete scharf ein. »Nein, meiner Mutter hab ich nichts erzählt, bin ja nicht verrückt. Ich hab’s nur dir erzählt.«
»Wie kannst du so sicher sein?«, wiederholte er, »wenn du nicht beim Arzt gewesen bist?«
»Zu welchem Arzt soll ich denn wohl bitte gehen in dieser Stadt? Wenn ich zum Arzt gehe, kann ich mich genauso gut auf den Marktplatz stellen. Nein, ich bin nicht beim Arzt gewesen, und ich hab’s auch nicht eilig damit. Ich brauch keinen Arzt, damit ich weiß, was in meinem Bauch passiert.«
»Und wie lange weißt du es schon?«
»Vielleicht einen Monat ungefähr – vielleicht sechs Wochen.«
»Sechs Wochen? Wieso hast du deinen Mund nicht früher aufgemacht? «
»Weil ich mir nicht sicher war. Ich dachte, lieber warten, bis ich mir sicher bin. Nicht erst groß Wirbel machen, bevor ich es wirklich weiß. Ich wollte nicht, dass du dich aufregst und Angst kriegst und gehässig wirst so wie jetzt und völlig unnötig.« Sie sah ihn an. »Du hast heute Morgen gesagt, wir machen was. Was machen wir denn? Wir müssen jetzt überlegen, was wir machen, Gabriel.«
»Was machen wir?«, wiederholte er schließlich und spürte, wie ihm die Lebenskraft entwichen war. Er setzte sich an den Küchentisch und betrachtete das Strudelmuster auf dem Fußboden.
Doch ihr war die Lebenskraft nicht entwichen; sie trat zu ihm und sagte leise, mit bitterem Blick: »Du klingst aber ganz komisch, auf mich wirkt das nicht, als wenn du über irgendwas anderes nachdenkst außer, wie du das hier so fix wie möglich abschütteln kannst – und mich gleich mit. War nicht immer so, was, Reverend? Hat mal eine Zeit gegeben, da hast du an nichts anderes gedacht außer an mich. Wo denkst du heute Abend dran? Ich will verflucht sein, wenn ich denke, dass du an mich denkst.«
»Mädchen«, sagte er matt, »red nicht so, als wenn du keinen Verstand im Kopf hast. Du weißt, dass ich eine Frau habe …« Er wollte noch mehr sagen, fand aber die richtigen Worte nicht und brach hilflos ab.
»Das weiß ich«, sagte sie weniger hitzig, behielt ihn aber im Blick, aus dem der ungeduldige alte Spott nicht ganz gewichen war, »aber ich hab gemeint, wenn du sie ein Mal vergessen kannst, dann kannst du sie auch zwei Mal vergessen.«
Er verstand sie nicht gleich, dann aber setzte er sich auf, die Augen groß vor Ärger. »Wie meinst du das, Mädchen? Was willst du damit sagen?«
Sie zuckte nicht zurück – selbst in seiner Wut und Verzweiflung erkannte er, dass sie ganz und gar nicht das leichtfertige Kind war, für das er sie immer gehalten hatte. Oder hatte sie sich in der kurzen Zeit so gewandelt? Er war bei diesem Gespräch im Nachteil: Er war nicht auf Veränderungen gefasst gewesen, während sie ihn von Anfang an taxiert hatte und von keiner Veränderung überrumpelt werden konnte.
»Du weißt, was ich meine«, sagte sie. »Das ist doch kein Leben für dich mit dieser dürren Schwarzen und wird es auch nie – und glücklich kannst du sie auch nie machen, und Kinder wird sie auch nie kriegen. Jedenfalls will ich verdammt sein, wenn ich glauben soll, dass du richtig im Kopf warst, als du sie zur Frau genommen hast. Ich bin hier diejenige, die dein Kind kriegt!«
»Du willst, dass ich meine Frau verlasse und zu dir komme?«, fragte er schließlich.
»Ich dachte, darauf bist du schon selber gekommen«, gab sie zurück, »schon oft, ganz oft.«
»Also das«, sagte er mit gestauter Wut, »niemals hab ich das gesagt oder irgendwas in der Art. Ich hab dir nie gesagt, ich will meine Frau verlassen.«
Aber sie war mit ihrer Geduld am Ende: »Ich rede nicht von irgendwas, was du gesagt hast!«
Sofort blickten sie zur geschlossenen Küchentür, denn diesmal waren sie nicht allein im Haus. Sie seufzte und strich sich mit der Hand durchs Haar, dabei sah er, dass sie zitterte und dass ihre kühle Bedachtheit nichts weiter war als eine fieberhafte Pose.
»Mädchen«, sagte er, »glaubst du wirklich, ich lauf hier weg und lebe mit dir irgendwo in Sünde, bloß weil du mir erzählst, dass mein Kind in deinem Bauch strampelt? Für wie fünfmal vertrottelt hältst du mich eigentlich? Ich hab hier Gottes Werk zu verrichten – mein Leben gehört dir nicht. Und dem Kind auch nicht – wenn es überhaupt von mir ist.«
»Das Kind ist von dir«, sagte sie kalt, »da führt im Leben kein Weg dran vorbei. Und es ist ja gar nicht so lange her, hier nämlich genau in dieser Küche, da hat’s für mich so ausgesehen, als wenn für dich nur ein Leben in Sünde infrage kommt.«
»Ja«, antwortete er, stand auf und wandte sich ab, »Satan hat mich versucht, und ich bin gefallen. Ich bin nicht der erste Mann, der zu Fall gebracht wird von einer ruchlosen Frau.«
»Pass auf, wie du mit mir redest«, sagte Esther. »Ich bin auch nicht die erste Frau, die entehrt wurde von einem Mann Gottes.«
»Entehrt?«, rief er. »Du? Wie kann man dich denn entehren? Wo du hier rumläufst in dieser Stadt wie eine Hure und dich kreuz und quer vergnügst? Wie kannst du dich da hinstellen und sagen, du bist entehrt? Wenn ich es nicht gewesen wäre, dann wäre es doch ein anderer gewesen.«
»Aber du warst es«, entgegnete sie, »und ich will wissen, was wir jetzt machen.«
Er sah sie an. Ihr Gesicht war kalt und hart – hässlich; so hässlich war sie noch nie gewesen.
»Ich weiß nicht, was wir jetzt machen«, sagte er bedächtig, »aber ich sag dir, was du jetzt machen solltest: Du solltest dir schön einen von den jungen Männern holen, mit denen du unterwegs gewesen bist, damit er dich heiratet. Ich kann nirgendwo hin mit dir.«
Sie setzte sich an den Tisch und sah ihn mit fassungsloser Verachtung an; wie geschlagen sank sie auf den Stuhl. Er wusste, dass sie ihre Kräfte sammelte, und jetzt sagte sie das, wovor er sich gefürchtet hatte: »Und wenn ich durch die Stadt laufe und es deiner Frau erzähle und der Gemeinde und allen Leuten – was meinst du, Reverend?«
»Und wer«, fragte er, eingehüllt von einer furchtbaren, fallenden Stille, »wer sollte dir wohl glauben, was meinst du?«
Sie lachte. »Genug Leute würden mir glauben, dass dir das Leben schwer wird.« Und sie beobachtete ihn. Er lief in der Küche auf und ab und mied so gut es ging ihren Blick. »Denk einfach mal zurück«, sagte sie, »an die erste Nacht, genau hier auf diesem verdammten Weißeleute-Boden, dann weißt du auch, dass es zu spät ist, Esther zu erzählen, wie heilig du bist. Lüg dich nur selbst an, mir egal, aber das ist kein Grund, dass ich deswegen leiden muss.«
»Du kannst rumgehen und es Leuten erzählen, wenn du willst«, sagte er kühn, »aber für dich sieht das auch nicht so toll aus.«
Sie lachte wieder. »Ich bin doch hier nicht die Heilige. Du bist der Ehemann, du bist der Prediger – und wem, meinst du, geben die Leute mehr Schuld?«
Er betrachtete sie mit einem Hass, in dem die alte Begierde mitschwang, und er wusste, dass sie erneut den Sieg davontrug.
»Ich kann dich nicht heiraten, das weißt du. Also, was willst du von mir?«
»Nein, und wahrscheinlich würdest du mich nicht mal heiraten, wenn du könntest. Wahrscheinlich willst du eine Hure wie Esther gar nicht zur Frau. Esther ist für die Nacht, für die Dunkelheit, wo keiner sieht, wie du deine Heiligkeit mit Esther besudelst. Esther ist bloß gut genug, dass sie deinen Bastard kriegt irgendwo im verdammten Wald. Ist doch so, oder, Reverend?«
Er antwortete nicht. Er fand keine Worte. In ihm herrschte nur Grabesstille.
Sie stand auf, ging an die offene Küchentür und blickte mit dem Rücken zu ihm in den Hof und auf die stillen Straßen im Licht der letzten vergehenden Sonnenstrahlen.
»Aber wahrscheinlich«, sagte sie langsam, »will ich mit dir auch nicht zusammen sein, genauso wenig, wie du mit mir zusammen sein willst. Ich will keinen Mann, der sich schämt, keinen Mann, der Angst hat. Das kann ich nicht brauchen.« Sie drehte sich in der Tür zu ihm um; es war das letzte Mal, dass sie ihn richtig ansah, und diesen Blick würde er mit ins Grab nehmen. »Ich will nur eins von dir«, sagte sie. »Dann sind wir quitt.«
»Was soll ich machen?«, fragte er beschämt.
»Ich würde schon durch die Stadt laufen und allen Leuten was erzählen von dem Gesalbten Gottes. Ich lass das nur, wirklich nur, damit Mama und Daddy nicht von meiner Dummheit erfahren. Dafür schäme ich mich nicht – ich schäme mich für dich, wegen dir empfinde ich eine Scham, wie ich sie überhaupt noch nie empfunden habe. Ich schäme mich vor meinem Gott, weil ich zugelassen hab, dass jemand mich so schäbig behandelt.«
Er sagte nichts. Sie kehrte ihm wieder den Rücken zu.
»Ich … will einfach nur wo hin, woanders«, sagte sie, »wohin und mein Kind kriegen und über alles nachdenken. Ich will wohin und mir über alles klar werden. Das will ich – und das ist ziemlich billig. Wahrscheinlich braucht es einen Heiligen, um aus einer Frau eine richtige Hure zu machen.«
»Mädchen«, sagte er, »ich hab kein Geld.«
»Tja«, sagte sie kalt, »dann musst du wohl mal suchen gehen.«
Sie fing an zu weinen. Als er auf sie zuging, wich sie ihm aus.
»Wenn ich auf Mission gehe«, sagte er hilflos, »kriege ich bestimmt genug Geld zusammen, dass du weg kannst.«
»Wie lange dauert das?«
»Einen Monat vielleicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »So lange bin ich nicht mehr hier.«
Sie standen schweigend an der offenen Küchentür, sie kämpfte mit ihren Tränen, er kämpfte mit seiner Scham. Sein einziger Gedanke war: Jesus Jesus Jesus. Jesus Jesus.
»Hast du denn gar nichts gespart?«, fragte sie schließlich. »Du bist doch lange genug verheiratet, dass du was gespart haben solltest.«
Da fiel ihm ein, dass Deborah seit der Hochzeit Geld sparte. Sie bewahrte es in einer Blechdose auf dem Schrank auf. Eine Sünde zieht die andere nach sich, dachte er.
»Doch, etwas. Wie viel, weiß ich nicht.«
»Bring es morgen mit.«
Er folgte ihr mit dem Blick, als sie von der Tür zum Schrank ging, um Mantel und Hut zu holen. Fertig angezogen kam sie zurück und ging wortlos an ihm vorbei die Stufen hinunter in den Hof. Sie machte das Gatter auf und bog in die lange, stille, abendrote Straße ein. Sie ging langsam, mit eingezogenem Kopf, als wäre ihr kalt. Er sah ihr nach und dachte an die vielen Male, da er ihr nachgeblickt hatte und ihr Gang so anders gewesen war und ihr Lachen als Hohnlachen zu ihm zurückgetragen wurde.
Er nahm das Geld, als Deborah schlief, und gab es Esther am Morgen. Noch am selben Tag kündigte sie, und eine Woche später war sie weg – nach Chicago, sagten ihre Eltern, um eine bessere Arbeit zu finden und ein besseres Leben.
Deborah wurde in den Wochen darauf noch schweigsamer. Manchmal war er sich sicher, dass sie etwas gemerkt hatte und wusste, dass er das Geld genommen hatte – manchmal war er sich sicher, dass sie nichts wusste. Manchmal war er sich sicher, dass sie rundum Bescheid wusste: über den Diebstahl und den Grund dafür. Aber sie sagte nichts. Im Frühjahr ging er auf Mission und war drei Monate unterwegs. Als er zurückkam, brachte er Geld mit und legte es wieder in die Blechdose. In der Zwischenzeit war kein Geld hinzugekommen, daher war er sich noch immer nicht sicher, ob Deborah Bescheid wusste oder nicht.
Er beschloss, das alles zu vergessen und mit seinem Leben fortzufahren.
Doch im Sommer bekam er einen Brief, ohne Absender, aber abgestempelt in Chicago. Deborah reichte ihn ihm beim Frühstück, ohne, so schien es, auf die Handschrift oder den Poststempel zu achten, mit einem Stapel Traktaten von einer Bibelgesellschaft, die sie beide jede Woche in der Stadt verteilten. Sie hatte auch einen Brief bekommen, von Florence, und vielleicht lenkte der sie ab.
Esthers Brief schloss mit den Worten:
Ja, ich habe einen Fehler gemacht, und für den bezahle ich jetzt. Aber glaub ja nicht, dass Du nicht dafür bezahlen wirst – ich weiß nicht, wann, ich weiß auch nicht, wie, aber ich weiß, dass Du eines schönen Tages Staub frisst. Ich bin nicht so eine Heilige wie Du, aber ich kann Gut von Böse unterscheiden.
Ich kriege mein Kind, und ich mache einen Mann aus ihm. Ich lese ihm nicht aus der Bibel vor und schleppe ihn nicht zu irgendwelchen Predigten. Und wenn er sein Lebtag nur Schwarzgebrannten trinkt, ist er immer noch ein besserer Mensch als sein Daddy.
»Was schreibt Florence?«, fragte er stumpf, während er den Brief in der Faust zerknüllte.
Deborah blickte mit leisem Lächeln auf. »Nicht viel, Schatz. Aber es sieht so aus, als wenn sie bald heiratet.«
Gegen Ende des Sommers ging er wieder auf Mission. Es hielt ihn nicht zu Hause, bei der Arbeit, in der Stadt – er hielt es nicht aus, tagaus, tagein die Schauplätze und die Menschen zu sehen, die er schon sein ganzes Leben kannte. Auf einmal schienen sie ihn zu verhöhnen, über ihn den Stab zu brechen; in jedem Blick sah er seine Schuld. Wenn er von der Kanzel predigte, sahen sie ihn an, so glaubte er, als hätte er kein Recht, dort zu stehen, als würden sie ihn verurteilen, wie er einst die dreiundzwanzig Ältesten verurteilt hatte. Wenn Seelen weinend zum Altar kamen, wagte er kaum zu frohlocken, da er sich an die eine Seele erinnerte, die sich nicht gebeugt hatte, deren Blut möglicherweise am Jüngsten Tag von ihm gefordert wurde.
Also floh er vor diesen Menschen und vor diesen stummen Zeugen, um anderswo zu predigen und zu beten – um insgeheim seine anfänglichen Bemühungen zu wiederholen, das heilige Feuer zu suchen, das ihn einst so verwandelt hatte. Doch musste er feststellen wie einst die Propheten, dass für den, der Gott flieht, die ganze Welt zum Gefängnis wird. Nirgends war Frieden, nirgends Heilung, und Vergessen gab es nicht. Jede Kirche, die er betrat, hatte seine Sünde bereits empfangen. Sie lag in den fremden, den grüßenden Gesichtern, sie schrie ihm vom Altar entgegen, sie saß da, wenn er die Stufen zur Kanzel hochstieg, und wartete auf ihn in seinem Stuhl. Sie starrte ihm aus der Bibel entgegen: In dem ganzen heiligen Buch gab es kein Wort, das ihn nicht erzittern ließ. Wenn er von Johannes auf der Insel Patmos sprach, der am Tag des Herrn vom Geist ergriffen war, Vergangenes, Gegenwärtiges und Kommendes zu schauen, und sagte: »Wer unrein ist, der sei fernerhin unrein«, war er es, den diese mit lauter Stimme vorgebrachten Worte vollkommen durcheinanderbrachten; wenn er von David sprach, dem Hirtenjungen, der durch Gottes Kraft zum König über Israel aufstieg, war er es, der beim allgemeinen »Amen!« und »Halleluja!« erneut an seinen Ketten rüttelte; wenn er vom Pfingsttag sprach, an dem der Heilige Geist über die im Obergemach harrenden Apostel kam und sie mit Feuerzungen sprechen ließ, dachte er an seine eigene Taufe und wie er den Heiligen Geist beleidigt hatte. Nein: Obwohl sein Name auf den Plakaten prangte, obwohl sie ihn für das große Werk rühmten, das Gott durch ihn tat, und obwohl sie Tag und Nacht zu ihm an den Altar kamen, hatte die Schrift kein Wort für ihn übrig.
Außerdem sah er auf seiner Wanderschaft, wie weit sein Volk sich von Gott entfernt hatte. Sie hatten sich alle abgewandt und waren in die Wüste gewandert, um vor ihren Götzen aus Gold, Silber, Holz und Stein, falschen Göttern, die sie nicht heilen konnten, in die Knie zu gehen. Die Musik, die in kleinen und großen Städten auf seinem Weg erschallte, war nicht die Musik der Gläubigen, sondern eine andere, eine teuflische, die der Wollust frönte und Rechtschaffenheit verhöhnte. Frauen, von denen manche lieber zu Hause die Enkel das Beten hätten lehren sollen, standen Abend für Abend in verräucherten, schnapsgeschwängerten Tanzlokalen und sangen, ihren Leib in lüsternen Hallelujas windend, für ihren »loving man«. Und das konnte jeder Mann sein; morgens, mittags, abends – wenn einer die Stadt verließ, holten sie sich den nächsten – versanken Männer, so schien es, in ihrem warmen Fleisch, und es war ihnen alles eins. It’s right here for you, if you don’t get it ’t ain’t no fault of mine. Gabriel lachten sie aus, wenn sie ihn sahen – »so ein hübscher Mann?« –, und sagten, sie wüssten von einem hochgewachsenen braunen Mädchen, da würde er schon mal seine Bibel niederlegen. Er floh vor ihnen; sie machten ihm Angst. Er betete für Esther. In seiner Vorstellung stand sie eines Tages dort, wo diese Frauen heute standen.
Blut floss durch alle Städte, in die er kam. Es gab wohl keine Tür, nirgendwo, hinter der nicht unentwegt Blut mit Blut vergolten wurde; es gab keine Frau, ob sie nun vor aufsässigen Trompeten sang oder vor dem Herrn frohlockte, die nicht mit angesehen hatte, wie ihr Vater, ihr Bruder, ihr Geliebter oder Sohn ohne Gnade niedergestreckt worden waren, die nicht mit angesehen hatte, wie ihre Schwester dem großen weißen Hurenhaus einverleibt wurde, die nicht allzu knapp selbst diesem Haus entwischt war; es gab keinen Mann, ob er nun predigte, fluchte, an einsamen grauen Abenden seine Gitarre zupfte oder nachts in Raserei seine goldene Trompete blies, der nicht den Kopf beugen und das Schmutzwasser des weißen Mannes trinken musste, keinen Mann, dessen Männlichkeit nicht bis an die Wurzel verletzt, dessen Lenden nicht entehrt, dessen Samen nicht ins Vergessen gestreut wurde und, schlimmer, in Wut, Schande und endlosen Kampf. Ja, in ihre Einzelteile wurden sie zerlegt, ihrer Ehre wurden sie beraubt, ihre Namen waren nichts als Staub, der verächtlich über das Feld der Zeit geweht wurde – um wohin zu fallen, wo zu blühen, welche Früchte zu tragen, wo? Ihre Namen gehörten ihnen nicht. Hinter ihnen Finsternis, nichts als Finsternis, um sie herum Zerstörung und vor ihnen nur Feuer – ein Volk von Ausgestoßenen, fern von Gott, das in der Wüste sang und rief!
Und doch wuchs höchst seltsam aus bislang unentdeckten Tiefen sein Glaube empor. Im Angesicht der Verkommenheit, die er sah, der Verkommenheit, vor der er floh, gewahrte er doch wie ein flammendes Banner in der Luft die Kraft der Erlösung, von der er bis zu seinem Tod Zeugnis ablegen musste, die er nicht, und sollte sie ihn vollends zermalmen, leugnen konnte; auch wenn unter den Lebenden niemand sie je gewahren sollte, er hatte sie gewahrt, und daran musste er festhalten. Nicht für Freund noch Geliebte oder unehelichen Sohn würde er nach Ägypten zurückkehren: Er würde sein Antlitz nicht von Gott wenden, wie tief auch immer die Finsternis, in der Gott sein Antlitz vor ihm verbarg. Eines Tages würde Gott ihm ein Zeichen geben, und es wäre vorbei mit der Finsternis – eines Tages würde ihn Gott, der ihn so tief hatte fallen lassen, wieder aufrichten.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr im Winter kam auch Esther nach Hause. Ihre Mutter und ihr Stiefvater waren nach Norden gefahren, um ihren leblosen Körper und ihren lebenden Sohn zu holen. Kurz nach Weihnachten, an einem der letzten tristen Tage zwischen den Jahren wurde sie auf dem Kirchhof begraben. Es war bitterkalt, Frost bedeckte den Boden wie in den Tagen, da er sie besessen hatte. Er stand neben Deborah, deren Arm unter seinem unablässig vor Kälte zitterte, und sah zu, wie die schlichte lange Kiste in den Boden gelassen wurde. Esthers Mutter stand schweigend neben dem tiefen Loch, auf ihren Mann gestützt, der ihren Enkel im Arm hielt: Herr sei uns gnädig, sei uns gnädig, sei uns gnädig, sang jemand, und die alten Klageweiber drängten sich mit einem Mal um Esthers Mutter, um sie zu stützen. Erde schlug auf den Sarg; das Kind wachte auf und fing an zu schreien.
Da betete Gabriel um Erlösung von seiner Blutschuld. Er betete zu Gott, er möge ihm irgendwann ein Zeichen senden, um ihn wissen zu lassen, dass ihm vergeben war. Das Kind allerdings, das in dem Augenblick auf dem Friedhof schrie, fluchte und sang und wurde für immer zum Schweigen gebracht, bevor Gott ihm ein Zeichen sandte.
Gabriel sah seinen Sohn heranwachsen, einen Fremden, der weder seinen Vater noch Gott kannte. Deborah, die nach Esthers Tod häufiger Umgang mit Esthers Familie pflegte, berichtete ihm schon früh, wie schamlos Royal verwöhnt wurde. Wie nicht anders zu erwarten, war er ihr Ein und Alles, worüber Deborah tatkräftig die Stirn runzelte und zuweilen widerstrebend lächelte; und sollte tatsächlich weißes Blut durch seine Adern fließen, so ließ sich das nicht erkennen – er sei seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.
Kein Tag neigte sich, ohne dass Gabriel seinen verlorenen, seinen enterbten Sohn sah oder von ihm hörte; und mit jedem Tag schien er stolzer das Urteil zu tragen, das ihm auf die Stirn geschrieben stand. Gabriel sah ihn ungestüm wie Davids ungestümen Sohn ins Verderben rennen, das ihn vom Augenblick seiner Empfängnis erwartete. Kaum konnte er laufen, schien er zu stolzieren, kaum konnte er sprechen, schien er auch schon zu fluchen. Gabriel sah ihn oft auf der Straße, wo er mit Gleichaltrigen am Bordstein spielte. Als er einmal an ihnen vorbeiging, sagte einer der Jungen, »Da kommt Reverend Grimes«, und nickte ihm respektvoll schweigend zu. Royal dagegen blickte dem Prediger unverfroren ins Gesicht. »Na, wie geht’s, Reverend?«, sagte er und lachte plötzlich unbändig. Gabriel, der gern stehen geblieben wäre, um dem Jungen ins Gesicht zu lächeln und über die Stirn zu streichen, tat nichts von alledem, sondern ging einfach weiter. Hinter seinem Rücken hörte er Royals enthemmtes Flüstern: »Der hat bestimmt ein Riesending!« – und alle Kinder lachten. Da ging Gabriel auf, wie sehr seine Mutter darunter gelitten haben musste, ihn in seiner unerlösten Einfalt zu sehen, die doch so gewiss zu Tod und Hölle führte.
»Ich frage mich«, sagte Deborah einmal so dahin, »warum sie ihn Royal genannt hat. Meinst du, sein Daddy hieß so?«
Gabriel hatte einmal zu Esther gesagt, sollte der Herr ihm je einen Sohn schenken, er würde ihn Royal nennen, denn das Geschlecht der Gläubigen sei ein königliches Geschlecht – sein Sohn wäre ein Königskind. Und daran hatte sie sich erinnert, als sie ihn ausstieß. Mit ihrem letzten Atemzug hatte sie den Sohn und seinen Vater mit diesem Namen verhöhnt. Dann war sie voller Hass auf ihn gestorben; sie hatte ihn und die Seinen in alle Ewigkeit verflucht.
»Wahrscheinlich ist es wirklich der Name von seinem Daddy«, sagte er schließlich, »es sei denn, in dem Krankenhaus oben im Norden haben sie ihm diesen Namen gegeben, als sie … schon tot war.«
»Seine Grandmama, Sister McDonald« – sie schrieb gerade einen Brief und blickte nicht auf, während sie mit ihm redete –, »also, sie glaubt, es war einer von den jungen Burschen, die hier immer durchkommen auf der Suche nach Arbeit, auf ihrem Weg nach Norden – weißt du? Diese nichtsnutzigen Nigger – also, sie glaubt, einer von denen hat Esther in diese Bredouille gebracht. Sie sagt, Esther wäre niemals nach Norden gegangen, wenn sie nicht versucht hätte, den Daddy von dem Jungen zu finden. Weil sie war schon in der Bredouille, als sie hier weg ist« – sie blickte kurz von ihrem Brief auf –, »so viel ist mal sicher.«
»Wahrscheinlich«, sagte er wieder; ihre ungewohnte Schwatzhaftigkeit machte ihn nervös, er wagte aber nicht, ihr einfach das Wort abzuschneiden. Er dachte an Esther, die jetzt stumm und kalt unter der Erde lag und in seinen Armen so lebendig und schamlos gewesen war.
»Und Sister McDonald sagt«, fuhr Deborah fort, »dass sie hier mit ganz wenig Geld weg ist, sie mussten ihr ständig welches schicken, fast die ganze Zeit, die sie da war, vor allem gegen Ende. Erst gestern haben wir uns darüber unterhalten – sie sagt, Esther hat höchstwahrscheinlich über Nacht beschlossen, dass sie weggeht, und nichts konnte sie aufhalten. Und sie sagt, sie wollte dem Mädchen nicht im Weg stehen – aber wenn sie gewusst hätte, was los war, hätte sie das Mädchen niemals ziehen lassen.«
»Aber eigentlich komisch«, murmelte er, ohne so recht zu wissen, was er eigentlich sagte, »dass sie sich nicht irgendwas dabei gedacht hat.«
»Sie hat sich deswegen nichts dabei gedacht, weil Esther ihrer Mutter immer alles erzählt hat – zwischen ihnen gab es keine Scheu. Sie sagt, nie im Traum wär ihr eingefallen, dass Esther vielleicht von ihr wegläuft, wenn sie in der Bredouille steckt.« Sie blickte an ihm vorbei in die Ferne, mit eigenartig bitterem Mitgefühl in den Augen. »Das arme Ding«, sagte sie, »was muss sie gelitten haben.«
»Ich verstehe nicht, wieso du und Sister McDonald dauernd beieinander sitzen müsst und euch die ganze Zeit darüber unterhaltet«, sagte er dann. »Das ist doch alles eine ganze Zeit her, der Junge wächst ja schon ran.«
»Das stimmt«, sagte sie und senkte erneut den Kopf, »aber es gibt anscheinend nun mal Dinge, die lassen sich nicht einfach im Handumdrehen vergessen.«
»An wen schreibst du?«, fragte er, so beklommen von der plötzlichen Stille wie zuvor von ihrem Gerede.
Sie blickte auf. »Ich schreibe an deine Schwester, Florence. Soll ich ihr was ausrichten?«
»Nein. Schreib ihr einfach, dass ich für sie bete.«
Als Royal sechzehn war, brach der Krieg aus, und alle jungen Männer, erst die Söhne der Mächtigen, dann die eigenen Söhne, wurden in fremde Länder zerstreut. Gabriel fiel jeden Abend auf die Knie und betete, dass Royal nicht eingezogen wurde.
»Aber was ich gehört hab, will er ja«, sagte Deborah. »Seine Grandmama hat mir erzählt, er liegt ihr ständig in den Ohren, weil sie nicht zulässt, dass er sich meldet.«
»Diese jungen Männer«, sagte er finster, »sind ja anscheinend nicht zufrieden, bis sie nicht losziehen können, damit sie zum Krüppel oder totgeschossen werden.«
»Tja, so sind sie nun mal, die jungen Leute«, sagte Deborah aufgeräumt. »Nichts lassen die sich sagen – und wenn sie endlich selbst drauf kommen, dann ist es schon zu spät.«
Wann immer Deborah über Royal sprach, saß tief in ihm eine Angst, die angespannt lauschte. Viele Male hatte er mit dem Gedanken gespielt, Deborah sein Herz auszuschütten. Aber sie gab ihm keine Gelegenheit, sagte nichts, was ihm in heilender Demut ein Bekenntnis erlauben würde – oder ihm zumindest erlaubt hätte, ihr endlich zu sagen, wie sehr er sie für ihre Unfruchtbarkeit hasste. Sie forderte von ihm so viel, wie sie ihm gab – nichts, nichts jedenfalls, das man ihr vorwerfen konnte. Sie hielt sein Haus sauber und teilte sein Bett, sie besuchte die Kranken, wie sie es immer getan hatte, und tröstete die Sterbenden, wie sie es immer getan hatte. Diese Ehe, in seinen Träumen von aller Welt verlacht, hatte sich – in den Augen der Welt – so bewährt, dass niemand sich für einen von beiden einen anderen Zustand oder eine andere Verbindung vorstellen konnte. Sogar Deborahs schwache Konstitution, die mit den Jahren immer deutlicher hervortrat und sie immer häufiger ans Bett fesselte, und ihre Unfruchtbarkeit hatten sich wie einst ihre Schmach zu geheimnisvollen Beweisen ihrer vollkommenen Hingabe an Gott gewandelt.
»Amen«, sagte er vorsichtig nach ihrer letzten Bemerkung und räusperte sich.
»Ich muss sagen«, fuhr sie ebenso aufgeräumt fort, »manchmal erinnert er mich an dich in jungen Jahren.«
Er sah sie nicht an, aber er spürte ihren Blick auf sich; er griff nach seiner Bibel und schlug sie auf. »Junge Männer sind alle gleich, wenn Jesus kein Einsehen hat mit ihnen.«
Royal zog nicht in den Krieg, aber er zog in dem Sommer in eine andere Stadt, um dort im Hafen zu arbeiten. Gabriel sah ihn erst nach dem Krieg wieder.
An jenem Tag, einem Tag, den er nie vergessen würde, ging er nach der Arbeit Schmerzmittel für Deborah besorgen, die mit einem schlimmen Rücken im Bett lag. Es war noch nicht dunkel, die Straßen waren grau und leer – bis auf ein paar weiße Männer, die in kleinen Gruppen im Lichtschein eines Billardsaals oder einer Bar standen. Wenn er an einer Gruppe vorüberging, verstummten die Männer und betrachteten ihn mit mordlustiger Anmaßung; er sagte nichts, sondern senkte nur den Kopf, außerdem wussten sie ja, dass er Prediger war. Außer ihm war kein einziger Schwarzer auf der Straße. Am Morgen hatte man vor den Toren der Stadt die Leiche eines Soldaten gefunden, die Uniform zerfetzt von Peitschenhieben, dazwischen rohes rotes Fleisch, das aus der schwarzen Haut klaffte. Er lag mit dem Gesicht nach unten am Fuße eines Baums, die Fingernägel tief in die aufgewühlte Erde gegraben. Als man ihn umdrehte, blickten die Augen starr vor Verwunderung und Entsetzen nach oben, der Mund stand weit offen, seine blutgetränkte Hose war aufgerissen und zeigte der kalten, weißen Morgenluft die dichten, verklebten Haare im Schritt, schwarz und rostrot, und die Wunde, die noch immer zu pochen schien. Schweigend trug man ihn nach Hause und legte ihn hinter verschlossenen Türen zu den Verwandten, die weinten und beteten, von Rache träumten und auf die nächste Heimsuchung warteten. Jetzt spuckte jemand zu Gabriels Füßen auf den Gehsteig, er ging weiter mit unbewegter Miene und hörte es hinter sich vorwurfsvoll flüstern, er sei ein guter Nigger, bestimmt nicht auf Radau aus. Er hoffte, dass man ihn nicht ansprach, dass er in keines der vertrauten weißen Gesichter lächeln musste. Während er weiterging, vor lauter Umsicht steifer als ein Stock, betete er, wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte, um Herzensmilde, träumte jedoch davon, eine weiße Stirn unter seinem Schuh zu spüren, wieder und wieder, bis der Kopf auf dem gebrochenen Genick baumelte und der Fuß nur noch auf strömendes Blut trat. Und als er gerade noch dachte, nur die Hand des Herrn könne Royal fortgeschickt haben, denn wenn er geblieben wäre, hätten sie ihn bestimmt umgebracht, da bog er um die Ecke und blickte ihm, Royal, ins Gesicht.
Er war inzwischen so groß wie Gabriel, breitschultrig und schlank. Er trug einen neuen Anzug, blau mit breiten blauen Streifen, und hatte ein verschnürtes braunes Päckchen unter den Arm geklemmt. Die beiden starrten sich einen Moment unverwandt an, Royal mit blanker Feindseligkeit, bis er sich offenbar an Gabriels Gesicht erinnerte, seine brennende Zigarette aus dem Mund nahm und mit gequälter Höflichkeit »Tag, Sir« sagte. Seine Stimme war rau, und sein Atem roch leicht nach Whisky.
Gabriel hatte es erst mal die Sprache verschlagen; er rang nach Luft. »Tag«, sagte er schließlich. Dann standen sie an der verwaisten Ecke, als warteten beide darauf, dass der andere etwas Weltbewegendes von sich gab. Als Royal gerade gehen wollte, fielen Gabriel die weißen Männer ein, die in der ganzen Stadt lauerten.
»Junge«, rief er, »hast du den Verstand verloren? Weißt du nicht, dass du hier draußen nichts verloren hast, hier einfach so auf der Straße?«
Royal sah ihn an, unsicher, ob er lachen oder beleidigt sein sollte, und Gabriel fügte versöhnlicher hinzu: »Ich meine nur, pass auf, mein Sohn. Heute sind nur Weiße in der Stadt. Sie haben einen umgebracht … letzte Nacht …«
Weiter kam er nicht. Wie in einer Vision sah er Royal reglos hingestreckt auf dem Erdboden, und Tränen vernebelten ihm den Blick.
Royal betrachtete ihn mit verhaltenem, gereiztem Mitgefühl.
»Weiß ich«, sagte er schroff, »aber die lassen mich in Ruhe. Für diese Woche haben sie ihren Nigger gehabt. Außerdem hab ich’s sowieso nicht weit.«
Auf einmal schien die Ecke, an der sie standen, unter schwerer Todesgefahr zu wanken. Es schien einen Augenblick, als würden Tod und Zerstörung auf sie zurasen: zwei schwarze Männer allein in der stillen dunklen Stadt, durch die weiße Männer wie Löwen pirschten – welche Gnade konnten sie sich erhoffen, sollten sie erwischt werden, wie sie hier miteinander sprachen? Man würde doch bestimmt annehmen, dass sie auf Rache sannen. Um seinen Sohn zu retten, setzte sich Gabriel in Bewegung.
»Gott segne dich, mein Junge«, sagte er. »Dann mal schnell weiter.«
»Tja«, sagte Royal, »danke.« Er wollte gerade um die Ecke biegen, da blickte er sich noch einmal um. »Sehen Sie sich auch vor«, sagte er lächelnd.
Er bog um die Ecke, und Gabriel hörte, wie seine Schritte sich entfernten und schließlich von der Stille verschluckt wurden. Auf seinem Weg hörte er keine Stimmen, die sich gegen Royal erhoben. Bald herrschte überall Stille.
Knapp zwei Jahre später teilte Deborah ihm mit, sein Sohn sei tot.
Und jetzt versuchte John zu beten, umgeben von lautem Beten, lautem Rufen und Singen. Sister McCandless führte den Gesang an, sang praktisch allein, denn die anderen stöhnten und riefen unablässig. Das Lied kannte er schon sein ganzes Leben:
Lord, I’m traveling, Lord, I got on my traveling shoes.
Ohne aufzublicken, sah er sie vor dem Altar stehen und das Blut anrufen für alle, die Erlösung suchten, den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen, mit dem Fuß auf den Boden stampfend. Sie sah nicht aus wie die Sister McCandless, die hin und wieder zu ihnen zu Besuch kam, wie die Frau, die jeden Tag downtown zu den Weißen arbeiten ging und abends erschöpft die langen dunklen Treppen hochstieg. Nein: Ihr Gesicht war jetzt verklärt, sie war durch und durch verwandelt durch die Kraft der Erlösung.
»Es gibt die Erlösung«, sagte eine Stimme zu ihm. »Gott gibt es. Der Tod kommt bald oder nicht so bald, warum zögerst du? Jetzt gilt es, den Herrn zu suchen und ihm zu dienen.« Für alle anderen hier gab es eine Erlösung, und auch für ihn könnte es sie geben. Er musste nur bitten, und Gott würde ihn berühren, er musste nur rufen, und Gott würde ihn erhören. All die anderen hier, die so fern von ihm frohlockten, hatten einst gesündigt, so wie er – sie hatten gerufen, und Gott hatte sie erhört und sie aus all ihrer Not errettet. Und was Gott für andere getan hatte, konnte er auch für ihn tun.
Aber – aus all ihrer Not? Warum weinte seine Mutter? Warum runzelte sein Vater die Stirn? Wenn Gottes Kraft so mächtig war, warum lebten sie dann in solcher Not?
Er hatte noch nie wirklich über ihre Not nachgedacht, oder besser, er hatte sie sich noch nie so direkt vor Augen geführt. Sie war immer da gewesen, hinter seinem Rücken vielleicht, all die Jahre, aber er hatte sich ihr nie gestellt. Nun stand sie vor ihm, unausweichlich, und starrte ihn an mit ihrem riesigen Schlund. Jederzeit konnte sie ihn verschlingen. Nur die Hand Gottes konnte ihn davor bewahren. Durch das Fauchen des Sturms, der so schmerzhaft in ihm aufzog und – für immer? – die seltsame, doch tröstliche Landschaft seines Geistes verwüstete, wurde ihm aber gleich klar, dass die Hand Gottes ihn bestimmt in das starrende, wartende Maul führen würde, diesen weiten Schlund, diesen heißen Atem, der wie Feuer war. Er würde in die Finsternis geführt, und in der Finsternis würde er bleiben, bis in unabsehbarer Zeit die Hand Gottes hinabreichte, um ihn heraufzuholen, ihn, John, der nach der Finsternis, in der er gelegen hatte, nicht mehr er selbst wäre, sondern ein anderer Mann. Er wäre, wie man so sagt, für immer verwandelt; in Unehre gesät, würde er in Ehre auferstehen: Er würde von Neuem geboren.
Dann wäre er nicht mehr der Sohn seines Vaters, sondern der Sohn seines himmlischen Vaters, des Königs. Dann bräuchte er seinen Vater nicht mehr zu fürchten, denn dann könnte er ihren Streit über seines Vaters Kopf hinweg in den Himmel tragen – zu dem Vater, der ihn liebte, der im Fleisch hinabgestiegen war, um für ihn zu sterben. Dann wären sein Vater und er ebenbürtig, im Angesicht und in der Liebe Gottes und in seinem Schall. Dann konnte sein Vater ihn nicht mehr schlagen, nicht mehr verachten, nicht mehr verspotten — ihn, John, den Gesalbten des Herrn. Dann könnte er mit seinem Vater sprechen, wie Männer miteinander sprachen – wie Söhne mit ihren Vätern sprachen, nicht zitternd, sondern in zartem Vertrauen, nicht in Hass, sondern in Liebe. Sein Vater konnte nicht verstoßen, wen Gott aufgelesen hatte.
Doch wurde ihm schaudernd bewusst, dass er genau das nicht wollte. Er wollte seinen Vater nicht lieben, er wollte ihn hassen, er wollte den Hass hegen und ihm eines Tages Worte verleihen. Er wollte den Kuss seines Vaters nicht – nicht mehr, nicht nach all den Schlägen, die er empfangen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, wann auch immer, wie sehr er sich auch ändern mochte, die Hand seines Vaters ergreifen zu wollen. Der Sturm, der heute Abend in ihm tobte, konnte diesen Hass nicht ausreißen, den mächtigsten Baum in Johns ganzem Seelenland, das Einzige, was heute Abend blieb in Johns Flut.
Und er beugte den Kopf, verwirrt und erschöpft, noch tiefer vor dem Altar. Ach, wenn sein Vater doch sterben würde! – und der Weg damit frei wäre für ihn, wie er für andere frei war. Aber noch im Grab würde er ihn hassen; sein Vater wäre nur in einen anderen Zustand übergegangen, er wäre immer noch sein Vater. Das Grab reichte nicht aus als Strafe, als Gerechtigkeit, als Rache. Die immerwährende, unaufhörliche, fortdauernde, auf ewig ungelöschte Hölle sollte seinem Vater zuteilwerden, und John würde zusehen, verweilen, lächeln, laut lachen, er würde endlich die Schmerzensschreie seines Vaters hören.
Und selbst dann wäre es noch nicht vorbei. Der immerwährende Vater.
Ach, aber seine Gedanken waren böse, doch heute Abend war ihm das egal. Irgendwo, in diesem Wirbelwind, in der Finsternis seines Herzens, in dem Sturm, war etwas – etwas, das er finden musste. Er konnte nicht beten. Seine Gedanken waren wie das Meer: Aufgewühlt und noch zu tief selbst für den mutigsten Taucher, spuckten sie dann und wann dem bloßen Auge zur Verwunderung längst vergessene Schätze und Trümmer aus – Knochen und Edelsteine, schillernde Muscheln, Gallert, das einmal Fleisch gewesen war, Perlen, die einmal Augen gewesen waren. Er war diesem Meer ausgeliefert, mittendrin, und rundherum nichts als Finsternis.
Als Gabriel an dem Morgen aufgestanden und zur Arbeit gegangen war, war der tiefe Himmel fast schwarz und die Luft so dick, dass man kaum atmen konnte. Am späten Nachmittag kam Wind auf, der Himmel öffnete sich, und der Regen fiel. Der Regen fiel, als hätte der Herr im Himmel sich erneut vom Nutzen einer Flut überzeugen lassen. Der Regen trieb die gebeugten Wanderer vor sich her, jagte Kinder ins Haus, leckte mit beängstigendem Zorn an den starken hohen Mauern, an den Wänden der Hütten und Schuppen, peitschte gegen Borke und Blätter der Bäume, drückte das weite Gras nieder und brach den Blumen das Genick. Die Welt wurde dunkel, für immer, überall, und über Fenster strömte es, als hätten die Scheiben alle Tränen der Ewigkeit zu tragen und drohten, jeden Moment unter der Wucht einwärts zu bersten, unkontrollierbar, so plötzlich heimgesucht auf der Erde. Durch diese Wasserwüste (die gleichwohl versäumt hatte, die Luft zu reinigen) ging Gabriel nach Hause, wo Deborah in dem Bett auf ihn wartete, das zu verlassen sie sich dieser Tage nur noch selten bemühte.
Er war noch keine fünf Minuten zu Hause, da merkte er, dass ein anderes Schweigen herrschte als sonst: Etwas wartete darin, etwas machte sich bereit.
Er blickte vom Tisch auf, an dem er das Essen zu sich nahm, das sie unter Mühen bereitet hatte. »Wie geht es dir denn heute, alte Dame?«
»Ich fühl mich in etwa so wie immer«, sagte sie lächelnd. »Ich fühle mich nicht besser, und ich fühle mich nicht schlechter.«
»Die Gemeinde betet für dich«, sagte er, »dass du wieder auf die Beine kommst.«
Sie antwortete nicht, und er beugte sich wieder über seinen Teller. Aber sie beobachtete ihn; er blickte wieder auf.
»Ich hab heute was ganz Schlimmes erfahren«, sagte sie langsam.
»Was hast du erfahren?«
»Sister McDonald war heute Nachmittag hier, und bei Gott, es ging ihr gar nicht gut.« Reglos starrte er sie an. »Sie hat heute einen Brief gekriegt, in dem Brief steht, dass ihr Enkel – du weißt schon, dieser Royal – umgekommen ist, in Chicago. Der Herr hat ja diese Familie irgendwie richtig verflucht. Erst die Mutter, jetzt der Sohn.«
Einen Augenblick lang konnte er sie nur anstieren, während das Essen in seinem Mund schwer und trocken wurde. Draußen marschierten die Regenarmeen, Blitze erhellten das Fenster. Als er zu schlucken versuchte, blieb es ihm in der Kehle stecken. Er fing an zu zittern. »Ja«, sagte sie jetzt mit abgewandtem Blick, »etwa ein Jahr lang hat er da gelebt, in Chicago, und hat die ganze Zeit nur getrunken und gelumpt, und seine Grandmama, die hat mir erzählt, anscheinend hat er mit ein paar Niggern aus dem Norden Karten gespielt an dem Abend, und einer von denen ist durchgedreht, weil er dachte, der Junge will ihn beschummeln, da hat der sein Messer rausgeholt und ihn erstochen. Hat ihn in die Kehle gestochen, und sie hat mir erzählt, dass er gleich da, auf dem Fußboden der Bar, gestorben ist, da war nicht mal mehr Zeit fürs Krankenhaus.« Sie drehte sich im Bett um und sah ihn an. »Der Herr hat dieser Frau aber auch wirklich ein schweres Kreuz aufgeladen.«
Er wollte etwas sagen; er dachte an den Friedhof, auf dem Esther begraben lag, und an Royals erstes dünnes Weinen. »Holt sie ihn denn nach Hause?«
Sie machte große Augen. »Nach Hause? Guter, sie haben ihn schon ins Armengrab gelegt da oben. Auf diesen Jungen guckt nie wieder irgendwer drauf.«
Da fing er an zu weinen, lautlos, am Tisch, am ganzen Leib zitternd. Sie sah ihm lange zu, und irgendwann legte er den Kopf auf die Tischplatte, stieß dabei die Kaffeetasse um und weinte laut. Das Weinen schien überall zu sein, Schmerz die Welt zu fluten; Gabriel weinte, der Regen trommelte aufs Dach und an die Fenster, der Kaffee tropfte von der Tischkante. Schließlich sagte Deborah: »Gabriel … Dieser Royal … Er war dein Fleisch und Blut, nicht?«
»Ja«, sagte er, froh sogar in seinem Schmerz, dass ihm diese Worte über die Lippen kamen: »Er war mein Sohn.«
Wieder herrschte Schweigen. »Und du hast die junge Frau weggeschickt, oder? Mit dem Geld aus der Dose?«
»Ja«, sagte er. »Ja.«
»Gabriel«, fragte sie, »warum hast du das gemacht? Warum hast du sie da sterben lassen irgendwo ganz allein? Warum hast du nie was gesagt?«
Er konnte nicht antworten. Er konnte den Kopf nicht heben.
»Warum?«, beharrte sie. »Schatz, ich hab dich nie danach gefragt, aber ich hab ein Recht, das zu wissen – wo du doch unbedingt einen Sohn wolltest.«
Unsicher stand er auf, ging langsam zum Fenster und sah hinaus.
»Ich habe meinen Gott angefleht, dass er mir vergibt«, sagte er, »aber den Sohn von einer Hure wollte ich nicht.«
»Esther war keine Hure«, sagte sie leise.
»Sie war nicht meine Frau. Ich konnte sie nicht zu meiner Frau machen. Ich hatte doch schon dich.« Das letzte Wort spuckte er aus wie Gift. »Esther hatte mit dem Herrn nichts zu schaffen, sie hätte mich direkt mit runtergezogen, direkt runter in die Hölle.«
»Das hat sie ja beinahe geschafft.«
»Der Herr hat mich zurückgehalten.« Es donnerte, es blitzte. »Er hat seine Hand ausgestreckt und mich zurückgehalten.« Gabriel wandte sich wieder in den Raum: »Mir blieb doch gar nichts anderes übrig«, weinte er, »was blieb mir denn anderes übrig? Wo hätte ich hingehen können mit Esther, ich als Prediger? Und was hätte ich mit dir gemacht?« Er sah sie an, alt und schwarz und duldsam mit dem Geruch nach Krankheit, Alter und Tod. »Ach«, die Tränen rannen weiter, »wahrscheinlich hast du dich mächtig gefreut heute, hm? Als sie dir erzählt hat, dass Royal tot ist, mein Sohn? Du hattest ja nie einen Sohn.« Und er drehte sich wieder zum Fenster um. »Wie lange weißt du schon davon?«
»Ich weiß davon seit dem Abend damals, vor langer Zeit, als Esther in die Kirche gekommen ist.«
»Du hast eine schmutzige Fantasie«, sagte er. »Ich hatte sie überhaupt noch nicht angerührt damals.«
»Nein«, sagte sie langsam, »aber mich hattest du schon angerührt.«
Er trat vom Fenster zurück und blickte vom Fuß ihres Bettes auf sie herab.
»Gabriel«, sagte sie, »ich hab gebetet all die Jahre, der Herr möge an meinen Körper rühren und aus mir eine Frau machen wie all diese Frauen, mit denen du dauernd zusammen warst die ganze Zeit.« Sie war sehr gefasst, ihre Miene bitter und ergeben. »Das war aber wohl nicht sein Wille. Ich konnte wohl nicht vergessen …, was sie mit mir angestellt haben früher, als ich ein Mädchen war.« Sie wandte den Blick ab. »Aber, Gabriel, hättest du nur was gesagt, von mir aus noch, als das arme Mädchen unter die Erde gekommen ist, dass du den armen Jungen zu dir nehmen willst, dann hätte ich mich nicht drum geschert, was die Leute reden oder wo wir hätten hingehen müssen, gar nichts. Ich hätte ihn aufgezogen wie meinen eigenen, ich schwöre bei Gott, das hätte ich gemacht – und dann würde er jetzt vielleicht noch leben.«
»Deborah«, fragte er, »was hast du gedacht die ganze Zeit?«
Sie lächelte »Ich hab gedacht, man soll besser vor Entsetzen zittern, wenn der Herr gibt, was das Herz begehrt.« Sie hielt inne. »Ich hab dich immer gewollt, von Anfang an. Und dann hab ich dich bekommen.«
Er ging zurück ans Fenster, Tränen strömten ihm übers Gesicht.
»Schatz«, sagte sie nun mit kräftiger Stimme, »du bete mal lieber zu Gott, dass er dir vergibt. Und lass nicht nach darin, bis er dir ein Zeichen sendet, dass er dir vergibt.«
»Ja.« Er seufzte. »Ich harre des Herrn.«
Dann herrschte Stille, abgesehen vom Regen. Es schüttete wie aus Kübeln; es regnete, wie es hieß, Mistgabeln und Niggerbabys. Wieder zuckten Blitze durch den Himmel, und der Donner grollte.
»Hörst du«, sagte Gabriel. »Gott spricht.«
Langsam erhob er sich von den Knien, denn die halbe Gemeinde stand schon: Sister Price, Sister McCandless und Praying Mother Washington; die junge Ella Mae saß auf ihrem Stuhl und betrachtete den liegenden Elisha. Florence und Elizabeth knieten noch, und auch John kniete.
Beim Aufstehen dachte Gabriel daran, wie der Herr ihn vor langer Zeit in diese Kirche geführt hatte und wie Elizabeth eines Abends, nach seiner Predigt, durch diesen langen Gang zum Altar gegangen war, um vor Gott ihre Sünde zu bereuen. Und dann hatten sie geheiratet, denn er glaubte ihr, als sie sagte, sie sei ein anderer Mensch geworden – sie war das Zeichen, sie mit ihrem namenlosen Sohn, auf das er so viele dunkle Jahre geharrt hatte vor dem Herrn. Als er die beiden sah, war es, als hätte der Herr ihm zurückgegeben, was einmal verloren war.
Als er mit den anderen neben dem gefallenen Elisha stand, erhob sich John von den Knien. Er warf einen benommenen Blick auf Elisha und die anderen, schläfrig, skeptisch und ein wenig zitternd, als wäre ihm kalt; dann spürte er den Blick seines Vaters auf sich und sah zu ihm hinauf.
Im selben Augenblick fing Elisha am Boden an, erfüllt vom Heiligen Geist in einer Feuerzunge zu reden. John und sein Vater starrten einander an, sprachlos, reglos, während zwischen ihnen etwas zum Leben erwachte – und der Heilige Geist sprach. Gabriel hatte einen solchen Ausdruck noch nie bei John gesehen; während der Geist sprach, blickte Satan John aus den Augen, doch Johns starrer Blick erinnerte Gabriel auch noch an andere Augen: die Augen seiner Mutter, wenn sie ihn schlug, Florence’ Augen, wenn sie ihn verhöhnte, Deborahs Augen, wenn sie für ihn betete, Esthers und Royals Augen und Elizabeths Augen heute Abend, bevor Roy ihn verfluchte, Roys Augen, als er ihn einen »schwarzen Bastard« nannte. John senkte den Blick nicht, sondern schien ewig in die Abgründe von Gabriels Seele blicken zu wollen. Und Gabriel, der kaum glauben konnte, dass John so schamlos geworden war, starrte mit Zorn und Entsetzen auf Elizabeths anmaßenden Bastard, der in seiner Bosheit auf einmal so alt geworden war. Beinahe hätte er die Hand gegen ihn erhoben, aber er regte sich nicht, denn Elisha lag zwischen ihnen. Dann stieß er tonlos hervor: »Knie nieder.« John drehte sich abrupt um, eine Bewegung wie ein Fluch, und kniete erneut vor dem Altar.