14. Kapitel
Ödel 1.psd
Sally
Ich liege auf dem Bett. Wer mich sieht, muss von Scheintod ausgehen, wenn nicht wirklich tot, nur ohne den Gestank. Dabei rasen in meinem Kopf die Gedanken. Seit zwei Tagen hält sie mich hier gefangen, meine Tür wird abgeschlossen, im Gegensatz zu früher, war sie diesmal auch sinnig genug, vorher meine gesamte Technik zu entfernen.
Kein Handy, kein Tablet, kein Laptop, selbst meinen iPod hat sie konfisziert, wie sie es nennt. Miese, verdammt miese kleine Bitch. Ich nenne das nämlich Diebstahl. Nicht mal putzen »darf« ich noch. Ihr Plan, mich vor Victor lächerlich zu machen, indem sie mich wie ein Dienstmädchen behandelt, ist auf einmal nicht mehr aktuell.
Ich bin von der Außenwelt abgeschnitten und das droht mich allmählich zu zermürben. Victor lässt sich nicht blicken, Charlie auch nicht, und mein Essen bringt mir James, der sich auf kein Gespräch einlässt. Was sollte ich auch schon zu ihm sagen? Dass sie mich nicht zu den Vorlesungen gehen lässt, ist ein ganz schlechtes Zeichen. Bisher hat sie immer irgendwie die Formen gewahrt, hat immer irgendwie … dafür gesorgt, dass sie nach außen hin den Eindruck einer besorgten Mutter um ihr missratenes Kind erweckt – alles Mumpitz, ich weiß es besser, wir beide wissen es besser.
Jetzt hat unser Kleinkrieg ein neues Level erreicht und ich bin kaltgestellt.
Mit jeder Minute, die vergeht, fühle ich mich ein bisschen verlassener, ein bisschen gefangener, ein bisschen ausgehungerter.
Die Monsterstiefmutter arbeitet mit allen Tricks, der Strom ist abgestellt, sodass ich es ab siebzehn Uhr dunkel habe, es gibt nur Brot und Wasser zu essen, und zwar so wenig, dass es kaum sättigen kann. Mein Fenster wurde zusätzlich mit Gittern versehen, das war gleich am ersten Tag und James höchstpersönlich hat dies übernommen. Nun ist es offiziell: Ich befinde mich im Gefängnis und ich weiß immer noch nicht, warum eigentlich.
Gut, ich bin unerlaubterweise in den Club gegangen, aber Charlie hat das auch getan und soweit ich weiß, hat die nicht die Zelle neben mir bekommen.
Über die Ungesetzlichkeit der ganzen Aktion brauchen wir uns nicht zu unterhalten, die ist mir klar, aber wo kein Kläger, da kein Richter. Ich bezweifle, dass irgendwer in der Stadt hören würde, wenn ich hier in meinem Verlies brülle, dass ich total menschenunwürdig behandelt werde. Und dass Blue es nicht hört, dafür wird sie gesorgt haben.
Ich bin … kaltgestellt.
Ich bin … allein.
Niemand spricht mit mir, egal wie sehr ich auf James einschreie – in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen – er scheint mich nicht zu hören, obwohl er inzwischen einen fiesen Tinnitus haben muss, so laut wie ich brülle. Am Anfang, irgendwann lasse ich es, spüre die Welle der Melancholie über mich hinwegschwappen, spüre, wie die düstere Stimmung von mir Besitz ergreift und ich keine Macht mehr darüber habe. Der Kampfgeist erlischt und alles, was mir noch bleibt, ist die Hoffnung, dass Blue nach mir sucht oder dass Charlie sich endlich mal gegen ihre Mutter durchsetzt.
Aber … ich kenne Antonia, ich kenne Charlie, am Ende ist sie immer die gehorsame Tochter gewesen, sie wird sich nicht gegen sie stellen, sie wird nicht revoltieren. Für die Rebellion bin ich zuständig.
Und ich bin gerade nicht verfügbar.
Wenn ich überhaupt schlafe, dann nur in kurzen Etappen, aus denen ich immer aufschrecke. Wie aus einem miesen Albtraum, an den ich mich nie erinnern kann. Das zermürbt mehr, als würde ein Horrorfilm vor meinem geistigen Auge ablaufen, denn so weiß ich nicht, weshalb ich schweißgebadet bin und am liebsten flüchten würde.
Zu Blue.
Ehrlich, ich hätte niemals gedacht, dass mir ein Mensch einmal so fehlen würde, dass ich mich wie die schlimmste Pinky-Bitch aller Zeiten an die äußerste Ecke meines Bettes flüchte und hoffe und bete und jammere, dass er bitte kommt und mich holt. Dabei weiß ich doch am besten, das Hoffen was für Narren ist, selbst ist die Frau, so war es schon immer.
Aber wie soll ich mich aus dieser Falle befreien, wie soll ich hier rauskommen, wo mich dicke Mauern umgeben und die massive Tür immer verschlossen ist? Wo ich mit niemandem Kontakt aufnehmen kann, weil einfach niemand mit mir spricht?
Ich bin gefangen und ich drohe zu ersticken, einfach zu sterben, einfach … draufzugehen. Und niemand kann mir helfen, niemand ist bereit, für mich zu kämpfen. Ich bin ganz allein.
Ich bin am Ertrinken.
* * *
Zeitgefühl habe ich keines mehr, aber es ist draußen dunkel, als der Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür aufgerissen wird. Die Giftnatter tritt ein, ich habe sie vor ein paar Stunden umgetauft.
»Ich habe dein Studium gecancelt«, teilt sie mir mit, ohne die Tür zu schließen. »Du wirst hier niemals wieder rauskommen, Du hast verspielt, Mädchen, und … deinen Victor wirst du auch nie wiedersehen.« Kopfschüttelnd sieht sie mich an. »Hast du wirklich geglaubt, du würdest ihm was bedeuten? Hast du ernsthaft angenommen, er würde sich um eine wie dich scheren, oder vielleicht nach dir suchen?«
Sie redet, ihr Mund bewegt sich, aber ich höre sie nicht mehr, das Rauschen in meinen Ohren ist lauter und diesmal schwappen die Wellen über. Mit einem Satz bin ich aus dem Bett, nehme den erstbesten Gegenstand, der mir unter die Finger kommt – es ist meine Bürste – und schleudere sie nach ihr. Sie tritt in letzter Sekunde beiseite – knapp verfehlt. FUCK! Ich weiß, dass ich brülle, aber ich weiß nicht, was, es ist auch nicht wichtig. Als Nächstes fliegt der Teller, auf dem das Brot war, das Wasserglas folgt, dann die kleine Lampe, sie hat mir sowieso nie gefallen – viel zu kitschig. Die Luft dröhnt von meinem Gekreische. Ich schiebe die Möbel hin und her, ich brülle das ganze Haus zusammen, werde immer lauter, immer schriller, immer mordhungriger. Da ist so viel Wut in mir, dass ich weiß, ich kann Stunden so weitermachen. Ich habe mich gerade erst warmgelaufen und fuck, es ist so denkbar befreiend, selbst wenn mir jemand eine Knarre an die Schläfe halten würde, könnte ich den Ausbruch nicht mehr aufhalten.
Das hat sie schon mal geschafft, in gewisser Weise hat sie mich befreit.
Aus meinem stundenlangen Ausrasten wird nichts.
Sie lächelt die ganze Zeit, wirkt überhaupt nicht beeindruckt, und das macht mich noch wütender. Inzwischen will ich sie nicht treffen, mittlerweile will ich sie wirklich killen.
Daraus wird aber auch nichts, denn mit einem Mal stürmen gleich drei riesige Typen in den Raum, füllen ihn damit fast aus und packen mich, drücken mich zu Boden, während ich schreie und strampele und versuche, nach ihnen zu treten. Einer von ihnen packt mein Genick, zwingt meinen Kopf zu Boden und stemmt ein Knie auf meinen Rücken. Ich höre eine gruselige Stimme an meinem Ohr, gruselig, weil ich sie vor lauter Freude, ja, fast Glückseligkeit kaum noch meiner Stiefmutter zuordnen kann. »Leb wohl, Elisabeth.«
Dann spüre ich einen Einstich in meiner Armbeuge, brülle noch lauter und … bin weg.
* * *
Ich wache auf und befinde mich in einer … Gummizelle. Dass es eine ist, weiß ich sofort, jeder aufgeklärte Mensch hat diverse Filme gesehen, in denen sowas vorkam, um zu wissen, worum es sich handelt, wenn es einen selbst erwischt. Allerdings habe ich keine Zwangsjacke an, sondern liege auf einer Pritsche. Als ich mich bewegen will, geht mir auf, dass ich gefesselt bin und dass ich nur ein Nachthemd trage.
Fuck.
Und jetzt bin ich richtig im Arsch.
»Da sind Sie ja«, sagt eine dunkle, aber ganz sympathische Stimme, und ein Mann taucht neben mir auf. Im weißen Kittel und allem Drum und Dran, selbst die Stifte in der Brusttasche dürfen nicht fehlen. Sein Haar ist fast weiß, er trägt eine randlose Brille und über seiner Oberlippe befindet sich ein hauchdünner Bart. »Mein Name ist Doktor Sorrow, ich bin Ihr Arzt.«
Ich starre ihn nur an.
»Sie fragen sich bestimmt, wo Sie sind und weshalb Sie sich in diesem Raum befinden.«
Allerdings, das frage ich mich.
Sehr.
Wenn nicht gerade die Panik überhandnimmt und mir das Denken unmöglich macht.
»Sie befinden sich im St. Elisabeth Sanatorium, benannt nach der Heiligen Elisabeth, die sich im siebzehnten Jahrhundert vorrangig um geistig versehrte Menschen kümmerte. Wie interessant, dass hier eine Namensgleichheit vorliegt.«
Finde ich nicht interessant, Elisabeth, dieser strunz langweilige Name, war zu allen Zeiten so bekannt und verbreitet, dass er einer Grußformel gleichkam. Das hat sich bis heute nicht geändert.
»Sie haben sich in einen hysterischen Anfall hineingesteigert, bis Sie nicht mehr atmen konnten, und wir haben entschieden, das Beste ist es, Sie zunächst in unserem stimulationsfreien Raum zu bringen.« Er sieht sich kurz um, dann mich wieder an. »Hier können Sie sich beruhigen, weil jegliche äußere Reize und Stimulanzien fehlen, und wenn Sie sich in der Lage fühlen, können wir mit der Behandlung beginnen. Es ist sehr tragisch, dass Sie nicht früher in unsere Obhut kamen, wir hätten Ihnen helfen können.«
Der Typ macht einen Witz nach dem anderen, und jetzt setzt er sich auch noch auf mein Bett, legt die Hände ineinander, was ihn wie einen Geistlichen wirken lässt, und sieht mich an, als wäre ich nicht ganz dicht.
Oh, davon geht er ja allem Anschein nach aus.
Verdammt!
»Bei Ihrer Diagnose sind wir noch nicht sicher, allerdings hat Ihre Mutter uns die Dokumente Ihrer früheren Behandlungen zukommen lassen und ich vermute, dass es sich in Ihrem Fall um eine Persönlichkeitsstörung handelt. Keine Sorge, so etwas ist behandelbar. Ein paar Monate bei uns und Sie werden sich deutlich besser fühlen.«
»Hören Sie …« Ich raffe all meine Geduld und meine Nerven zusammen und bleibe ruhig, versuche, vernünftig und sachlich zu argumentieren, obwohl ich den Idioten am liebsten anspucken würde. »Ich habe keine Persönlichkeits… Störung, ich bin auch nie in Behandlung gewesen, das alles ist meiner Stiefmutter zu verdanken, die mich aus dem Weg haben will. Warum auch immer, fragen Sie am besten sie, wenn Sie Genaueres wissen wollen. Ich gehöre weder hierher noch haben Sie das Recht, mich hier festzuhalten. Ich will sofort losgemacht werden und ein Telefon will ich auch, und vor allem ein paar Klamotten, haben Sie das verstanden?«
Er hat mir mit geduldigem Lächeln zugehört, das mich irgendwie argwöhnisch macht. »Aber natürlich«, sagt er gönnerhaft und steht auf. »Am besten, Sie beruhigen sich erst einmal, Elisabeth. Ich werde später noch einmal bei Ihnen vorbeischauen.«
Er geht raus, schließt leise die Tür, aber ich kann hören, wie er mit jemanden spricht, den ich nicht sehen kann. »Erst mal lassen wir sie hier, sollte sie sich aufregen, wird sie ruhiggestellt, ich will keinen Aufstand.«
Da ist dieser Kloß.
Dieser dicke, dicke Kloß, der droht, mir die Luft abzudrücken. Der mich fast zwingt, genau jetzt einen Anfall zu bekommen, einen hysterischen, damit die Typen hier mal eine Ahnung davon bekommen, wovon ich spreche. Aber ich begreife, dass ich ihnen damit genau in die Karten spielen, dass ich meine Lage damit noch dramatisieren würde, dass sie gerade stärker sind als ich, dass sie die totale Macht haben. Und so beiße ich mir fest auf die Unterlippe, beiße sie mir wund, entschlossen, keinen weiteren Ton von mir zu geben.
Aber dagegen, dass die Tränen aus meinen Augen sickern, kann ich nichts tun.
Noch nie zuvor, nicht mal in diesem abgeschlossenen Zimmer, habe ich mich so … vergewaltigt gefühlt. Und ich habe keinen Schimmer, wie ich mich aus dieser Falle wieder befreien soll. Besser noch, ich weiß nicht, weshalb ich überhaupt darin gelandet bin.
Hilf mir … bitte, irgendwer. Ist mir fast egal, wer du bist, aber hilf mir bitte , ertappe ich mich beim Beten und bei der nächsten Selbstlüge, denn ich habe ein ganz konkretes Bild davon vor Augen, wer mir bitte – BITTE – helfen soll.
Anscheinend ist er der Einzige, der überhaupt dafür infrage kommt.
Auch wenn sein Name total bescheuert ist.