21. Kapitel
Ödel 1.psd
Eine Woche später
Charlie
»Du musst es mir einfach sagen!« Ich brülle meine Mom fast an, was mir noch nie passiert ist, aber sie bleibt trotzdem unbeeindruckt.
»Nein, das muss ich nicht. Und jetzt geh, Charlie.«
Blue
»Ich hasse schwarze Smokings.«
Der Schneider sieht nur kurz zu mir auf. »Oh, aber ich dachte, Sie hätten das Exemplar ausgesucht, Sir.«
»Habe ich auch, deshalb kann ich es ja trotzdem hassen, oder etwa nicht?«
Er mustert mich komisch, als wäre ich hier der Wahnsinnige, dann widmet er sich wieder der Absteckarbeit … wie schon seit geschlagenen zwei Stunden.
Ich hasse mein verdammtes Leben.
Antonia
»Das ist mir natürlich klar, aber ich wünsche, dass sie mit keinen anderen Personen in Kontakt kommt.«
Sie hat zwei Fingerspitzen gegen die Schläfen gedrückt, die diese leicht massieren. Ein neuer Migräneschub kündigt sich an, und den kann sie gerade gar nicht gebrauchen.
»Doktor Sorrow , ich habe mich die Angelegenheit viel Geld kosten lassen, sie kostet mich immer noch monatlich ein halbes Vermögen, und das Einzige, was ich von Ihnen verlange, ist, dafür zu sorgen, dass Elisabeth Evans ein für allemal von der Bildfläche verschwindet, und zwar für jeden, auch den letzten Irren, der in Ihrer Anstalt sein Dasein fristet, haben Sie das endlich verstanden?«
Sie legt auf, ehe er antworten kann, und massiert nun mit beiden Händen.
Dass die Leute sie einfach nicht verstehen wollen. Simple Aufträge werden zu riesigen Komplikationen aufgebauscht, dabei müssen sie doch einfach nur tun, was sie von ihnen verlangt.
Inzwischen ist sie nicht sicher, ob sie dieses Gör nicht doch besser von Andersons Handlangern beseitigen lassen hätte. Die Connections hat er, dieser Mann ist tatsächlich mit allen Wassern gewaschen.
Sie nimmt sich vor, sich noch einmal damit zu befassen, wenn diese unselige Verlobungsfeier vorbei ist und sie den Kopf wieder etwas freier haben dürfte. Momentan weiß sie nämlich nicht, wo ihr selbiger steht.
Mira
»Keine Vorlesungen heute?«
Charlotte, die am Rand des überdachten Pools gesessen hat, ihr Smartphone auf dem Schoß und die Haare vom Schwimmen noch nass, sieht nur kurz auf. »Keine Schule heute?«
»Ich habe von der Obrigkeit freibekommen, weil ich mein Brautjungfernkleid anprobieren musste.«
»Und da bist du schon hier?«
»Bei mir gehts eben sehr schnell.«
Charlie hat nicht einmal aufgesehen, was mich wurmt. Wie so vieles mich gerade ziemlich wurmt, ganz besonders aber, dass mich hier jeder wie ein Baby behandelt.
»Und, hast du dein Brautkleid schon anprobiert.?
Entnervt sieht Charlie auf. »Täglich um die zwei Stunden, wenn du es genau wissen willst.«
Hastig hebe ich die Hände. »Ich frag ja nur«, sage ich rasch und neige den Kopf, um meiner Schwester ins Gesicht sehen zu können, die starrt nämlich schon wieder auf ihr blödes Handy.
»Bist du sauer, oder so?«
»Was? Nein, natürlich nicht.« Eine Falte hat sich zwischen ihren Brauen gebildet.
»Und warum bist du dann so arschig?«
Diesmal macht sie sich nicht die Mühe, sondern seufzt. »Ich bin nicht arschig, ich will nur für eine Weile meine Ruhe haben, ist das denn zu viel verlangt?«
Ein Satz, den ich auch immer häufiger höre: »Ich will meine Ruhe haben.«
Kotzt mich an, das alles. Okay, wenn es nicht anders geht, muss ich eben mit der Tür ins Haus fallen. »Stimmt es, dass Agnes Elisabeths Mutter ist, oder ist das nur ein Fake?«
Der Finger, mit dem sie eben noch auf dem Handy herumgetippt hat, verharrt, und sie sieht auf. »Was weißt du darüber?«
Ich hebe die Arme. »Nicht viel, deshalb frage ich dich ja.«
Sie presst die Lippen aufeinander und sieht sich nach allen Seiten um, was ich echt für ein bisschen übertrieben halte. Dann schließt sie stöhnend die Augen. »Ich kanns dir einfach nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil …« Flehend sieht sie mich an. »Ich kanns dir einfach nicht sagen.«
Ich hoffe, jedem ist inzwischen klar, warum ich in letzter Zeit ein bisschen angepisst bin. Entnervt trolle ich mich in die Küche, Agnes und dieser hässliche Rick mit der Aknehaut stehen da und bereiten das Dinner vor.
Ich setze mich auf den Tresen und beobachte die Köchin, während ich langsam meine Cola trinke. Ich kenne sie, seitdem wir hier eingezogen sind, und sie war immer brummig/fröhlich. So habe ich ihren Zustand irgendwann mal getauft, weil sie zwar echt streng sein, aber man mit ihr immer lachen kann.
In letzter Zeit lacht sie nicht mehr.
In letzter Zeit sieht sie nicht mehr auf und hat auch kein Wort mehr für mich übrig, wenn ich reinkomme. Sonst hat sie immer irgendwas gesagt wie:
»Na, Mira?« Oder »Trink nicht so hastig« oder »Zu viel Cola ist nicht gut für dich.«
Irgendwas kam immer, jetzt bin ich Luft. Sie scheint mich gar nicht zu bemerken, und ich betrachte sie sinnierend, auf der Suche nach … der Wahrheit.
Denn irgendwas läuft in diesem Haus.
Irgendwas läuft mit Elisabeth – nicht dass ich sie leiden kann, aber … sie ist einfach verschwunden und so weit geht meine Abneigung nun wieder nicht, um nicht rauskriegen zu wollen, wo sie abgeblieben ist.
Irgendwas läuft mit Agnes, ich kann einfach nicht glauben, dass sie Elisabeths Mutter ist, und wenn doch, dann ist das echt ein starkes Stück.
Und zwischen Charlie und Victor läuft viel zu wenig …
Ich muss einfach rauskriegen, weshalb das so ist.
Sally
»Wie ich bemerke, geht es Ihnen besser, Miss Evans?«
Sorrow, dieser widerliche Arsch, sitzt mir direkt gegenüber und betrachtet mich mit diesem wohlwollenden Onkel-Doktor-Blick, den ich ihm gern aus dem Gesicht … nicht schlagen, BEISSEN würde.
Ja, ich bin im Irrenhaus, da wird man auf Dauer zwangsläufig selber irre.
»Ihre Medikamente bekommen Ihnen gut?«
Ein Grund, weshalb ich ihn nicht anfalle, ist, dass ich das nicht könnte, würde ich meine Pillen artig nehmen, woran er unter allen Umständen glauben soll. Obwohl ich mir jede Ration unter die Zunge packe und später ausspucke, was sich leichter anhört, als es ist. Die Pfleger bleiben nämlich immer stehen und warten, bis man geschluckt hat. Am ersten Tag habe ich sie geschluckt und war … weg. Eigener Gedanken nicht mehr fähig, ich konnte kaum die Augen offenhalten, konnte nicht mehr klar denken, war nicht mehr ich. Vor allem aber: Ich hatte keine Möglichkeit, an Blue zu denken, und das ist eines der wenigen Dinge, die mich hier am Leben erhalten. Schon deshalb beschloss ich, diese Pillen meinem Körper, vor allem aber meinem Geist nicht mehr zuzumuten.
Aber vor dem Doktor muss ich spielen, das ist der einzige Weg, um hier rauszukommen. Nicht, dass er mir das in Aussicht stellen würde.
»Ja, Doktor, es geht mir immer besser.«
Er lächelt mich an. »Und dennoch glaube ich nicht, dass eine Gruppentherapie schon angezeigt wäre. Damit werden wir noch ein wenig warten. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass das gemeinsame Essen mit den Patienten Ihnen sonderlich guttun würde.«
WAS?
»Ich … ich weiß nicht, Sir.« Worauf will er hinaus?
»Vielleicht sollten Sie daher auch weiterhin auf Ihrem Zimmer essen.«
Sein Lächeln ist noch genauso freundlich wie zuvor, aber ich traue diesem Mann nicht, habe ich noch nie, und das war eine gute Entscheidung, wie mir gerade mal wieder bestätigt wird.
»Zum Beinevertreten können Sie am Abend ein paar Runden durch den Aufenthaltsraum drehen, aber das Fernsehen lassen wir auch weiterhin weg, ich möchte nicht, dass Sie sich unnötig aufregen. Jeder Reiz könnte einer zu viel sein, wir müssen zunächst Ihre Toleranz ermitteln, bevor wir Risiken eingehen.«
Was nichts anderes heißt, als dass ich weiterhin komplett abgeschirmt werde, wie seitdem ich hierher verfrachtet wurde.
»Okay«, sage ich leise, damit er meine Wut nicht hört.
Wie betäubt lasse ich mich wenig später in mein Zimmer geleiten. Es ist keine Gummizelle mehr und gefesselt werde ich auch nicht länger, aber viel verändert hat sich nicht.
Kein Fernseher, kein Radio, keine winzige Verbindung zur Außenwelt. Ein Tisch, ein Schrank, ein Schreibtisch, der keinen Sinn hat, weil ich weder Stift noch Papier bekomme. Ich sitze den lieben langen Tag herum und starre durch die Gitterstäbe meines Gefängnisses auf das kleine Stück Bäume, das ich überhaupt sehen kann. Ein Blick auf den Himmel ist von hier aus nicht zu bekommen.
Dies ist ein Gefängnis, nur dass sie einem hier jede Menge Psychopharmaka geben, damit man stillhält. Ich hab ein paarmal einen Blick auf die anderen Patienten werfen können und zugegeben, ein paar von denen wirken wirklich nicht ganz … bei sich.
Aber warum ich hier bin, warum man mich hier festhält, warum diese riesigen Typen hier rumlaufen, darauf wartend, dass ich einen falschen Schritt mache – wenn ich denn überhaupt einen tun darf –, um sich sofort auf mich zu stürzen, das kann ich mir beim besten Willen nicht erklären.
Nur, dass dieser Sorrow dabei seine dreckigen Hände mit im Spiel hat, und dass er sich alle Mühe gibt, das unter seiner Arztfassade und jeder Menge wissenschaftlichen und medizinischen Begründungen zu tarnen. Für heute waren mir ein paar Lockerungen versprochen worden, weil ich mich »so positiv entwickele«. Ich sollte am gemeinschaftlichen Essen teilnehmen, sollte tagsüber im Aufenthaltsraum sein dürfen, genau wie die anderen, sollte mich bewegen dürfen wie die anderen, auch mal rausgehen … und in letzter Sekunde hat er das unter fadenscheinigen Gründen wieder gecancelt. Und ich habe den grausamen Verdacht, dass es immer so bleiben wird.
Genau deshalb werde ich die Stätte dieses Grauens auch so schnell wie möglich verlassen. Selbst wenn er mich weiterhin in dieser winzigen Zelle festhält.
Ich wäre wirklich schon wahnsinnig geworden, wenn es nicht trotzdem Stück für Stück kleine Verbesserungen geben würde. Je mehr der Typ sich in Sicherheit wiegt, desto mehr sinkt sein Argwohn und desto lockerer lässt er die Leine. Eben nur in so winzigen Schritten, dass man sie kaum wahrnimmt. Was man in diesem Kasten braucht, ist Geduld, die ich mir mühsam anerziehe – für jemanden, der immer bekommen hat, was er wollte, und zwar stehenden Fußes, ist allein das eine echte Herausforderung. Ich weiß längst nicht mehr, welches Datum wir heute haben, frage auch nicht nach, um keinen neuen Argwohn zu erwecken. Gerade befinde ich mich inmitten meines Kampfes gegen dieses Haus oder vielmehr diesen Doktor – das ist meine ganze Realität, mehr darf ich nicht zulassen.
Meine Gedanken kreisen ausschließlich um meine Ausbruchspläne, die allmählich wenigstens Schemen annehmen. Ich bin damit beschäftigt, die wenigen Momente, in denen ich auf Leute vom Personal treffe, so höflich und freundlich wie möglich zu gestalten, denn am Ende werden sie es sein, deren Hilfe ich mich … bedienen werde.
Für was anderes bleibt keine Zeit.
Nun, fast nicht.
Denn abends, wenn das Licht in den Zimmern ausgeschaltet wurde und ich allein mit mir und meiner Einsamkeit bin, reisen meine Gedanken zu ihm.
Ich habe die Hoffnung, er würde mich retten, längst aufgegeben. Inzwischen schäme ich mich sogar ein bisschen deshalb, denn das war schwach. Nicht das, was ich von mir gewöhnt bin. Eine Zeit lang habe ich ihn verflucht, habe ihn gehasst, weil er mich allein gelassen hat, bis mir aufging, dass ich mir hier keinen Hass leisten kann.
Er war nie viel mehr als eine Einbildung, eine kurze Episode, die niemals sonderlich real war, und ich wäre bescheuert, wenn ich mich nicht mit den Erinnerungen an ihn ein bisschen bei Laune halten würde. Ja, ich müsste mir die Realität in den Schädel hämmern, weil davon immer mehr Fetzen einfach verschwinden und ich allmählich Schwierigkeiten habe, mich noch daran zu erinnern, dass es ein »normales« Leben gibt und wie sich das anfühlt.
Aber das kann ich nicht.
Denn mit ihm überstehe ich die Nächte, all die vielen Stunden in der Dunkelheit, in der ich besonders mit meinem Schicksal zu kämpfen habe und all die bösen Emotionen, die ich mir nicht leisten kann, hochkochen. Mit dem Gefühl seiner Lippen auf meinen bekomme ich sogar ein Lächeln zustande. Mit dem Gefühl seiner glatten Haut unter meinen Fingerspitzen, kann ich mich fast hinüber in den Schlaf retten, aber mit dem Gefühl von ihm in mir, während er mich auf die heißeste, absorbierendste Weise in den Himmel schickt – und sei es nur für ein paar Sekunden – kann ich den Schlaf sogar für ein paar Stunden bei mir halten.
Zeit, mich von ihm zu lösen, werde ich immer noch haben, aber gerade ist er der einzige Freund, Vertraute, Geliebte, die einzige Hoffnung, die ich habe, und somit hält er mich am Leben.
Danke, Blue.
Wo immer du jetzt auch sein magst.