27. Kapitel
Ödel 1.psd
Sally
Schnee ist … klar.
Eindeutig.
Er ist sauber.
Unberührt.
Und er ist ähnlich wie Schneeflocken unverwechselbar, einzigartig.
Längst laufe ich nicht mehr, ich glaube, ich bin gestolpert, konnte nicht mehr aufstehen, hab es auch gar nicht wirklich versucht, und das ist in Ordnung so. Nicht mehr laufen, nicht mehr kämpfen müssen, einfach hier liegen und … sterben – erscheint mir so erstrebenswert.
Ich weiß, ich müsste mich wehren, gegen die Kälte, die allmählich meinen Körper erobert, die mein Herz längst erfasst hat. Seit … seit …
Anstatt die Worte zu denken, sehe ich das Bild, wie Antonia in ihrem Ballkleid mit der Hochsteckfrisur vor mir sitzt und mir erzählt, was ich niemals hören wollte, was ich womöglich am meisten gefürchtet habe, was für mich undenkbar war. Sie hat mir den Dolch absichtlich so tief wie möglich in die Brust gerammt, hat mich vor meinem Mord bereits einmal getötet. Denn als sie es sagte, mit diesem widerlichen Grinsen im Gesicht, glaubte ich zu sterben …
… aber jetzt spielt all das keine Rolle mehr. Es ist, als hätte ich wenigstens ein Ziel erreicht: In mir befindet sich keine negative Emotion mehr, stattdessen baut mir Antonia eine Brücke, eine Brücke zu ihm, wie er war, als ich ihn zum ersten Mal sah. In diesem Club … Das Bild erscheint sofort in mir, so habe ich in all den Wochen an ihn gedacht. Dieser Mann inmitten all dieser Kids, die sich heimlich aus dem Haus geschlichen haben. So … männlich in seinem dunklen Hemd und der Jeans … okay, und den Bugattis …
Ich verziehe meine blau gefärbten Lippen zu einem Lächeln.
Er war … wie gemalt, als hätte das Schicksal sich gnädig gezeigt und ihn mir geschickt, um mir alles ein bisschen leichter zu machen. Er hat mich das Träumen wieder gelehrt, das Wünschen und Hoffen auf ein Wunder, auf Liebe, auf Geborgenheit …
Mein Prinz …
Mein Lächeln wird breiter.
Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, Cinderella ist nicht gestorben, sondern mit ihrem Prinzen in den Sonnenuntergang geritten … die weiße Schleppe wehte hinter ihr her. Das perfekte Bild, die perfekte Einstellung, eines, auf dem möglicherweise Millionen von Mädchenträumen basieren …
Diese Version hat mir immer am meisten gefallen, weil sie nicht in einer dieser protzigen Kutschen gefahren, sondern geritten sind … sie waren auch Rebellen … so wie ich.
Sie haben gesiegt, ich verloren … Fünfzig/Fünfzig … so stand es immer; dass ich nicht mit meinem Traumprinzen in den Sonnenuntergang reiten werde, überrascht mich weniger. Einer muss ja schließlich verlieren, und war ich nicht immer der beste Kandidat für so einen Untergang?
Ich flüchte mich zurück zu ihm … Wie seltsam, wenn man am Sterben ist, dann sieht man alles nur noch in Bildern. In Bildern mit kräftigen, lebendigen Farben, obwohl das Leben einen schon fast verlassen hat. Ich bäume mich nicht auf, ich betrauere mein Schicksal nicht, ein Teil von mir freut sich sogar auf den Tod, weil mir dann nicht mehr so kalt sein wird. Außerdem bin ich echt gespannt auf das, was mich erwartet. Denn irgendwas muss ja dann kommen und wenigstens habe ich es versucht, oder?
Erfrieren ist nicht der schlechteste Tod, denn zuerst geben die Nerven auf, weshalb ich wenig später keine Schmerzen mehr fürchte, meinen Körper längst nicht mehr spüre, nur mein Gehirn ist noch am Leben. Es ist friedlich, hier zu liegen und noch ein bisschen an Blue zu denken.
Blue … Blueee … was für ein bescheuerter Name. Ich habe ihn nie gefragt, wer ihn so gehasst hat. Habe es einfach vergessen, wie schade, jetzt werde ich dumm sterben.
Meine Lider sinken langsam, drohen, über meine Augen zu fallen, aber noch befindet sich ein Funken Überlebensinstinkt in mir, weshalb ich sie mit letzter Kraft wieder hochreiße. Die Beine habe ich nah an mich gezogen, meine Hände unter mich gelegt – um mich vor der unmenschlichen Kälte zu schützen, die ich längst nicht mehr spüre.
Wie dumm … andererseits fühle ich mich fast ein bisschen geborgen. Auf dem mit Schnee gefütterten Laubbett, am Rand dieser seltsamen Straße. Mir scheint es, als würde sie mich direkt ins Jenseits führen. Allmählich flammt ein Licht auf, wird stärker, greller und ich begrüße es lächelnd.
Jetzt kann ich verstehen, weshalb sich manche Menschen den Tod herbeisehnen, und … ich weiß, es ist schwach, aber Antonia hat recht, es gibt niemanden, der auf mich wartet, der mein Ableben betrauern wird, es dürfte nicht mal wirklich auffallen. Dass ich wochenlang weggesperrt war, hat ja auch niemand bemerkt.
Das Licht wird immer dominanter, es hat längst die Realität vertrieben, da gibt es nur noch mich und dieses weiße … Nichts, in das ich blicke.
Ich singe eine Melodie vor mich hin, weiß nicht welche, ob sie zu einem Song gehört, den ich schon mal gehört habe oder früher vielleicht perfekt kannte.
Dann höre ich ihn, höre ihn in weiter Ferne: »SALLY! SALLY! VERDAMMT!« Und weiß, dass ich endlich loslassen kann …
Blue
Zehn Meilen muss ich fahren, bis ich den Jeep finde, der die Reifenspuren verursacht hat. Er liegt am Waldrand auf der Seite, ist mindestens drei Meter gerutscht und einen halben Meter in den Straßengraben gefallen, der hier recht tief liegt und den Beginn des Waldes markiert. In mein Herz bohrt sich die Spitze des Schreckens. Hastig steige ich ab, stolpere zur Unfallstelle, will nicht in das Wageninnere sehen und tue es trotzdem, wie der größte Masochist der Welt.
Um doppelt belohnt zu werden. Denn Sally befindet sich nicht darin, stattdessen starrt mich Antonia an, ihre Stirn ist blutverschmiert. »Victor?«, krächzt sie, irgendwie muss es ihr gelungen sein, die Scheibe herunterzulassen. »Bist du es?«
Nein, der Weihnachtsmann. »Wo ist Sally?«
Sie verzieht ein wenig das Gesicht, eine Aktion, die sie sichtlich sofort mit Schmerzen bezahlen muss. »Hilf mir … hilf mir bitte raus.«
Finster lache ich auf, leuchte mit meinem Handy in das Wageninnere und entdecke einen Kerl hinter dem Lenkrad, den ich flüchtig bei der Trauung gesehen habe.
»Richard Anderson, nehme ich an.« Ein Stöhnen lenkt meine Aufmerksamkeit auf den hinteren Teil, jetzt sehe ich auch, dass die rechte Hintertür geöffnet wurde und mein Herz meldet sich erneut, diesmal vollführt es einen Satz.
Sie hat es rausgeschafft.
Auf dem Rücksitz befindet sich ein … Klumpen, den ich erst nach längerem Hinsehen als riesigen, muskelbepackten Mann identifizieren kann. Wieder kombiniere ich sofort: Der hat sie bewacht. Ich leuchte stärker, sehe etwas Weißes am hinteren Ende des Bodens und stöhne leise. Der zweite Schuh, also ist sie barfuß unterwegs.
»Was hattest du mit ihr vor?«, will ich von Antonia wissen, während ich auf meinem Handy den Notruf betätige und die ungefähre Lage des Unfallortes durchgebe.
Sie jammert nur leise vor sich hin und ich widerstehe allen gröberen Versuchen, sie zum Reden zu bringen. Die Leute hier sind versorgt, ich habe anderes vor, weshalb ich wieder den Boden ableuchte.
Schnee hat noch einen Vorteil: Frisch gefallen, gibt er Fußspuren selbst für jemanden erkennbar wieder, der keine Ahnung vom Fährtenlesen hat.
Kleine Fußspuren führen von dem Unfallort weg, manchmal scheint sie geschlittert zu sein, als hätte sie das Gleichgewicht nicht halten können, aber das macht mir nicht halb so viele Angst wie die Tatsache, dass es die Spuren nackter Füße sind.
Deutlich sind die Abdrücke einzelner Zehen zu erkennen, sie ist tatsächlich barfuß. Was hat sie überhaupt an, wie kommt das alles zustande, haben sie sie wirklich fast unbekleidet in diese unmenschliche Kälte gezerrt?
Immer weiter entferne ich mich vom Wagen, während hinter mir die blinkenden Lichter inzwischen die Nacht erhellen. Nicht mehr lange, dann werden die Rettungskräfte hier sein, und ich will ihnen nicht begegnen, womöglich noch Fragen gestellt bekommen, deren Antworten ich nicht kenne.
Kurz entschlossen gehe ich zurück zu der BMW, die in einigen Metern Entfernung steht, und starte sie erneut. Antonia und ihren Kidnapperkumpels gönne ich dabei keinen Blick. Und dann fahre ich abermals los, allerdings diesmal in sehr langsamem Tempo, während ich den Fußspuren folge, die ich sorgfältig mit dem Scheinwerfer ausleuchte. Bremsen quietschen hinter mir, Stimmen ertönen in der Nacht, hastig, aber nicht hektisch, sondern organisiert; die Bergung setzt ein. Aber ich sehe mich nicht mal um, sondern folge der Spur, während mein Herz sich allmählich in Eis verwandelt. Denn das kann sie unmöglich lange überleben.
Angst … ist eine erlesene Emotion, die einen lähmen kann, wenn man nicht fähig ist, sich ihr zu stellen. Die Stimmen hinter mir entfernen sich, nur die Leuchten verschwinden erst, als ich eine lang gestreckte Kurve umfahre. Sie hat sich am Waldrand gehalten, einen halben Meter unterhalb der Straße. Kluges Mädchen, niemand sollte sich nachts in diesen Wäldern herumtreiben. Auf die Straße hat sie sich aber auch nicht gewagt, wollte wohl nicht gesehen werden. Ich sehe, dass ihre Schritte immer schleppender werden, finde eine Stelle, da hatte der Schneefall längst aufgehört, weshalb die Spuren inzwischen glasklar sind. Hier muss sie hingefallen sein, aber sie hat sich wieder aufgerappelt, ist weiter gegangen, bis …
Hastig stelle ich die Maschine aus, lasse die Scheinwerfer aber brennen, steige ab, wobei ich sie fast umwerfe, und stürze los. Dass ich ihren Namen rufe, ist mir kaum bewusst, dann bin ich bei dem Bündel, das zusammengekauert am Straßenrand liegt, halb von Schnee bedeckt, und der Anblick raubt mir die letzte bisschen Beherrschung, weil er so verdammenswert ist, so unverzeihlich.
»Sally!« Ich lasse mich neben ihr auf die Knie fallen, das Spiel der wilden kleinen Büsche, die sich im harten Wind durch das grelle Scheinwerferlicht erhellt wiegen, erreicht auch ihr unbewegtes, fast erstarrtes Gesicht. Für einen winzigen Moment bin ich überzeugt, zu spät zu kommen, dass sie mich tatsächlich verlassen hat. Ihre Lippen sind blau, die vollen Wimpern mit Eiskristallen versetzt, Blut, das aus einer Wunde auf der Schläfe gesickert ist, hat sich ebenfalls in Eis verwandelt. Ich taste unter der dünnen Bluse nach ihrem Herzschlag und hätte fast aufgeschrien, als ich tatsächlich einen finde. Verlangsamt bis zur Unerträglichkeit, aber er ist da. Gerade will ich mit ihr in den Armen aufstehen, da zittern ihre Lider, die Augen, bis zu diesem Moment halb geschlossen, heben sich und geben mir Einblick auf das tiefe, undurchdringliche, fast schwarze Braun.
»Blue«, krächzt sie und klingt erstaunt. »Was für ein bescheuerter Name.«