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M ilton stieg aus dem Bett. Im Schlafzimmer war es kalt, und er hatte kaum ein Auge zugetan. Er ging in das winzige Badezimmer, stellte sich in die Badewanne und ließ das Wasser aus dem Duschkopf strömen. Die Kälte war ihm in die Knochen gekrochen, und er stand fünfzehn Minuten unter dem warmen Wasserstrahl, bis sie sich endlich aufzulösen begann.
Aber nicht nur die Kälte hatte ihn wach gehalten, sondern auch die Gedanken an das, was Logan ihm erzählt hatte.
Die Erinnerungen an seinen zweiten Besuch in Manila waren lückenhaft. Damals hatte er sehr viel getrunken. Er war in die Rolle eines ehemaligen Soldaten geschlüpft, der als Personenschützer arbeitete. Einer von Fitzroy de Laceys vorherigen Angestellten war verschwunden, ein „Zufall“, den Milton eingefädelt hatte, damit er den frei gewordenen Posten besetzen konnte. Seine Erfahrungen beim Militär, kombiniert mit seiner erfundenen Vergangenheit als Söldner, hatten ihn zum perfekten Kandidaten für den Posten gemacht, und so hatte er die Stelle an de Laceys Seite angetreten.
De Lacey war ein misstrauischer Mensch, und Milton hatte ungewöhnlich viel Mühe gehabt, die Fassade aufrechtzuerhalten. Er hatte die Tage damit verbracht, die Beweise zusammenzutragen, mit denen er de Lacey schließlich hinter Gitter gebracht hatte. Ein stressiger Auftrag, eine lange Liste von Unwahrheiten, die Milton sich hatte merken müssen, und als Folge war er jeden Abend erschöpft in sein Hotelzimmer zurückgekehrt, wo er die Minibar geleert hatte, bevor er besinnungslos ins Bett gestürzt war.
Jessica Sánchez hatte ebenfalls für Tactical Aviation gearbeitet. Milton konnte sich kaum noch an seine Zeit in der Stadt erinnern, aber Jessica hatte er nicht vergessen. Sie war wunderschön gewesen, mit dunkler Haut und pechschwarzen Haaren. Ihre braunen Augen waren groß und lebendig gewesen, darin ein neckisches Funkeln, das so gar nicht zu ihrer kühlen Art passte, die ihr Markenzeichen als de Laceys Angestellte war. Sie wusste, dass sie hübsch war und dass de Lacey sie dort einsetzte, wo ihre Attraktivität ihm den größten Vorteil brachte. Und nicht einmal die unangenehmen Männer, für deren Unterhaltung sie bezahlt wurde, brachten ihre Professionalität ins Wanken.
Milton hatte sich vom ersten Augenblick an zu ihr hingezogen gefühlt. Er hatte noch nie ein gutes Gespür dafür gehabt, ob seine Gefühle erwidert wurden, daher hatte er sich selbst dann noch zurückgehalten, als eigentlich alles dafür sprach, dass sie auch etwas für ihn empfand.
Die anderen Männer in de Laceys Sicherheitsteam erzählten ohne jede Scham oder auch nur den Versuch, ihre lüsternen Fantasien zu verbergen, von Jessica und den anderen Frauen, die regelmäßig auf die Partys auf de Laceys riesiger Jacht gekarrt wurden. Sie erzählten ihm außerdem, dass de Lacey gelegentlich Jessicas Bett teilte – das war Miltons schwerwiegendster Anlass, sich in seinem Hotel ins Vergessen zu stürzen, das die Hotelbar ihm bot.
Er hielt das Gesicht ins warme Wasser und versuchte, die dumpfe Beklemmung abzuschütteln, die ihn plötzlich überkommen hatte.
Eine besondere Nacht stand ihm klarer vor Augen als alle anderen. Noch heute, Jahre später, Jahre voller Alkohol, der den Großteil seiner Erinnerungen in schwarze Flecken verwandelt hatte, war das der Augenblick, der ihm immer wieder im Kopf herumspukte und ihn wach hielt. Milton hatte versucht zu schlafen, das Fenster einen Spaltbreit geöffnet, um etwas Luft in das stickige Zimmer zu lassen, als es an der Tür klingelte. Er hatte keinen Besuch erwartet, also hatte er die Tür einen Spaltbreit geöffnet, die Pistole hinter dem Türrahmen verborgen. Draußen hatte Jessica gestanden, das Gesicht blutig und voll blauer Flecken. Er hatte sie hereingelassen und ihr ein Glas aus der fast leeren Wodkaflasche eingeschenkt.
Sie hatte ihm alles erzählt: Sie war bei de Lacey gewesen, und er hatte sie geschlagen. Der Grund war ein Auftrag von einem Waffenhändler aus Armenien gewesen. Der Mann und seine Entourage waren nach Manila gekommen, um den Deal zu unterzeichnen, und es war Jessicas Job gewesen, die Reise den Männern unvergesslich zu machen. Doch etwas war schiefgelaufen – Milton wusste nicht mehr, was –, und der Armenier war wieder abgereist, ohne zu unterschreiben. De Lacey hatte Jessica die Schuld an dem geplatzten Geschäft gegeben und seine Strafe mit seinen Fäusten und seinem Gürtel vollstreckt. Den ganzen Umfang seiner Unzufriedenheit hatte Milton erst zu Gesicht bekommen, als Jessica aus ihrem Kleid gestiegen war: Ihr Rücken war vom Nacken bis zur Hüfte mit Striemen übersät gewesen.
Milton war betrunken gewesen. Der Alkohol, seine Gefühle für Jessica und der aufsteigende Zorn über das, was man ihr angetan hatte, hatten sich zu einem Cocktail der Lust vermengt, dem seine Professionalität nicht standgehalten hatte. Irgendwo in seinem Schädel hatte er trotz des Alkohols gewusst, dass es eine ganz blöde Idee war, doch er hatte nicht widerstehen können. Sie hatte sich ihrer restlichen Kleider entledigt und war zu ihm ins Bett gekommen.
Irgendwann waren sie eingeschlafen. Milton war als Erster wieder aufgewacht. Er wusste noch, dass er schweißgebadet gewesen war, dass warme Luft die Jalousien bewegt hatte und die Temperatur im Zimmer immer höher gestiegen war. Ihm war fast der Schädel geplatzt, schon bei der Erinnerung an die Exzesse der vergangenen Nacht, auch wenn solche Schmerzen damals nicht unüblich gewesen waren. Er hatte sich langsam aufgerichtet, was seinen Kater noch verstärkt hatte, und sich zu der Frau umgedreht, die ausgebreitet neben ihm lag. Ihm wurde übel bei dem Gedanken an die Idiotie dessen, was sie getan hatten.
Jessica, aufgeschreckt durch seine Bewegung, war schlagartig aufgewacht, und als ihr klar geworden war, was geschehen war, war sie vor Angst fast panisch geworden. Sie hatte Milton erklärt, was für ein eifersüchtiger Mann de Lacey war und dass sie beide in Gefahr wären, falls er je herausfand, dass sie miteinander geschlafen hatten. Sie waren übereingekommen, dass sie verrückt gewesen waren. Es war ein dämliches Risiko gewesen, aber sie konnten sich schützen, wenn sie diese Nacht für sich behielten. Es gab keinen Grund, de Lacey oder irgendjemand anderem je davon zu erzählen.
Und so war Milton zur Arbeit gegangen, als ob nichts geschehen wäre. De Lacey war auf seiner Jacht gewesen und hatte Milton gebeten, ihn auf einem der Beiboote rauszufahren, damit er in tieferem Wasser schwimmen konnte. Milton wusste noch, dass er von Wut beinah überwältigt worden war. De Lacey genoss das Leben, lachte und scherzte mit ihm, während er sich auszog und ins kristallklare Wasser sprang. Er benahm sich, als ob das, was er Jessica angetan hatte, völlig belanglos wäre, als hätte er nur einem Angestellten eine Abmahnung zukommen lassen. Milton war klar geworden, wie einfach es gewesen wäre, ihn direkt dort vor Ort zu erledigen. Sie waren zu zweit, allein, weit weg vom Festland. Milton war bewaffnet gewesen und hätte ihn einfach erschießen und die Leiche am Grund des Meeres versenken können.
Aber er hatte es nicht tun können. Er hatte sehr klare Anweisungen gehabt. Das war kein Routineauftrag gewesen, an dessen Ende eine tote Zielperson und ein reibungsloser Abflug nach London zum nächsten Auftrag standen. Das Ziel der Operation war gewesen, de Lacey verhaften und schlussendlich ins Gefängnis wandern zu lassen. Das war subtiler als üblich, komplexer, und diese Vorgaben schränkten seinen sonstigen Spielraum ein, seine Befehle nach eigenem Ermessen auszuführen.
Seine Pistole hatte sich rotglühend in im Schulterholster angefühlt, aber er hatte sie nicht angerührt. Stattdessen hatte er de Lacey aus dem Wasser geholfen, ihm ein Handtuch gegeben und das Schnellboot zurück in den Hafen gefahren, zu seiner Multimillionen-Pfund-Jacht und seinem Frühstück.