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ilton überquerte die Golden-Jubilee-Brücke, ging die Villiers Street hinauf und bog in Richtung Nelsonsäule auf den Strand ein. Dort gab es einen Laden der Kette easyInternetCafe, kurz vorm Trafalgar Square. Er ging hinein, bezahlte für eine Stunde und setzte sich an einen der zahlreichen freien Rechner. Jeder Computer war mit einem Paar Kopfhörer mit integriertem Mikrofon ausgestattet, und Milton setzte seinen auf. Er rückte das Mikrofon zurecht, öffnete Skype, meldete sich an und suchte nach dem Nutzernamen, den Logan ihm gegeben hatte. Als er ihn gefunden hatte, fügte er ihn zu seinen Kontakten hinzu.
Er wartete. Nichts geschah.
Plötzlich leuchtete das Telefonsymbol auf und in Miltons Kopfhörern ertönte ein Klingeln.
Er nahm den Anruf an.
„Hallo“, meldete sich eine Frau. „Hörst du mich?“
Er erkannte ihre Stimme sofort wieder. „Ich höre dich, aber ich kann dich nicht sehen.“
„Oh. Warte kurz.“
Ein paar Sekunden verstrichen, dann ploppte ein Fenster auf und zeigte das Bild einer Webcam am anderen Ende der Leitung.
„Jetzt besser?“, fragte sie.
Sie lächelte, und Milton fiel sofort wieder ein, warum er sich damals so sehr in sie verknallt hatte. Ihre schwarzen Haare waren zurückgebunden und entblößten einen langen, eleganten Hals. Ihre Augen waren braun, voller Leben und Ausdruck, und als sie sich zurücklehnte, hob sie eine Hand und winkte ihm zu.
„Ist eine Weile her“, sagte er.
„Jahre. Tut mir leid, dass ich dich auf diese Art kontaktiere. Ich wusste nicht, wie ich dich sonst finden sollte.“
„Schon in Ordnung“, beschwichtigte er sie. „Ich freue mich, dich wiederzusehen.“
„Aber du warst überrascht, richtig?“
„Das stimmt.“
„Was hat er dir erzählt?“
„Dass …“ Er verstummte, als er feststellte, dass die richtigen Worte schwer zu finden waren. „Er sagte, dass du ein Kind hast.“
Sie lächelte. „Einen Sohn“, erklärte sie. „Er heißt James.“
„Er sagte, dass du … dass du ihm gesagt hättest, er sei von mir.“
„Das ist er.“ Sie streckte die Hand nach etwas aus, das unterhalb der Kameraperspektive lag. „Möchtest du ein Foto sehen?“
Milton schluckte und räusperte sich. „Ja“, antwortete er. „Natürlich.“
Sie hob ein Smartphone ins Bild, tippte eine Weile darauf herum und drehte es dann um, sodass Milton das Display sehen konnte.
„Erkennst du was?“
Das tat er. Das Foto zeigte einen Jungen, etwa neun oder zehn, vermutete Milton, der einen Fußball hochhielt und strahlend in die Kamera grinste. Er hatte dichtes schwarzes Haar, verwuschelt und ungekämmt, das ihm über die Stirn fiel. Seine Haut hatte einen hellen Braunton, heller als Jessicas, seine Zähne waren weiß und gerade und seine Augen von einem stechenden Blau.
„Warte mal.“ Sie wischte durch weitere Fotos: der Junge, wie er einen Playstation-Controller hielt, auf einem Fahrrad eine saubere, gepflegte Straße entlangfuhr, sich in einem vollen Einkaufszentrum zur Kamera umdrehte, ein breites Lächeln im Gesicht.
„Er sieht aus wie du, John.“
Milton schluckte erneut, sein Hals war staubtrocken. Die Geräusche des Internetcafés verloren sich im Hintergrund, und seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den Bildschirm vor ihm und die Bilder des Jungen. Es gab eine gewisse Ähnlichkeit.
„John? Hörst du mich noch?“
„Ja. Sorry, ich … er ist ein gutaussehender Junge.“
Sie lächelte. „Er fängt an, nach seinem Vater zu fragen. Es gibt nicht viel, was ich ihm erzählen kann. Ich sage ihm nur, dass sein Vater nichts von ihm weiß.“
„Ich wusste ja auch nichts.“
„Natürlich. Ich gebe dir für nichts die Schuld, John. Es war meine Entscheidung. Ich hielt das damals für keine gute Idee. Aber jetzt, wo er älter ist, frage ich mich, ob es falsch war.“
„Ich wäre kein besonders guter Vater gewesen“, sagte Milton. „Und es wäre kompliziert geworden. Meine Arbeit …“
„Ich weiß. Ich möchte nicht, dass du denkst, dass ich sauer war. Und ich will kein Geld von dir. Uns geht es gut. Er geht auf eine gute Schule und strengt sich an.“
„Sie haben mir nicht gesagt …“
Sie schnitt ihm das Wort ab. „James wollte wissen, ob du herkommen würdest, um ihn zu treffen. Ich habe ihm gesagt, dass das vielleicht nicht so einfach wird. Dass du einen wichtigen Job hast und dass du …“
„Habe ich nicht“, berichtigte er sie mit einem schiefen Grinsen. „Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat sich eine Menge geändert.“
„Du arbeitest nicht mehr für die Regierung?“
„Schon eine ganze Weile nicht mehr. Das ist eine lange Geschichte.“
„Vielleicht könntest du mich besuchen und sie mir erzählen?“
Er sah auf den Bildschirm, aus dem heraus Jessica ihn voller Hoffnung anlächelte. Er hatte gezögert, mit ihr zu sprechen, zu riskieren, alte Gefühle und lange vergrabene Erinnerungen zu wecken. Aber jetzt, wo er ihr vertrautes Gesicht vor sich sah und ihrer warmen, beruhigenden Stimme lauschte, kam die Antwort ganz wie von selbst.
„Wann?“, fragte er.
„Du kommst also?“
Er nickte. „Wann passt es dir?“
„Ich habe keine Pläne.“
Ich auch nicht
, dachte er. Gar keine.
Durch Warten gab es nichts zu gewinnen.
„Wie wäre es mit morgen?“, schlug er vor.