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I sko war schon auf den Beinen, als Milton am nächsten Morgen erwachte. Er hörte Geräusche körperlicher Anstrengung, und als er die Augen aufschlug und zur Matratze des alten Mannes hinübersah, entdeckte er ihn bei einer Runde Liegestütze. Isko hatte sein Hemd ausgezogen, und Milton sah, wie sich die Rippen unter der pergamentdünnen Haut abzeichneten.
Isko bemerkte, dass Milton aufgewacht war. „Guten Morgen“, sagte er zwischen zwei Liegestützen. Er ließ noch drei folgen, um sein Soll zu erfüllen, und ging dabei so tief, dass seine Brust die Matte berührte, bevor er sich wieder hochstemmte. „Wie hast du geschlafen?“
„Nicht übel“, antwortete Milton.
„Der Lärm hat dich nicht gestört?“
„Welcher Lärm?“
„Letzte Nacht gab es einen Kampf. Eine Zelle nebenan. Ich hab’s durch die Tür gesehen, einer von ihnen war verletzt. Sie haben ihn auf einer Trage rausgebracht.“
„Passiert das hier öfter?“
„Kommt vor“, erklärte Isko mit einem Achselzucken, das verriet, wie alltäglich es war.
Der alte Mann stemmte sich auf die Füße und zog sein Hemd über.
„Wie spät ist es?“, fragte Milton.
„Kurz nach sechs. Bald gibt es Frühstück. Wie fühlst du dich?“
Milton horchte in sich hinein. Man hatte ihm ziemlich zugesetzt, aber der Schaden war nur oberflächlich. Knochenbrüche spürte er keine. Sein Gesicht war wund, und der Körper spürte noch die Tritte und Schläge, mit denen Tiny ihn traktiert hatte, aber das war es auch schon.
„Besser als gestern“, antwortete er.
„Aussehen tust du schlimmer“, gab der alte Mann zurück und entblößte beim Grinsen seine ruinierten Zähne.
Milton rappelte sich hoch und stöhnte leise unter den Schmerzen. Aus dem Gang ertönte ein Klappern.
Rancho! “, ertönte ein Ruf.
„Was ist los?“
„Frühstück“, antwortete Isko.
Milton hörte das Quietschen ungeölter Radrollen, als der Essenswagen den Gang entlanggeschoben wurde, und das Rasseln von Ketten, mit dem noch gefesselte Insassen sich erhoben. Der Wagen wurde von einem Gefangenen geschoben, der – unter dem trägen Blick der Wache – ein Stück Seife und ein metallenes Kochgeschirr mit Essen an jeden Gefangenen austeilte. Unter den Stäben gab es eine kleine Öffnung, durch die ein zweiter Gefangener das Geschirr mit einer geschickten Fußbewegung hindurchschob.
„Wir essen nicht im Speisesaal?“
„Heute nicht. Manchmal füttern sie uns lieber in den Zellen. Für dich vielleicht gar nicht so schlecht.“
„Ich beklage mich auch nicht“, gab Milton zurück.
Sie schoben die Frühstückstabletts unter den Gittern durch, damit sie wieder eingesammelt und auf dem Wagen gestapelt werden konnten.
Milton nahm sich einen Augenblick Zeit, um die Augen zu schließen und an die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker zu denken. Er wünschte, er hätte noch seine Ausgabe vom Blauen Buch. Es war im Hotelzimmer zurückgeblieben, als man ihn verhaftet hatte. Das Buch hatte ihn um die ganze Welt begleitet, es war ziemlich zerlesen und klappte von selbst bei oft genutzten Abschnitten auf, wenn er es hinlegte. An den Rändern hatte er Anmerkungen gemacht, und der Text war mit Unterstreichungen und farbig markierten Passagen versehen. Er bezweifelte, dass er sein Buch je wiederbekommen würde.
Eine der Wachen ging den Gang entlang und brüllte ein Wort, das Milton nicht verstand.
„Was hat er gesagt?“
„Sport“, übersetzte ihm Isko. „Wir haben eine Stunde im Sonnenschein.“