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endoza hatte Josie gesagt, sie solle an Angelo denken, also nahm sie ihn beim Wort. Sie rief in der Wache an und erklärte, dass es ihrem Sohn schlechter ginge und sie sich den Rest des Tages freinehmen würde, um ihn zu pflegen. Ohne sich den Luxus zu gönnen, ihre Entscheidung in Zweifel zu ziehen, stieg sie in ihr Auto und fuhr aus der Stadt hinaus, erneut nach Süden in Richtung Bilibid.
Smith erwartete sie im Besucherraum,
doch es brauchte einen Augenblick, bis sie ihn erkannte. Sein Gesicht war deutlich übler zugerichtet als bei ihrem ersten Besuch. Sein rechtes Auge war nahezu komplett zugeschwollen, unter beiden Augen und um die Nase sah sie Schürfwunden, und seine Oberlippe war aufgeplatzt. Die rechte Seite seines Kiefers wirkte entzündet, als hätte er einen Zahn verloren.
Sie setzte sich ihm gegenüber auf den Stuhl.
Bevor sie etwas sagen konnte, deutete er schon auf sein Gesicht. „Ich weiß“, stieß er um eine geschwollene Zunge herum aus. „Ich habe ein paar tolle neue Freunde gefunden.“
„Sie sehen schrecklich aus.“
„Ging mir auch schon besser.“
Sie sah sich in dem Raum um. Sie waren hier nicht unter sich. Die Wachen an der Tür behielten die Gefangenen und ihre Besucher mit grimmigem Blick im Auge. Josie fühlte sich verwundbar. Mendoza war ein mächtiger Mann mit weitreichenden Kontakten, und sie zweifelte keine Sekunde daran, dass sein Einfluss von Manila bis hier ins Gefängnis reichte. Es gab keine Garantie, dass er nicht von ihrem Besuch erfahren würde. Sie ging ein Risiko ein, aber sie hatte auch nicht widerstehen können.
Sie versuchte, die Gedanken zu verdrängen.
„Sie wollten mich sprechen?“
„Ja“, sagte Smith. „Danke, dass Sie gekommen sind.“
„Worum geht es?“
„Ich weiß, was mit mir passiert ist. Der Mord – ich kann jetzt alles erklären. Ich weiß, was vorgefallen ist.“
Sie dachte an die zusätzlichen Informationen, die sie seit ihrem letzten Besuch bei Smith zusammengetragen hatte, an die Fragen, auf die sie sich Antworten erhoffte. Aber sie würde abwarten und sich anhören, was er zu erzählen hatte. „Sprechen Sie weiter.“
„Es gab hier einen Insassen. Er heißt Fitzroy de Lacey, ein Engländer. Sehr reich und sehr mächtig. Hat sein Vermögen als Waffenschieber verdient. Er wurde gestern entlassen.“
„Was hat er mit Ihnen zu tun?“
„Es gibt da ein paar Dinge, die ich Ihnen nicht erzählt habe. Über mich. Ich sagte, ich wäre als Tourist hier.“
„Und das sind Sie nicht?“
„Nein. Und ich heiße auch nicht Smith.“
„Sondern?“
„Milton. John Milton.“
„Warum haben Sie sich als Smith ausgegeben?“
„Weil ich niemals unter meinem echten Namen reise. Ich habe mir im Laufe meiner Karriere Feinde gemacht. Menschen wie de Lacey.“
„In Ordnung“, sagte sie. „Ich bin zwei Stunden gefahren, um Sie zu sehen, da kann ich eine unterhaltsame Geschichte gut gebrauchen. Also, was war das für eine Karriere?“
„Ich habe für den Geheimdienst gearbeitet.“
„Wie ein Spion?“
„Das ist einer der Namen dafür, ja.“
„Sie sagten mir, Sie seien Koch.“
„Hätten Sie mir geglaubt, wenn ich mich als Spion vorgestellt hätte?“
„Vermutlich nicht.“
Er öffnete die Hände in einer Geste, die besagte: Da sehen Sie’s.
„Und Sie hatten mit de Lacey zu tun?“
„In gewisser Weise. Er hatte eine große Organisation. Hat auf der ganzen Welt Geschäfte gemacht. Ich habe undercover bei ihm gearbeitet und Beweise gesammelt, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Er war dabei, ein Geschäft mit den Kommunisten in Manila anzubahnen.“
Milton – Josie wollte gerade als Smith von ihm denken, konnte sich aber stoppen – rutschte auf seinem Stuhl herum und sah sie an, als wolle er ihre Reaktion einschätzen.
„Sagen wir mal, ich kaufe Ihnen das alles ab“, begann sie. „Was hat de Lacey damit zu tun, dass Sie hier sind?“
„Er gibt mir die Schuld an dem, was ihm zugestoßen ist. Er hat mich reingelegt. Er hat das alles eingefädelt, und ich bin ihm in die Falle gegangen. Er wusste, dass ich Jessica kenne. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, aber er hat dafür gesorgt, dass sie mich kontaktiert. Ich sagte Ihnen ja, was sie mir erzählt hat: Sie hatte ein Kind und behauptete, es sei von mir. Ich habe ihr geglaubt, und sie bat mich herzukommen, was ich getan habe. An dem Abend, an dem wir uns getroffen haben, ließ de Lacey sie umbringen und es so aussehen, als wäre ich der Täter. Ich glaube nicht, dass ich etwas getrunken habe. Das hätte nicht zu mir gepasst, aber ich kann mich einfach an nichts erinnern.“
„Sie haben nichts getrunken“, sagte sie.
„Woher wissen Sie das?“
„Wir haben Ihr Blut getestet. Es gab keine Spur von Alkohol darin.“
„Und Jessica?“
„Sie hatte ein oder zwei Drinks.“
Miltons Erleichterung war ihm deutlich anzusehen, doch er unterdrückte sie schnell. „Die Flaschen im Hotel sollten es so aussehen lassen, als hätten wir getrunken.“
„Das wäre eine Möglichkeit.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist mehr als das. Genau das ist passiert. Wen auch immer de Lacey beauftragt hat, er ließ es genau so aussehen. Erst wurden wir unter Drogen gesetzt – ich tippe auf Flunitrazepam, wegen des Gedächtnisverlusts –, dann hat man sie umgebracht und mir die Tat untergeschoben. Sie sagten, der Barbesitzer wurde erschossen?“
„An dem Abend, als ich ihn befragt habe.“
„Vielleicht deswegen. Vielleicht hatte er die Drogen. Vielleicht war er ein potenzieller Zeuge. Vielleicht haben Sie ihm Angst gemacht, als Sie ihm Fragen gestellt haben. Oder Ihr Besuch bei ihm hat jemand anderem Angst gemacht. Es wäre sonst ein zu großer Zufall.“
Einer der Wachmänner räusperte sich. Josie sah angespannt zu ihm hinüber, doch er blickte in eine andere Richtung.
„Da ist noch etwas“, sagte sie und beugte sich näher zu Milton. „Ich habe es erst heute Morgen erfahren. Die Besitzer des Hotels, in dem Sie gewohnt haben, wurden gestern Abend ermordet. Ich bin ins Hotel gefahren, aber die Aufnahmen der Überwachungskamera waren verschwunden. Jemand ist eingebrochen und hat die Festplatte gestohlen. Als ich erneut hinfahren wollte, hat das Büro gebrannt. Die Leichen der beiden wurden in den Brandresten gefunden. Jemand hat sie erschossen.“
„Da räumt jemand hinter sich auf.“
„Alles an der Sache ist faul. Die Bar. Das Hotel. Und Ihre Verlegung hierher. Die hätte nicht stattfinden sollen.“
„Sie sagten, Ihr Vorgesetzter hätte das getan.“
„Hat er.“
„Dann steckt er mit drin.“
„Denken Sie, ich wüsste das nicht?“, zischte sie. „Mich hat man auch bedroht. Vor dem Haus meiner Mutter stand ein Auto. Sie haben ein Foto meines Jungen gemacht, wie er gerade aus dem Kindergarten kommt, es zusammen mit einer Patrone in einen Umschlag gesteckt und unter der Tür durchgeschoben.“
„War das Ihr Boss?“
„Er sagte mir, dass ich vorsichtig sein solle, und er ist nicht der subtile Typ. Ich bin mir sicher, dass er das war.“
„Es würde mich nicht überraschen, wenn er auf de Laceys Lohnliste steht. Sie müssen vorsichtig sein.“
Sie ließ den Kopf sinken. „Die ganze Sache gerät außer Kontrolle.“
„Was werden Sie jetzt tun?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Ich könnte helfen.“
„Und wie wollen Sie das tun, Milton?“, knurrte sie. „Sie sind im Gefängnis
.“
„Dann holen Sie mich raus.“
„Ja, klar. Ich gehe kurz auf den Parkplatz, schnappe mir das Seil aus meinem Auto und werfe es über die Mauer.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, sich wieder zu beruhigen. „Ich weiß nicht. Vielleicht kann ich mich dahinterklemmen. Vielleicht … vielleicht könnte ich Ihnen etwas geben, was Sie vor Gericht verwenden können. Haben Sie einen Anwalt?“
Er zuckte mit den Achseln. „Einen Pflichtverteidiger.“
„Wie heißt er?“
Milton zog die Stirn kraus, als er sich an den Namen zu erinnern versuchte, den man ihm genannt hatte. „García.“
Sie stöhnte. „Na großartig.“
„Nicht gut?“
„Eddie García ist ein Säufer“, sagte sie, bevor sie sich erinnerte, dass Milton selbst Alkoholiker war. „Tut mir leid, ich …“
„Vergessen Sie’s“, unterbrach er sie und wischte ihr Unbehagen mit einer Geste weg.
„Und er ist korrupt. Das ist schlimmer. Ich könnte ihm Beweise geben, die belegten, dass Sie auf keinen Fall der Täter sind, doch es würde keinen Unterschied machen. Wenn das hier eine Verschwörung ist, wird er die Beweise einfach verschwinden lassen.“
„Also müssen wir uns etwas anderes überlegen.“
„Haben Sie eine gute Idee?“
Er legte beide Hände flach auf den Tisch und sah sie direkt an. „Eine Sache wäre da.“
„Und was?“
„Falls ich es hier raus schaffe, bin ich in der Lage, die Fortschritte zu erzielen, die Ihnen verwehrt sind.“
„Was soll das heißen?“
„Die Leute, mit denen wir es hier zu tun haben, spielen nicht nach den Regeln. Das bedeutet, wir dürfen uns auch nicht an die Regeln halten.“
„Sie sagen ‚wir‘. Aber wir sind kein Team, Milton.“
„Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber wir verfolgen dasselbe Ziel. Ich will diese Sache in Ordnung bringen. Und wenn ich das hinbekomme, ist die Sache auch für Sie wieder in Ordnung.“
„Es ist egal, was Sie sagen, was Sie tun können. Ich kann Sie hier nicht rausholen.
“
„Nicht offiziell. Aber Sie können helfen.“ Er sah sich um. „Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt: Ich muss einem Freund eine Nachricht zukommen lassen. Er wäre in der Lage zu helfen, aber ich kann keine Telefonanrufe tätigen. Er weiß nicht, dass ich hier bin. Niemand weiß das.“
„Ich soll ihn für Sie kontaktieren?“
„Wenn Sie mir helfen wollen, wäre das die beste Möglichkeit.“
„Mal angenommen, ich tue das für Sie … was könnte dieser Freund tun?“
„Könnten Sie ihn herbringen, um mich zu besuchen?“
„Vielleicht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Vermutlich. Aber was würde das bringen? Sie wären immer noch hier.“
„Ich war Soldat“, erklärte Milton. „Mein Freund ebenfalls. Wir haben dieselbe Geschichte. Dieselben Fähigkeiten.“
„Sie wollen versuchen auszubrechen?“
„Nur, wenn Sie keinen besseren Weg wissen.“
„Wie heißt der Mann?“
„Alex Hicks. Haben Sie was zu schreiben?“
„Nein“, antwortete sie. „Aber ein gutes Gedächtnis.“
Milton nannte ihr eine Telefonnummer. „Hicks ist in England“, sagte er. „Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, dass wir beide miteinander gesprochen haben. Sagen Sie ihm, er soll so schnell wie möglich herfliegen.“
„Und das tut er dann? Einfach so?“
„Hicks schuldet mir was. Und er ist ein guter Mensch. Er wird kommen.“
„Und dann?“
„Bringen Sie ihn her, damit ich mit ihm sprechen kann.“
Die Uhr sprang auf die volle Stunde um, und ein Summer ertönte. „Die Zeit ist um“, rief eine der Wachen. „Alle Besucher müssen jetzt gehen – sofort.“
Josie versuchte, irgendeine Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken zu bringen, die wild durch ihren Kopf jagten: die Drohungen gegen sie und Angelo; die Morde im Hotel und der Bar; Mendozas Verwicklung in die Sache; Miltons Unwahrheiten; die Ungewissheit, ob sie jemandem wie ihm trauen konnte. Ihre Methode hatte immer darin bestanden, für solide Fundamente zu sorgen, auf denen sie die Zukunft aufbauen konnte, und jetzt hatte sie zum ersten Mal, seit ihr Ehemann sie und Angelo verlassen hatte, das Gefühl, dass diese Fundamente bröckelten. Sie hatte nicht viele Möglichkeiten. Milton hatte sie belogen, aber dennoch konnte sie die Tatsache nicht leugnen, dass er ebenso daran interessiert war wie sie, den Schlamassel zu beenden, in dem sie steckten.
Es hatte nicht viel zu sagen, aber er war die beste Chance, die sie hatte.
„Josie?“, fragte Milton.
Sie stand auf. „Ich werde es tun.“