D
er Besucherraum war funktional eingerichtet. Der Raum wurde von vielen Gefangenen gleichzeitig genutzt, um Besucher zu treffen. Hicks hätte ein privateres Treffen bevorzugt, aber sie würden mit dem auskommen müssen, was sie hatten. Er war dankbar dafür, dass er es bis hierhergeschafft hatte, ohne dass sein Täuschungsmanöver aufgeflogen war. Officer Hernández hatte ihn in den Raum begleitet und sich dann auf einen Stuhl im Wartebereich gesetzt. Hicks sagte ihr, dass er sie wieder abholen würde, wenn er sein Treffen mit Milton beendet hatte, damit sie zusammen gehen konnten.
Er beobachtete die anderen Insassen, die im Raum saßen: Es waren zähe Männer, denen die Trostlosigkeit ihres Daseins in den toten Augen und ausdruckslosen Gesichtern abzulesen war. Viele von ihnen trugen sichtbare, wenig kunstvolle Gefängnistätowierungen auf Armen, Beinen und Gesichtern. Man erkannte die Gefangenen an ihren orangefarbenen Hemden. Ihre Besucher waren zum größten Teil ärmlich gekleidet, was darauf schließen ließ, dass sie und die Männer, die sie hier besuchten, aus den ärmsten Schichten der Filipino-Gesellschaft stammten. Hicks erinnerte sich an den funkelnd neuen Flughafen und die Wolkenkratzer im gehobeneren Teil Manilas, die er gesehen hatte, als Hernández mit ihm nach Süden gefahren war, und er wusste, dass ein Ort wie dieser all diejenigen versammelte, die durchs Raster fielen.
Hicks sah auf seine Uhr. Er wartete schon seit zehn Minuten. Er drehte sich zur Tür um und fragte sich, ob er gehen und mit Josie sprechen sollte, als die große Doppeltür an der nördlichen Wand geöffnet und ein Mann hereingebracht wurde. Er trug dieselbe Gefängniskleidung wie alle anderen, und Hicks hakte ihn innerlich ab. Sein Gesicht war geschwollen und voller Wunden, die mit getrocknetem Blut verkrustet waren. Ein Auge war komplett zugeschwollen, die Haut fast schwarz. Er humpelte und ging vornübergebeugt, einen Arm an die Seite gedrückt, als wolle er seine schmerzenden Rippen schützen.
Hicks schaute weg, bis er bemerkte, dass der Neuankömmling sich seinem Tisch näherte. Als er noch einmal hinsah, erkannte er ihn: Es war Milton.
„Himmel“, stieß er aus.
Milton nickte ihm zu und setzte sich vorsichtig auf den harten Holzsitz. „Danke, dass du gekommen bist“, sagte er.
„Können wir offen sprechen?“
„Sie belauschen uns nicht“, sagte Milton. „Wir haben Glück. Hätten wir unseren eigenen Raum, wäre er vermutlich verwanzt. Hier ist es ihnen offenbar egal.“ Er spreizte die Schultern und stieß dabei schmerzverzerrt die Luft aus. „Wie sehe ich aus?“
„Furchtbar.“
„Ging mir auch schon besser. Ich habe hier seit meinem Eintreffen jeden Tag eine Sonderbehandlung genossen. Und du hast also meine Nachricht erhalten?“
„Hernández hat mich gestern Abend angerufen.“
„Und du bist sofort gekommen?“
Hicks nickte. „Mit dem Nachtflug.“
„Ich wette, deine Frau hat sich gefreut.“
„Wir schulden dir das, Milton. Das weiß sie.“
„Ihr schuldet mir nicht das Geringste.“
Hicks wischte den Kommentar beiseite. „Da werden wir wohl unterschiedlicher Meinung bleiben müssen.“
„Auf jeden Fall vielen Dank. Ich weiß das zu schätzen.“
„Was ist dir passiert?“
„Du meinst, wie ich hier gelandet bin?“
Hicks nickte.
„Ich wurde reingelegt.“
Er erzählte Hicks seine Seite der Geschichte: wie er in London kontaktiert worden war, man ihm erzählt hatte, er sei Vater und dass die Mutter des Kindes ihn treffen wollte. Dann den anschließenden Verrat, damit er hier ins Gefängnis gebracht werden konnte, wo ein extrem nachtragender Mann aus seiner Vergangenheit ihn folterte.
„Die sind clever“, sagte Milton zum Abschluss. „Sie kannten mich. Sie wussten genau, welche Knöpfe sie drücken mussten. Ich bin eine ganze Weile allein gewesen. Und das ist auch in Ordnung – ich brauche kein Mitleid. Ich habe mir das ausgesucht. Aber wenn dir jemand erzählt, dass du ein Kind hast … einen Sohn …“ Er verstummte. „Ich habe mich blenden lassen. Ich hätte vorsichtiger sein sollen, und weil ich es nicht war, ist jetzt …“ Er verstummte wieder. „Sie ist tot und ich bin hier.“
„Dieser Mann – wer ist das?“
„Fitzroy de Lacey. Ein Waffenschieber. Ich war für seine Verurteilung verantwortlich. Er war zehn Jahre hier drin.“
„War
hier drin?“
„Er ist vor zwei Tagen entlassen worden. Ich weiß nicht, wie. Es gibt eine neue Regierung, die ist ihm offenbar gewogener. Vermutlich hat er ihnen angeboten, für sie zu arbeiten. Auf jeden Fall hat er Helfer bei der Polizei. Hernández sagte, ihr Vorgesetzter habe meine Verlegung in dieses Gefängnis angeordnet. Und dann wurde sie bedroht, und sie glaubt, dass ihr Chef es war. Wir können also ruhig davon ausgehen, dass er in die Sache verwickelt ist.“
Milton sah Hicks bedeutungsschwer an und wartete, bis der Wachmann, der sich ihrem Tisch von hinten näherte, an ihnen vorbei war.
„Du wirst nicht viel mehr Prügel einstecken können“, sagte Hicks.
„Das weiß ich“, gab Milton zurück. „Aber ich glaube, ich konnte mir etwas Zeit verschaffen. Ich habe ein paar von de Laceys Jungs auf die Krankenstation geschickt, als sie mich gestern holen wollten. Mir wurde gesagt, ich hätte einen von ihnen getötet. Jetzt stecke ich in Einzelhaft, bis sie wissen, was sie mit mir anstellen sollen.“
„Und wenn sie dich wieder in den Regelvollzug bringen?“
„Ich hoffe, dass du mich bis dahin hier rausgeholt hast.“
Hicks nagte nachdenklich an seiner Lippe. „Das wird nicht einfach“, sagte er. „Die Wachen sind kein großes Problem, aber das Gebäude wirkt ziemlich sicher.“
„Sehe ich auch so. Du wirst Hilfe brauchen.“
„Irgendwelche Vorschläge?“
„Ja, in der Tat. Ich denke da an jemand Bestimmten: einen Mann, mit dem ich in Gruppe fünfzehn zusammengearbeitet habe.“
„Einen
Mann? Das ist kein Zwei-Mann-Job, Milton.“
„Das weiß ich, aber er ist ein Genie.“ Milton zögerte. „Nun, er ist exzentrisch, aber auch ein Genie.“
„Worin?“
„Computer. Ich denke, diese Sache liegt genau auf seiner Wellenlänge.“
„Wie heißt er?“
„Ziggy Penn.“
„Noch nie gehört“, sagte Hicks.
„Das wundert mich nicht. Er lebt ziemlich zurückgezogen.“
„Okay, es ist deine Beerdigung. Wo finde ich ihn?“
„Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er in Korea lebt, aber dort wird er nicht mehr sein. Er bleibt nie lange an einem Ort. Meist will man ihn recht schnell loswerden. Als wir das letzte Mal zusammengearbeitet haben, musste ich ihn aus einer misslichen Verstrickung mit der Yakuza in Tokio befreien.“
„Und wie nehme ich Kontakt zu ihm auf?“
„Es gibt eine UseNet-Gruppe. Die gab es schon vor Internetforen. Sie wird von Fans der Gruppe The Smiths betrieben.“
„Natürlich“, sagte Hicks. „The Smiths.“
„Die Seite ist absolut echt, aber Ziggy hat dort ein kleines Programm installiert. Das benachrichtigt ihn, wenn eine bestimmte Nachricht gepostet wird.“
„Was muss ich posten?“
„Du wirst es dir merken müssen: ‚The last night of the fair, by the big wheel generator.‘ Registrier dich in der UseNet-Gruppe, beginn einen neuen Thread und poste das.“
Hicks verzog das Gesicht, als er versuchte, sich zu erinnern. „Aus welchem Song ist das? ‚Rusholme Ruffians‘?“
„Ich wusste nicht, dass du die Smiths magst, Hicks.“
Hicks schmunzelte und zuckte mit den Achseln. „Als ich jünger war, habe ich in Manchester gelebt. Ich bevorzuge die Mondays, kann aber mit Morrissey leben. Ich erledige das, sobald ich hier raus bin. Was passiert dann?“
„Er wird dir antworten und erklären, wie du ihn außerhalb der Gruppe kontaktieren kannst. Wie ich sagte, er ist ein bisschen ungewöhnlich. Versuch, ihm das nachzusehen. Wir werden ihn brauchen. Erzähl ihm, was passiert ist und dass er so schnell wie möglich herkommen soll.“
„Und wenn er nein sagt?“
„Wird er nicht. Er schuldet mir den ein oder anderen Gefallen.“
„Ich erkenne da langsam ein Muster.“
Milton schnitt eine Grimasse, und Hicks erkannte, dass es ein leichtes Lächeln sein sollte.
„Brauchst du sonst noch etwas?“
Miltons Miene verriet seinen Sarkasmus. „Einen Hubschrauber im Gefängnishof?“
„Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Milton griff über den Tisch und packte Hicks’ Hand.
„Hey!“, rief eine der Wachen.
Milton drückte Hicks’ Hand. „Danke. Das vergesse ich dir nicht.“
„Hey! Nicht anfassen!“
Milton ließ los.
„Versuch, durchzuhalten“, sagte Hicks.
„Hol Ziggy und findet dann einen Weg, wie ihr mich hier rausholen könnt. Bis dahin kann ich auf mich selbst aufpassen.“
Josie führte
ihn wieder aus dem Gefängnis. Sie schwieg, bis sie in ihrem zerbeulten Wagen saßen.
„Und?“, begann sie. „Was werden Sie jetzt tun?“
„Machen Sie sich keine Sorgen um …“
„Versuchen Sie, ihn rauszuholen?“
„Er sollte gar nicht da drin sein“, antwortete er. „Sie wissen das. Er wurde reingelegt.“
„Das weiß ich“, sagte sie.
„Und wir können nicht bis zu seinem Prozess warten.“
„Das würde nichts ändern“, erklärte sie. „Der wäre nicht fair, ein reiner Schauprozess.“
„Na dann.“
„Also werden Sie ihn rausholen?“, fragte sie erneut.
Er antwortete nicht.
„Sie wissen, dass Sie dabei Hilfe brauchen werden, oder nicht? Mir ist egal, wer Sie sind und was Sie früher gemacht haben. Die Sache ist zu groß für Sie.“
„Das wissen Sie nicht“, erwiderte er.
„Doch“, beharrte sie und nickte. „Das weiß ich. Sie allein schaffen das nicht. Sie brauchen Hilfe.“
„Sie haben genug geholfen. Milton bat mich darum, Ihnen das mitzuteilen. Er ist Ihnen sehr dankbar. Er möchte nicht, dass Sie in die Sache hineingezogen werden.“
„Ich habe gar keine Wahl“, sagte sie und legte die Hände aufs Lenkrad. „Ich wurde
längst hineingezogen. Haben Sie Kinder, Mr. Hicks?“
„Ja. Zwei.“
„Dann verstehen Sie es. Ich habe einen kleinen Jungen. Jemand hat ein Foto von ihm vor seinem Kindergarten gemacht und es in einem Umschlag unter der Tür meiner Mutter hindurchgeschoben. Eine Patrone lag auch in dem Umschlag.“
„Das hat Milton mir erzählt. Das ist ein sehr guter Grund, warum Sie sich so weit wie möglich von der Sache fernhalten sollten.“
„Wo wäre das? Und was soll ich tun? Wenn Sie versuchen, ihn rauszuholen, was glauben Sie, was dann mit mir und meinem Jungen passiert? Sie werden uns finden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Mein Boss steckt in der Sache mit drin. Ich weiß nicht, wie, aber er tut es. Wenn ich Ihnen helfe, Milton rauszuholen, können Sie mir helfen. Richtig?“
„Ihnen helfen?“
„Dabei, Antworten zu finden. Und alles wieder so hinzubekommen, wie es vorher war.“
Hicks sah sie an. Ihr Gesicht wirkte steinern, aber er konnte einen Muskel in ihrer Wange zucken sehen. Sie versuchte, hart und furchtlos zu wirken, aber sie hatte Angst. Und mit gutem Grund. Hicks kannte das aktuelle politische Klima in Manila. Morde waren hier eine Alltäglichkeit. Die Polizei griff eisern durch. Milton war bereits in den Strudel aus Korruption und Gewalt geraten, der hier den Alltag beherrschte. Josie und ihr Sohn standen kurz davor, ebenfalls davon verschlungen zu werden. Sie versuchten wegzukommen, aber Josie war den falschen Leuten aufgefallen und rutschte immer tiefer hinein.
Hicks hätte an ihrer Stelle ebenfalls Angst gehabt.
„Okay“, sagte er.