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ie Wache löste die Kette vom Haken im Boden und befahl Milton, aufzustehen. Der kam dem Befehl nach. Die Handschellen waren eng und schnitten ihm in die Haut, doch er gönnte den Männern nicht die Genugtuung, sich das anmerken zu lassen. Das war nur die neueste Unbequemlichkeit: Seine Muskeln schmerzten immer noch von den Schlägen, die er kassiert hatte, einer seiner Zähne war locker, und sein Nacken und die Schultern schmerzten vom Schlafen auf dem kalten Steinboden.
Die Wachen nahmen wieder ihre Positionen ein, einer vor ihm, einer hinter ihm. „Bewegung“, sagte der Mann hinter ihm und stieß ihm die Spitze seines Schlagstocks in den Rücken.
Sie eskortierten ihn aus dem Besucherblock zurück in den Haupttrakt, er sah den Eingang zum Einzelhaftflügel, doch an dem gingen sie vorbei.
„Wo bringt ihr mich hin?“
Die Wache stieß ihm den Stock in die Nieren. „Ruhe. Weitergehen.“
Sie betraten Haus Nummer eins durch den Haupteingang und folgten dem Gang bis zu den Treppen, über die sie in den zweiten Stock hinaufstiegen zu Miltons Zelle.
Die Zellentür stand offen, und gerade traten zwei Wachen hindurch, zwischen sich eine Bahre, auf der sie einen reglosen Körper aus der kleinen Zelle trugen. Milton sah genauer hin, als die Wachen um ihn herumgingen.
Isko.
Seine Augen waren geschlossen, und ein Arm hing schlaff von der Bahre hinab.
Er war tot.
Die Wache hinter Milton legte ihm die Hand auf die Schulter und stieß ihn vorwärts bis dicht vor die Tür.
Milton ging noch einen Schritt, drehte sich dann um und schaute in seine Zelle.
Darin stand ein Mann. Er war groß – sehr viel größer als Milton – und ließ ein bösartiges Grinsen aufblitzen.
Tiny.
Hicks sah auf seine Uhr.
Es war zehn. Josie war schon seit einer Stunde im Gefängnis. Von seinem Standort vor den Toren aus hatte er einen guten Blick auf die Vorderseite des Hauptgebäudes: Er übersah Parkplatz und Rasen und dahinter die protzige Fassade mit ihrem Plastikbanner und dem riesigen Eingang. Er hatte gesehen, wie sie durch diese Türen gegangen war, aber bisher war sie noch nicht wieder rausgekommen.
Er drehte sich zum Rücksitz um. „Und?“
Ziggy hatte einen USB-Stick an seinen Laptop angeschlossen und fuhr gerade mit dem Finger über den Bildschirm, während er auf seiner Unterlippe kaute. „Da“, sagte er endlich. „TUUSAN 21. Das ist die Bluetooth-Verbindung von gestern.“
„Und was jetzt?“
„Jetzt lasse ich ein Linux-Script laufen. Das liest die ID der Tastatur aus.“ Er schwieg, während er mit dem Finger über das Touchpad des Laptops fuhr und immer wieder auf die Enter-Taste hieb. „Na also“, stieß er aus.
„Erledigt?“
„Ich hab die Tastatur mit meinem Laptop verbunden.“
„Sind Sie drin?“
„Fast.“
Ziggys Finger flogen über die Tastatur.
„Wie lange noch?“
„Bin fast da.“
„Sie kann da nicht mehr lange drinbleiben.“
„Halten Sie die Klappe, Hicks. Es dauert länger, wenn Sie mich andauernd ablenken.“
Er tippte Befehle ein und lehnte sich dann mit gespannt erhobenen Händen zurück. Er drehte den Laptop um, sodass Hicks den Bildschirm sah. Zu sehen war ein Download-Balken, der sich langsam von links nach rechts füllte.
„Was ist das?“
„Ich bin mit dem FTP-Server verbunden, auf dem der Exploit liegt, den ich heute Nacht geschrieben habe. Ich lade ihn auf den Computer im Wachhaus.“
Der Balken kroch voran. „Das dauert ja ewig“, klagte Hicks.
„Die Übertragungsrate hier stammt noch aus der Steinzeit“, erklärte Ziggy mit einem Achselzucken. „Daran kann ich nichts ändern.“
Der Balken war halb gefüllt.
„Rein.“
„Schon wieder?“
„Rein.
“
Milton hielt seine Handschellen hoch. „Nehmt mir wenigstens die hier ab, damit ich eine faire Chance habe.“
„Los“, sagte die Wache knapp und stieß Milton vorwärts.
Er stolperte in die Zelle. Iskos Schlafmatte war an die Seite geschoben worden, und er entdeckte Blutspritzer darauf. Er hielt die Fäuste hoch. „Gratuliere“, sagte er. „Du hast einen alten Mann ermordet. Willst du es mal mit jemandem versuchen, der sich wehren kann?“
Tiny beherrschte den ganzen Raum. Sein Scheitel befand sich höchstens einen Zentimeter unter der Decke, und es gab kaum genug Raum, um links oder rechts an ihm vorbei zu kommen. Milton stand dicht bei der Tür. Der Wachmann stemmte einen Fuß in sein Kreuz und stieß ihn zwei weitere taumelnde Schritte vorwärts.
Die Tür quietschte in ihren Schienen und klapperte, als sie zuging und mit einem lauten Klicken ins Schloss fiel.
Tiny war nun beinahe in Reichweite.
„Nimm mir die ab“, verlangte Milton.
Der große Filipino grinste ihn weiter hungrig an.
„Du hast also Angst“, sagte Milton.
„Du stirbst jetzt“, sagte Tiny. Sein Englisch war stockend und unsicher. Er hob eine Hand und fuhr sich mit einem Finger drohend über die Kehle. „Wie dein Freund.“
Milton hörte aufgeregte Stimmen hinter sich, und als er einen kurzen Blick zurück riskierte, sah er, dass noch drei weitere Wachen sich zu den beiden anderen gesellt hatten.
Beste Plätze in der ersten Reihe. Sie würden genussvoll zuschauen, wenn er seine Prügel bezog.
Milton verschränkte die Finger. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Tiny war größer und stärker als er, und trotz der Ruhepause ohne tägliche Prügel, die er sich verschafft hatte, war sein Körper noch immer vollkommen wund. Und obendrein waren seine Hände gefesselt.
Tiny kam einen Schritt auf ihn zu.
Milton schlug mit beiden Händen nach ihm. Es war unmöglich, den Schlag überraschend auszuführen, und Tiny wich dem Hieb mühelos aus, hob einen Arm und stieß Miltons Hieb mit dem Handgelenk zur Seite. Milton verlor das Gleichgewicht und stolperte noch näher an Tiny heran. Der große Mann drosch Milton die Faust ins Gesicht. Ein kurzer Haken ohne allzu viel Schwung folgte, war aber immer noch kräftig genug, um Miltons Schädel nach hinten gegen seine Schultern zu werfen. Er taumelte zurück, bis er mit dem Rücken an die nackte Zellenwand stieß.
Die zuschauenden Wachen lachten.
Er schmeckte sein eigenes Blut und spie einen Batzen davon aus.
Tiny grinste höhnisch.
Milton verschränkte die Finger.