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M ilton durchsuchte die Leiche des in den Tod gestürzten Wachmanns.
Er war unbewaffnet, aber in seiner Gesäßtasche fand Milton ein kleines Nokia-Handy.
Er nahm es an sich und wählte die Nummer, die Josie ihm gegeben hatte.
Jemand ging ran.
„Ich bin es, Milton.“
Er hörte Hicks. „Wo sind Sie?“
„Wir haben hier einen ausgewachsenen Aufstand. Ich brauche einen Weg nach draußen.“
„Sie können zur Vordertür raus. Die Wachen haben ihre Posten auf den Türmen verlassen.“
„Sonst noch etwas?“
„Wir haben ein Problem. Hernández steckt im Verwaltungstrakt fest.“
Milton packte das Handy etwas fester.
„Wo ist sie?“
Josie setzte sich mit dem Rücken gegen das Sofa, stemmte die Sohlen ihrer Stiefel flach gegen den Boden und spannte die Beine an. Ein weiterer dumpfer Schlag erklang, als jemand auf der anderen Seite der Tür versuchte, diese aufzudrücken. Das Sofa rückte ein Stück weiter in den Raum, und die Tür öffnete sich einen Spalt.
„Mach die Tür auf!“, schrie der Mann heiser durch den Spalt.
„Ich bin Polizistin“, rief Josie zurück. „Und ich bin bewaffnet.“
„Natürlich bist du das, Süße“, erwiderte der Mann.
„Ich erschieße jeden, der versucht, hier reinzukommen.“
„Ja? Und ich sage, du bluffst nur.“
Josie hörte brüllendes Gelächter und dann eine Flut obszöner Vorschläge, was die Männer vor der Tür mit ihr anstellen würden, sobald sie im Raum wären.
Sie wünschte, sie wäre bewaffnet. Dann hätte sie vielleicht eine Chance. Aber das war sie nicht. Ihre Waffe lag im Verwahrungsschrank. Wenn die Gefangenen clever genug wären, kämen sie vielleicht auf die Idee, das Büro zu plündern und sich zu bewaffnen. Dass ihre Lage noch schlimmer sein könnte, war offensichtlich, aber angesichts der Realität auch schlicht irrelevant.
Die Dinge standen schlimm genug, wie sie waren.
Es gab keinen Weg hier raus. Keine Fenster. Keine andere Tür. Sie war gefangen, eine Polizistin, eine Frau, inmitten des Chaos aufständischer Gefängnisinsassen, von denen viele keine Hoffnung hatten, jemals wieder frei zu sein, jemals wieder eine Frau zu berühren. Sie hatten nichts zu verlieren. Dass sie ihren Frust und ihren Zorn gleichzeitig an einer Polizistin auslassen konnten, war ein Bonus obendrauf.
Es folgte ein weiterer donnernder Schlag, als etwas gegen die Tür gestoßen wurde. Es war schwerer und fester als alles zuvor, stabiler als die Schultern der Männer, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatte.
Ein Rammbock.
Ein zweiter krachender Schlag traf die Tür.
Und ein dritter.
Josie hörte ein Splittern, und als sie über die Lehne des Sofas schaute, sah sie, dass die Tür in der Mitte entzweibrach.
Mendoza stieß im vollen Lauf die Türen zum Hauptfoyer auf.
Dort bremste er abrupt ab und rutschte noch ein Stück über den Boden.
Vor ihm versperrten zwei orangegekleidete Gefangene den Weg.
Mendoza zögerte nicht. Er griff in sein Jackett, zog die Glock aus dem Holster und schoss auf die Männer. Beide sackten zu Boden. Einer von ihnen war tot, bevor er aufkam, der andere versuchte, den plötzlichen Schwall Blut zu stoppen, der ihm aus dem Bauch schoss.
Mendoza packte seine Pistole fester und lief auf den Haupteingang zu.
Soweit er es sagen konnte, war Josie noch im Gebäude, aber das scherte ihn nicht.
Sie war der Grund, warum er hier rausgefahren war. Ihre Einmischung und ihr Ungehorsam hatten sie beide in Gefahr gebracht.
Vielleicht würden die freigelassenen Gefangenen das Problem für ihn erledigen – endgültig.
Das könnte ihm seinen Job retten.
Zwei weitere Gefangene kamen aus dem Sicherheitsbereich. Mendoza drehte sich um und schoss. Beide Kugeln verfehlten ihr Ziel, aber die Botschaft kam an: Die beiden Insassen warfen sich in Deckung.
Er hatte noch sieben Schuss im Magazin und eine Kugel im Lauf. Er musste hier raus. Die Waffe auf das Versteck der Männer gerichtet, wich er einige Schritte nach hinten, bevor er sich umdrehte und rannte.
Josie stemmte sich gegen das Sofa, bis ihre Oberschenkel schmerzten.
Sie würde nicht aufgeben. Mit geschlossenen Augen dachte sie an Angelo. Für ihn würde sie so lange durchhalten wie möglich.
Ein weiteres Krachen ertönte, dann ein Knirschen, als der Riss in der Mitte der Tür weiter wuchs.
Lautes Gelächter drang zu ihr hindurch, ein paar anfeuernde Rufe, und dann …
Das Geräusch, wie etwas Schweres zu Boden fiel.
Josie setzte sich auf.
Sie hörte einen Schrei, unterbrochen von einem schmerzerfüllten Winseln und gefolgt von dem unverkennbaren Geräusch, als etwas Hartes auf Fleisch und Knochen traf. Noch etwas fiel zu Boden. Jemand stieß einen zornigen Ruf aus, der abgewürgt wurde, und dann der Klang schnell davoneilender Schritte.
„Josie!“
Mit brennenden Muskeln stemmte sie sich noch fester gegen das Sofa. „Wer ist da?“
„Ich bin es, Milton.“
Sie blieb, wo sie war.
„Machen Sie auf.“
Josie stellte fest, dass sie bebte und ihre Muskeln unkontrolliert zuckten. War das Milton? Hatte er sie gefunden? Sie hatte zu viel Angst, um die Vorstellung zuzulassen, dass sie hier rauskommen könnte. Vielleicht war das eine Falle. Aber woher sollte irgendjemand wissen, dass er sich dafür als Milton ausgeben müsste? Nichts deutete auf einen Trick hin, aber die Panik vernebelte ihren Verstand.
„Josie“, sagte Milton durch den Riss in der Tür, „die kommen gleich zurück. Wir müssen hier weg. Bitte. Öffnen Sie die Tür.“
Sie stand auf und schob das Sofa zur Seite. Die Tür war in der Mitte geborsten und hätte nicht mehr lange standgehalten. Sie zog sie auf – draußen stand Milton. Er hielt den Schlagstock einer Wache in der Hand. Drei Gefangene lagen reglos auf dem Boden. Einer von ihnen blutete heftig aus einer Platzwunde am Kopf, um den sich eine langsam wachsende rote Lache bildete. Miltons Gefangenenhemd war mit roten Flecken übersät und sein Gesicht in Schweiß gebadet. Sie sah außerdem frische Blessuren und dunkle Flecken, die bald neue Blutergüsse bilden würden.
„Sind Sie so weit?“, fragte er.
Sie nickte.
„Kommen Sie.“
Er begann, langsam loszujoggen in einem Tempo, bei dem Josie ihm gut folgen konnte. Er zog ein Handy aus der Tasche und hielt es sich ans Ohr. Während er lief, sprach er.
„Ist der Weg noch frei?“
Josie konnte die Antwort nicht hören.
„Das ist Hicks“, erklärte Milton ihr, als er das Handy wieder in die Tasche schob. „Sie warten vor dem Gefängnis und sammeln uns ein.“
„Was ist mit der Polizei?“
„Es ist noch keine gekommen.“
„Das werden sie. Mit der Armee.“
„Deshalb müssen wir uns beeilen.“
Milton führte sie zum Haupteingangsbereich. In einem der angrenzenden Räume war ein Feuer gelegt worden, und Rauch drang durch geplatzte Fenster und eine offene Tür. Als sie in den vor Rauch dunklen Bereich kamen, fanden sie hustende, nach Luft ringende Gefangene vor. Der Sicherheitsbereich war überrannt worden – Insassen drängten durch die jetzt nutzlosen Metalldetektoren in Richtung des offenen Haupteingangs und der frischen Luft dahinter. Sie hatten nur ihre Freiheit vor Augen, keiner von ihnen würdigte Josie auch nur eines Blickes. Nur ein einzelner Mann ließ einen anzüglichen Spruch in ihre Richtung los, wurde aber schnell und nachdrücklich von der Dummheit seines Vorhabens überzeugt: Milton hieb mit dem Schlagstock nach ihm und traf ihn an seinem knochigen Knie. Der Mann heulte vor Schmerz auf, rollte sich am Boden zusammen und hielt sich das Bein.
Die Türen des Haupteingangs waren halb herausgerissen worden und hingen in zerborstenen Angeln. Milton stieß sie auf, griff hinter sich nach Josies Hand und führte sie nach draußen.
Sie sah zu den Wachtürmen hinauf und dachte an die Gewehre der Wachen dort oben. Doch es waren keine Wachen mehr zu sehen. Rauch drang aus geborstenen Fenstern. Sie sah das gierige Gelb und Orange der Flammen und hörte Schreie, Jubelrufe und splitterndes Glas.
„Laufen Sie“, sagte Milton. „Und bleiben Sie auf keinen Fall stehen.“
Milton rannte in Richtung des Haupttors. Einige Insassen sammelten sich direkt auf der anderen Seite, als wären sie unsicher, was sie mit ihrer Freiheit anfangen sollten. In der dichten Vegetation, die das Gefängnis umgab, sah Josie immer wieder helles Orange aufblitzen – Gefangene, die vor der herannahenden Armee in die umliegenden Felder verschwanden.
Auch das Tor war aufgebrochen worden und hing halb in seinen Halterungen, wo es leise quietschend im Wind schwang.
Ein Auto kam auf sie zugerast und machte mit der Lichthupe auf sich aufmerksam.
„Da“, sagte Milton und rannte auf das Auto zu.
Mit quietschenden Reifen stoppte das Fahrzeug direkt vor ihnen. Die hintere Seitentür wurde aufgestoßen, und Josie sprang hinein. Sie stieß gegen Ziggy Penn, der seinen Laptop noch aufgeklappt auf dem Schoß hatte. Hicks saß am Steuer und beugte sich über den Beifahrersitz, um die andere Tür zu öffnen. Milton rutschte über die Motorhaube, zog die Tür ganz auf und warf sich auf den Sitz.
„Los!“
Hicks gehorchte. Er trat das Gaspedal durch, und die Reifen heulten auf, als das Gummi sich in den rauen Asphalt fraß. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und ruckte sich zur Seite, als Hicks das Lenkrad herumriss. Das Heck schlingerte, und Qualm stieg von den Reifen auf. Als sie endlich Grip fanden, richtete Hicks sich auf, trat erneut aufs Gas, und der Wagen raste davon.