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icks verschränkte die Finger und legte die Hände an seinen Hinterkopf. Der Mann, der den Wohnwagen zusammengeschossen hatte, stand einen Schritt entfernt von ihm. Hicks hätte den Arm ausstrecken und ihn berühren können. Alles in ihm schrie danach, einzugreifen, irgendetwas
zu tun. Er musste sich auf seinen Atem konzentrieren. Er musste geduldig bleiben. Die anderen Männer standen nur wenige Meter entfernt und würden ihn in einen Schweizer Käse verwandeln, wenn er auch nur zuckte. Er musste Milton vertrauen, er konnte nicht weit weg sein.
De Lacey kam zu ihm herüber.
„Wie ist dein richtiger Name?“
„Logan. Sie wissen, wie ich heiße.“
„Nein“, gab de Lacey zurück. „Ich weiß nicht, wie du heißt, aber du heißt ganz gewiss nicht Logan.“
De Lacey hockte sich hin und zog sein Handy aus der Tasche. Er tippte auf dem Display herum und drehte es dann so, dass Hicks es sehen konnte. Auf dem Bildschirm war ein Mann Ende zwanzig, mit Brille und bereits dünner werdendem Haar.
„Wer ist das?“, fragte Hicks.
„Das ist William Logan. Was ist mit ihm passiert?“
„Wovon sprechen Sie?“
„Hat er dir erzählt, dass er seine Kunden nie persönlich trifft? Das hat er uns nämlich ebenfalls gesagt. Das war einer der Gründe, weshalb ich dachte, dass dein Angebot ziemlich seltsam ist. Eine äußerst radikale Änderung der Geschäftspolitik. Das brachte mich zum Nachdenken, und darum hatte ich ein kurzes Gespräch mit den Leuten vom MI 6, für die ich arbeite. Wirklich gute Leute. Sehr hilfsbereit. Einer der ersten Gefallen, die sie mir erwiesen haben, nachdem ich anfing, für sie zu arbeiten, war, dass sie Mr. Logan für mich durchleuchtet haben. Es war nicht einfach, etwas über ihn herauszufinden, aber sie sind für mich ins Archiv gegangen und haben alles ausgebuddelt, was sie auftreiben konnten. Und sie fanden das hier. Das Foto wurde aufgenommen, als er dem Special Boat Service beigetreten ist. Und du hast keine besonders große Ähnlichkeit mit ihm.“
De Laceys Jackenaufschlag klappte ein Stück auf und gab dabei den Blick auf seine Pistole im Holster frei. De Lacey bemerkte, dass Hicks’ Blick auf die Waffe fiel, lächelte und holte sie raus. Er hielt sie hoch, damit Hicks sie besser sehen konnte.
„Hübsch, nicht wahr?“ Es war eine Browning Hi-Power, doch statt mit dem üblichen Mattschwarz war diese mit Titangold überzogen. „Ich liebe Waffen. Sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Diese hier ist etwas Besonderes. Sie gehörte früher mal Gaddafi. Sie fanden sie nach seiner Gefangennahme. Ich vermute, Sie kennen die Bilder. Sie entdeckten sie, als sie ihn aus diesem dreckigen Abflussrohr herauszerrten, in dem er sich versteckt hatte. Die Pistole verschwand schnell im Untergrund, aber ich hatte jemanden an der Hand, der sie für mich aufgespürt hat. Sie hat eine Viertelmillion gekostet. Bertie hat sie für mich gekauft, während ich im Gefängnis saß. Das hier wird das erste Mal sein, dass ich sie benutzen kann.“
„Sie machen einen Fehler.“
„Ach ja? Das bezweifle ich.“
Er richtete sich auf und presste die Mündung der Pistole gegen Hicks’ Schädel.
„Deine letzte Chance. Wo steckt Milton.“
„Ich weiß es nicht.“
De Lacey verstärkte den Druck, bohrte die Waffe noch fester gegen Hicks’ Kopfhaut.
„Milton!“, rief de Lacey aus. „Ich zähle bis fünf. Bis dahin haben Sie sich gezeigt, oder ich erschieße diesen Kerl, wer zur Hölle auch immer er ist. Und wenn ich damit fertig bin, werde ich jeden finden, der Ihnen bei der Flucht geholfen hat, und ebenfalls umbringen. Und ich werde mit dieser Polizistin anfangen. Wie heißt sie noch? Hernández?“
Er machte eine kurze Pause, dann: „Eins.“
Hicks schloss die Augen.
„Zwei.“
Er begann, an sich selbst zu zweifeln. War das hier der richtige Ort?
„Drei.“
Hatte er einen Fehler gemacht? War er irgendwo falsch abgebogen?
„Vier.“
Wo war Milton?
Hicks hörte jemanden durchs Unterholz zwischen den Bäumen brechen. Er erkannte ihn nicht, es war ein Filipino, und er hatte eine Schrotflinte im Anschlag.
„Hände hoch!“, rief der Mann.
Einer der Männer, die noch beim Mercedes standen, fuhr herum und hob in einer fließenden, oft geübten Bewegung seine Waffe.
Hicks sah mit stillem Schrecken zu: Der Neuankömmling stolperte zwischen den Bäumen, sein Fuß hatte sich in einer Ranke verfangen. Als er verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfte, ließ er die Schrotflinte unvermutet sinken.
Die MP5 spuckte los und ruckte wild in den Händen des Mannes, als dieser den Abzug drückte.
Er stand zu dicht, um sein Ziel zu verfehlen. Die Kugeln trafen den Mann im Bauch. Er sank auf die Knie und kippte seitlich auf den Boden, die Schrotflinte fiel aus seinen schlaffen Händen.
„Nein!“
Josie stürmte aus dem Gebüsch auf der anderen Straßenseite, den verzweifelten Ruf noch auf den Lippen. Sie hielt ihre Glock gehoben und zielte.
Sie schoss.
Der Schütze hatte zur Seite gesehen, weg von Josie, und sie traf ihn. Hicks spürte, wie der Druck der Mündung auf seinem Schädel verschwand. De Lacey stand nicht mehr neben ihm und hatte angefangen zu rennen.
Der Mann mit dem kahlrasierten Schädel, der den Wohnwagen durchlöchert hatte, begann sich umzudrehen.
Jetzt.
Hicks nutzte die Chance. Er sprang auf die Füße und warf sich auf den Mann. Er schlang die Arme um ihn und rang ihn zu Boden. Die MP5 war zwischen ihren Körpern eingeklemmt, Hicks hielt sie mit der linken Hand fest und schlug mit der rechten zu. Er traf und ließ einen noch stärkeren Hieb mit seinem Ellenbogen folgen.
Milton sprang vor.
De Lacey rannte in hohem Tempo in seine Richtung. Milton brach aus seiner Deckung und streckte ihm einen Arm in den Weg. Der Waffenhändler war abgelenkt, darum sah er Milton viel zu spät. Miltons Unterarm traf ihn an der Luftröhre und beförderte ihn förmlich kopfüber in die Luft. Seine Beine flogen nach oben, er drehte sich um die Längsachse und krachte mit dem Bauch auf den Boden. Milton stürzte sich auf ihn, packte sein rechtes Handgelenk, drehte ihm den Arm auf den Rücken und zog diesen dann kräftig nach oben, wobei er darauf achtete, dass die Hi-Power nicht auf seinen Körper gerichtet war. Er verstärkte den Druck und drehte den Arm zur Seite, wodurch er de Lacey zwang, das Gesicht in die verrottenden Pflanzen am Boden zu pressen.
Hicks hatte sich auf den anderen Mann gerollt und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte.
Milton hob die goldglänzende Pistole auf und drückte sie gegen de Laceys Hinterkopf.
„Ende der Fahnenstange, Fitz.“
„Milton!“, rief Josie aus.
„Nicht“, sagte de Lacey „Es ist vorbei. Sie haben mich.“
Milton biss die Zähne zusammen. Er drückte die Mündung der Waffe noch fester nach unten und legte den Finger auf den Abzug. Er könnte dem allen hier ein Ende setzen. All das Geld und der Einfluss von de Lacey würden Milton später Probleme bereiten, wie schon zuvor, aber jetzt gerade nützten sie de Lacey nicht das Geringste.
Jetzt waren hier nur sie beide und die Browning.
Milton spürte alte, wohlbekannte Gefühle aufflammen; die Macht, in der er einst gebadet hatte, die Möglichkeit, ein Leben einfach so mit einem Fingerzucken auszulöschen, und dieses Mal mit der festen Überzeugung multipliziert, das Richtige zu tun.
„Milton! Ich werde schießen!“
Miltons Gefühl der Enthemmung würde irgendwann abklingen, und er wusste: Falls er es zuließ, würde de Lacey einen Weg finden, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Aber nur, wenn er es zuließ.
„John.“
Jetzt war es Hicks, der sprach.
„Sie meint es ernst. Du musst ihr jetzt vertrauen.“
Milton sah auf. Josie näherte sich ihm langsam von der Seite, ihre Waffe war auf den dritten Mann gerichtet. Milton sah, dass dieser bemerkt hatte, wie abgelenkt die Polizistin war. Je länger sie ihre Aufmerksamkeit zwischen ihm und dem anderen aufteilen musste, desto wahrscheinlicher wurde es, dass der andere versuchte, seine Chance zu nutzen. Im Augenblick hatten sie noch alle Vorteile auf ihrer Seite, aber das musste nicht so bleiben. Es war an der Zeit, aus dem Spiel auszusteigen.
Milton streckte die Hand aus und reichte Hicks die Waffe.
Er stand auf und wandte sich Josie zu. „Er gehört Ihnen.“
Daraufhin glaubte er, jemanden lachen zu hören, und drehte sich um. De Lacey hatte sich auf die Ellenbogen gestützt und sah ihn von unten her an. Sein Gesicht war ziemlich geschunden von dem Hieb, den Milton ihm verpasst hatte: Er grinste durch eine Maske aus Blut, Rotz und Speichel. Aber auf seinen Lippen lag eine nicht zu übersehene Gehässigkeit.
„Finden Sie das witzig?“, fragte Milton.
„Tun Sie, was man Ihnen sagt, John. Braver Junge. Sie hätten mich erschießen sollen. Sie werden keine zweite Chance bekommen.“
De Laceys Kopf schwebte auf Höhe von Miltons Schienbein – wie praktisch. Milton zog das Bein zurück und schlug ihm seinen Stiefel mit Kraft gegen das Kinn.
„Er gehört Ihnen“, wiederholte er an Josie gewandt und machte sich auf den Weg, den Kerl zu fesseln, den sie mit ihrer Pistole in Schach hielt.